Des Wanderers Kurzgeschichten

Es gibt 22 Antworten in diesem Thema, welches 6.395 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (8. November 2021 um 11:32) ist von Sensenbach.

  • Die Wahrheit

    Tränen verschleierten Za'endars Blick, als er den letzten Stein auf den Grabhügel legte, unter dem er seine Brüder zur letzten Ruhe gebettet hatte.

    Oder besser: Das, was er in den rauchenden Trümmern der Siedlung von ihnen noch hatte finden können. Er wischte sich den Schweiss von der Stirn und sein russverschmierter Arm hinterliess einen dunklen Streifen in seinem Gesicht, einer archaischen Kriegsbemalung gleich.

    Er holte tief Atem – einmal, zweimal. Dann klärte sich sein Blick, schweifte über die kleine Lichtung. Dort an den Rändern zum Wald hin schwelten die Überreste der Hütten, die ihm und den anderen Heimat gewesen waren, seit er denken konnte.

    Und in der Mitte, trotz der Rauchspuren im Licht der Abendsonne silbern glänzend die Stele, auf der die Schale seit ehedem geruht hatte.

    Und die jetzt fort war, gestohlen.

    Za'endar musste schlucken, ihm sass ein Kloss im Hals.

    Er kannte die Diebe und wusste um ihre Absichten, auch wenn es ihm verrückt erschien, daß sie glaubten sich einzig durch den Raub der Kraft und Macht des reinen Wassers der Schale zu vergewissern.

    Saassen'or, den sie von hier verbannt hatten, als er die Schale zu seinen Zwecken nutzen wollte, hatte das hier zu verantworten.

    Den Mord an den Brüdern des Ordens der Thaul, deren sterbliche Überreste er gerade begraben hatte, die Zerstörung dieses Ortes und den Raub der Schale.

    Saassen'or, der stets Diener des Eigennutzes gewesen war, den sie niemals in ihre Reihen hätten aufnehmen dürfen. Der immer wieder hierher zurückgekehrt war, ein Recht einzufordern, was ihm niemals zustand. Erst alleine, dann mit den ersten Anhängern seiner falschen Lehre. Und dann wurden es mit jedem Male mehr.

    Seine Worte schienen ihnen wie ein süsser Traum in die Hirne zu sickern, liessen sie, die anfänglich noch Respekt vor dem Orden hatten, fordernder werden.

    Es wäre ungerecht, wenn nur die Ordensbrüder den Segen des Wassers der Schale nutzen dürften, predigte Saassen'or. Jedem stünde darauf ein Recht zu...

    Und nun hatte Gewalt genommen, was lediglich gehütet worden war über all die Zeit.

    Diese Narren!

    Za'endar blickte hinab auf den Grabhügel, dessen Umrisse im schwindenden Licht der einbrechenden Nacht zu verschwimmen begannen.

    Seine Gedanken gingen hinaus, riefen sich die Gesichter seiner toten Ordensbrüder ins Gedächtnis zurück:

    Ordem, der sanftmütige Hüne mit den strahlenden grünen Augen. Sath'oon, dessen aufbrausender Charakter stets für Probleme gesorgt hatte. Alassin, der selten sprach. Und Aslador, der der älteste von ihnen gewesen war.

    Nicht ihr Abt, denn im Orden der Thaul gab es keinen, der den anderen gegenüber besondere Rechte gehabt hatte. Aber der Stimme des Alters wurde seit je hoher Wert zugemessen.

    Leise in der Ferne vernahm Za'endar den rythmischen Schlag der Trommeln, die Saassen'ors Triumph verkündeten. Oder das,was er dafür hielt.

    Za'endar richtete sich auf. Sog die letzten Sonnenstrahlen des vergehenden Tages in sich auf. Dann verneigte er sich vor der letzten Ruhestätte seiner Brüder, den er nur noch als Schemen wahrnehmen konnte, nestelte abwesend an der kleinen Phiole, die an einem ledernen Band um seinen Hals hing und machte sich auf den Weg...

    Strahlendes, goldenes Licht. In den Himmel aufstrebend, von einer flachen Schale ausgehend, die auf einem Baumstumpf ruhte.

    „So ist endlich geschehen, was uns schon lange zusteht, habe ich recht?“ rief Saassen'or, die Arme ausgebreitet.

    Rings um ihn herum brachen seine Anhänger in lauten Jubel aus, klatschten in die Hände und reckten die Fäuste in den von der Schale erleuchteten Himmel.

    „Seht ihr dieses Licht? - Wir haben es uns genommen, weil es seit je her uns gehört!!!“

    Saassen'ors Stimme überschlug sich fast, während ihm die Umstehenden noch frenetischer zujubelten.

    „Die Schale des reinen Wassers...“

    „Sie gehört Dir nicht!!!“

    Za'endar trat aus dem Schatten des Waldes auf die Lichtung, bahnte sich einen Weg durch die Anhänger Saassen'ors, die bei seinem Anblick verstummten und verhielt neben dem Baumstumpf, der Schale und dem, der den Orden der Thaul vernichtet hatte.

    „Sie gehört Dir nicht! Die Schale dient niemandem. Und niemand hat das Recht, sie zu seinen eigenen Zwecken zu missbrauchen“ schrie Ze'andor.

    Mit einem Ruck riss Ze'andor sich das Lederband vom Hals, hielt die Phiole hoch, in der ein strahlendes weisses Licht schimmerte.

    „Dies ist die Essenz. Hier ruht Wahrheit. Golden ist nur der Trug.“

    Saassen'ors Gesicht, verzerrt von Wut und Gier nach Macht war direkt vor ihm.

    „Dann gib sie mir!!! Der Orden derThaul ist ausgelöscht!!!“

    Saassen'ors Hände fuhren krallengleich auf die Phiole zu, fegten ins Leere, als Za'endar ihren Inhalt in die Schale goss.

    Der der Schale entströmende goldene Schein veränderte sich. Das Gold verblasste, veränderte sich. Strahlend weisses Licht entströmte nun dem Gefäss, erfüllte die Lichtung kurz mit solcher Helligkeit, daß manche Anhänger Saassen'ors aufschrien und die Hände vor das Gesicht schlugen. Dann zog sich der gleissende Schein in die Schale zurück, bis er nur noch die Gestalten Za'endars und Saassen'ors beleuchtete, die sich lauernd gegenüberstanden.

    Stille senkte sich über den Ort.

    „Und jetzt berühre das Wasser, wenn du glaubst, du hättest ein Anrecht auf die Schale!“ sagte Za'endar fordernd.

    „Die Schale kennt die Wahrheit.“

    Saassen'ors Hand verharrte zitternd über der Schale. Za'endar sah die kleinen Schweißperlen, die sich auf der Stirn seines Gegenübers bildeten.

    „Nun? Was zögerst du?!?“ rief er laut und ließ dabei den Blick über die Versammelten schweifen, die ihnen gebannt zusahen.

    Wie beiläufig ließ er seine Hand ins Wasser der Schale sinken. Helles, weisses Glitzern strömte empor in den dunklen Nachthimmel, irisierend für einen kurzen Moment, dann wieder zurückkehrend in seinen Ursprung.

    Ein Raunen erhob sich im dunklen Kreis der Lichtung.

    „Zauberspuk der Thaul, nichts weiter!!!“ schrie Saassen'or und fuhr herum, wandte sich seinen Anhängern zu. Seine Augen blitzten zornig.

    „Wäre es nicht unser Anrecht gewesen, zu nehmen, was sie uns so lange verweigerten, wie hätten wir es ihnen nehmen können?“

    Zustimmendes Murmeln ringsum.

    „Unsere Zeit ist jetzt – die ihre vergangen! Und dieser hier...“ Saassen'or zeigte auf Za'endar, der reglos dastand.

    „Dieser letzte wird jetzt wie ihr alle hier Zeuge werden, daß unsere Zeit gekommen ist!“

    Frenetischer Beifall von allen Seiten erscholl.

    Mit einer herrischen Handbewegung schnitt Saassen'or ihn ab, wandte sich zu Za'endor.

    Ihre Blicke trafen sich, bohrten sich ineinander, als Saassen'or die Hand in den Himmel reckte, sie dann langsam wieder senkte, dem Inhalt der Schale entgegen.

    „Du glaubst, ich hätte Furcht?“ murmelte er so leise, daß nur sein Gegenüber die Worte vernehmen konnte. Saassen'or schüttelte leicht den Kopf.

    „Ich nehme jetzt, was mein ist.“

    Damit tauchte er seine Finger ins Wasser.

    Za'endor schloß die Augen.

    Für einen langen Augenblick verharrten Zeit und Ort in Reglosigkeit.

    Dann zerriß ein Wimmern die atemlose Stille, schwoll an zu einem schmerzerfüllten Stöhnen und wurde zu einem markerschütternden Schrei des Grauens und der Agonie, als Saassen'or vergeblich versuchte, seine Hand aus der Schale zu reissen, aus der weisses Licht sich schlangengleich um seinen Arm zu winden begann, immer höher daran hinaufkroch, seinen Körper mehr und mehr und unaufhaltsam umschlingend.

    Entsetzt sahen die Umstehenden, wie Saassen'or in die Luft erhoben wurde, gehalten von einem einzigen weissen Lichtstrahl, wie sein Körper hin und her geworfen wurde in einem grotesken Tanz, während sich das ihn umgebende Licht in gleissendes Feuer verwandelte. Weisse Flammen verbrannten seine Haut, verbrannten ihn. Seine Augen traten aus den Höhlen und unfähig, daß Licht in seinem ganzem Glast zu ertragen, platzten sie letztlich. Und aus den leeren Augenhöhlen zuckten Blitze reinen Lichtes herunter auf die Menge unter ihm und wer von ihnen getroffen wurde verging.

    Za'endor wußte nicht, wie lange seine Ohren die Schreie Saassen'ors gehört hatten. Und er wagte es lange nicht, die Augen zu öffnen, auch nachdem alle anderen Schreie rings um ihn her verklungen waren.

    Als er es schließlich doch tat, lag die Lichtung im Dämmer, erhellt nur von einem leisen Schimmer, der der Schale entströmte. Völlige Stille umhüllte ihn.

    Niemand war mehr hier, nicht Saassen'or noch auch nur ein einziger seiner Gefolgsleute.

    'Die Schale kennt die Wahrheit,' dachte Za'endor. Behutsam hob er das Gefäß vom Baumstumpf und goß ihren Inhalt auf die vertrockneten Wurzeln.

    Und noch als er sich abwandte und die Lichtung verließ begannen die ersten Keime neuen Lebens aus den trockenen Wurzeln zu wachsen und verkündeten mit ihrem hellen Grün, daß der Orden der Thaul nicht vergangen war.

  • Hallo, Der Wanderer

    jetzt hast du mich verblüfft, denn die Geschichte hat ein ganz anderes Ende als die im Schreibwettbewerb! =O

    Erst dachte ich, du hast mit der Zeichenbegrenzung Probleme gehabt und musstest das Ende stark kürzen, was der Geschichte mMn nicht gut getan hat. Aber es sind ja nicht mal 9.000 Zeichen. Das kann also nicht das Problem gewesen sein.

    Welche der beiden Varianten ist die Urfassung? Wenn es diese hier nicht ist und du deinen Wettbewerbsbeitrag nachträglich abgewandelt hast, hat er meiner Meinung nach damit enorm gewonnen!! Ich finde dieses Ende hier um Längen besser. Ein gut geplante Rache, die den Stolz und das Gefühl der Überlegenheit von Saassen'or geschickt ausnutzt. Gefällt mir.

    Übrigens

    Bei dem, was passiert, nachdem Saassen'or die Hand in die Schale gelegt hat, musste ich irgendwie gleich an

    das hier

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    denken.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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