Hier würde ich gerne die ein oder andere Kurzgeschichte zusammen bauen und auf euch los lassen. Los geht es mit einem Projekt, dass etwas an ein Märchen erinnern könnte. Es besteht aus drei Teilen (Posts) und hat nichts mit meinen bisherigen Texten zu tun. Mehr will ich gar nicht sagen und freue mich über Kommentare aller Art!
Die Fähre über den Fatum (I/III)
Moe hatte befürchtet, dass so etwas passieren würde. Sein Magen verkrampfte sich, als er die Umrisse einer Person im Gebüsch einige Schritte vor ihm erkennen konnte. Rasch drehte er sich herum und stellte alarmiert fest, dass sich auch am Wegesrand hinter ihm eine Gestalt aus den Sträuchern erhob. Instinktiv klammerte er sich an dem Beutel fest, in dem all sein Hab und Gut verstaut war. Die Kleidung des Mannes hinter ihm hob sich deutlich von ihrer Umgebung ab. Wie hatte er ihn im Vorbeigehen nur übersehen können? Er war in Gedanken abgeschweift – hatte von dem neuen Leben geträumt, das ihm bevorstand. Ein Fehler, der ihn nun eben dieses Leben kosten konnte.
Unbeholfen sprang die zweite Gestalt vor ihm aus dem Gebüsch und strauchelte kurz, als sie dabei an einem Dornenzweig hängen blieb. Mit unsicheren Schritten kam sie auf ihn zu. Ein Tuch verschleierte ihr Gesicht. Als Moe Geräusche hinter sich hörte, drehte er sich instinktiv herum und konnte einen kleineren Mann ausmachen, der einen Sack mit zwei Löchern darin über seinen Kopf gestülpt hatte. Der Sack hatte einige Risse, aus denen ein paar rote Locken hervorragten.
Die Gestalten waren noch ein paar Dutzend Schritte von ihm entfernt. Mit klopfendem Herzen setzte Moe sich auf einen Stein am Wegesrand und zwang sich, ruhig zu bleiben. Nachdem er kurz durchgeatmet hatte, holte er einen halben Laib Brot aus seinem Beutel und begann so viel wie möglich davon in sich hinein zu stopfen. Leider konnte er das mit dem Rest seiner Habseligkeiten nicht so einfach tun. Der Mann hinter ihm hatte ihn inzwischen umrundet und schloss zu seinem offensichtlich männlichen Komplizen auf. Beide waren nun wenige Schritte vor ihm zum Stehen gekommen und musterten ihn zögernd. Ihre Kleidung sah nicht übermäßig verschlissen aus – sie konnten noch nicht lange hier draußen leben.
„Wir sind nicht an deinem Hungertod interessiert, Reisender“, begann der kleinere der beiden. „Deinen Proviant sollst du behalten, aber wir müssen dich darum bitten, uns deine Wertgegenstände zu überlassen.“
Die unerwartet freundliche Ansprache des Mannes beruhigte Moe etwas. Er glaubte einen Hauch von Scham in seiner Stimme erkannt zu haben. Zögernd legte er sein Brot beiseite. Zumindest würde er ohne knurrenden Magen sein Ziel erreichen. Doch der Verlust seiner Wertgegenstände könnte in seiner Situation auf Dauer ebenfalls den Hungertod bedeuten. Lies sich vielleicht mit den beiden reden?
Der Größere bemerkte sein Zögern. „Gib schon her den Beutel!“, sagte er schroff und bewegte sich auf ihn zu. Dabei streifte er mit dem Kopf einen Dornenzweig, an dem sich sein Tuch verfing. Zu spät bemerkte der Wegelagerer sein Missgeschick. Das Tuch riss in der Mitte, löste sich von seinem Kopf und gab sein Gesicht frei. Neben dem schwarzen Bartansatz des Mannes war eine große Narbe auf seiner Wange erkennbar.
Die drei Männer erstarrten gleichzeitig. Viel zu spät wandte der Große Moe den Rücken zu und griff hastig nach dem Tuch. Dabei riss das Textil in weiteres Mal. Hektisch löste der Mann mit der Narbe die Fetzen seines Tuches aus dem Gestrüpp und verhängte damit mehr schlecht als recht sein inzwischen bleiches Gesicht. Moe spürte, wie es in seinem gesamten Körper zu kribbeln begann. Er konnte sehen, wie die Augen des rothaarigen Mannes nervös hin und her zuckten. Alle drei wussten, was die veränderte Situation bedeutete und für alle drei war es ein Desaster.
Panik ergriff Moe. Wo war sein Messer? Hastig öffnete er seinen Beutel, doch der Große war in wenigen Schritten bei ihm, riss ihm das Gepäck aus der Hand und warf es seinem Komplizen zu. Schnell löste er sein eigenes Messer von seinem Gürtel und hielt es mit zittrigen Händen auf Moe gerichtet. „Mach bloß keine Dummheiten!“, sagte er schwer atmend. Unter den Fetzen seines Tuches konnte Moe den Schweiß von der Stirn des Mannes laufen sehen.
„Mach einfach was wir sagen, und dir passiert nichts!“ Der flehende Unterton in der Stimme des Rothaarigen war kaum zu überhören.
Moe hätte ihm nur allzu gern geglaubt. Die beiden machten nicht den Eindruck, als seien sie abgebrüht genug, um ihre Opfer einfach abzustechen. Aber konnten sie das Risiko eingehen, ihn laufen zu lassen? Angespannt beobachtete Moe, wie der Kleine sein Hab und Gut auf den Boden entleerte und eilig durchsuchte. Die Lederbörse verstaute er sofort. Den meisten anderen Gegenständen schenkte er dagegen wenig Beachtung. Der Große bewegte sich derweil nicht von der Stelle und schaute nervös zwischen ihm und seinem Komplizen hin und her.
Sollte Moe um sein Leben flehen? Vielleicht konnte er zumindest an das Gewissen des Kleinen appellieren? Aber was würde in der Stadt auf Raubüberfall stehen? Wahrscheinlich der Strick. Das würden die beiden nicht riskieren - egal wie gut er ihnen zuredete. Moe wurde langsam übel. Wie hatte er so dumm sein können, auf dieser Route allein zu reisen?
Wie Moe schon befürchtet hatte, war der Kleine inzwischen fündig geworden. Vorsichtig wickelte dieser die drei Statuen aus den Lumpen, in denen Moe sie für den Transport aufbewahrt hatte.
„Die sehen wertvoll aus!“, kommentierte der Große den Fund und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
Der Rothaarige musterte eines der Kunstwerke eine Weile und seufzte schließlich. „Wertvoll vielleicht“, antwortete er zögernd. „Aber Rommy wird uns dafür trotzdem kaum mehr als ein paar Pennys zahlen.“ Enttäuscht drehte er die Skulptur in seiner Hand hin und her. „Naja – besser als nichts!“
Moe konnte den Gedanken kaum ertragen, dass seine Skulpturen auf einem Schwarzmarkt enden sollten. Ohne sie und seine Münzen würde sein Neuanfang mindestens beschwerlich werden. Er würde sich einige Monate als Tagelöhner durchschlagen müssen. Aber all das war belanglos, wenn ihn die beiden nur am Leben ließen. Ihm kam eine letzte, verzweifelte Idee.
„In Kyrinthis bekommt man für jede der Skulpturen mindestens drei Taler“, mischte er sich in das Gespräch der beiden ein. „Natürlich nur, wenn man sich mit dieser Art von Kunst auskennt und weiß, an wen man sie verkaufen muss.“
„Und ich vermute du weißt das?“, antwortete der Große misstrauisch. Der Rothaarige schwieg, richtete aber seine Augen interessiert in Moes Richtung.
„In der Tat“, antwortete Moe. „Und ich wäre sogar bereit, euch zu helfen, die Skulpturen in der Stadt zu verkaufen. Allerdings müsstet ihr mir dazu schon meine Münzen und meine Ausrüstung für die Reise zurückgeben – zumindest, wenn ihr wollt, dass ich noch dieses Jahr in Kyrinthis ankomme.“
„Natürlich!“ Der Große stieß ein bitteres Lachen aus. „Deine Haut willst du retten! Aber dümmer könntest du es kaum anstellen. Vergiss es! Der Weg in die Stadt ist lang. Du könntest einfach mit deiner Ausrüstung auf nimmer Wiedersehen verschwinden. Dann sitzen wir in Kyrinthis mit deinen dämlichen Skulpturen fest, die vielleicht völlig wertlos sind. Und vor allem: was hindert dich daran, uns in der nächsten Siedlung zu verpfeifen?“
„Nun … ich erwarte natürlich einen fairen Anteil am Verkaufserlös – und den werde ich mir kaum entgehen lassen“, erwiderte Moe. „Warum sollte ich drei so schwere Kunstobjekte meilenweit bis nach Kyrthana schleppen, wenn sie wertlos sind? Und verpfeifen könnte ich nur einen Dieb. Aber von Diebstahl kann keine Rede sein, wenn sich drei Menschen unterhalten und der eine den beiden anderen zum Abschied ein paar Skulpturen schenkt.“
Erneut lachte der Narbige laut auf und setzte verärgert zu einer Antwort an, doch der Rothaarige brachte ihn mit einer kurzen Handbewegung zum Schweigen. Er musterte Moe einen Augenblick lang unsicher und sagte schließlich in interessiertem Tonfall: „Ich nehme an, du hast eine Lizenz in Kyrinthis?“
Moe hatte keine Ahnung, von was sein Gegenüber sprach, aber er war geistesgegenwärtig genug, um die Frage schnell genug zu bejahen und keinen Zweifel aufkommen zu lassen.
Der Kleine nahm es ihm offenkundig ab und lies ein Nicken erkennen. „Du erzählst also, dass du uns die Skulpturen schenken willst, aber in der Stadt könntest du wieder das Gegenteil behaupten und uns des Diebstahls bezichtigen.“
„Das könnte ich in der Tat“, stimmte Moe zu. „Aus diesem Grund werde ich euch eine Schenkungsurkunde ausstellen. Seid so nett und reicht mir meine Feder, das Tintenfass und ein Stück Papier aus meinem Beutel.“
Während der Große nur den Kopf schüttelte, dachte der Rothaarige eine Weile lang nach. Nachdem er offensichtlich realisiert hatte, dass er an dieser Stelle erstmal nichts verlieren konnte, kam er Moes Forderung nach und reichte ihm die Utensilien. Dieser machte sich sofort an die Arbeit und gab dem Kleinen schließlich ein beschriebenes Blatt Papier zurück. Zu seinem Erstaunen konnte dieser so gut lesen, dass er das Blatt in wenigen Augenblicken überflogen hatte. Welcher Arbeit war der Mann wohl zuvor nachgegangen?
„Ihr habt uns nur zwei der Skulpturen überschrieben“, sagte dieser schließlich in einem lauernden Tonfall.
„Ganz genau!“, antwortete Moe, als wäre das selbstverständlich. „Ihr werdet es mir nachsehen, dass ich euch meinen eigenen Anteil nicht überschrieben habe – nur damit später keine Missverständnisse entstehen.“
Der Große setzte zu einer heftigen Entgegnung an, schwieg dann aber doch.
„Ihr werdet alle drei Skulpturen mit nach Kyrinthis nehmen. Eure beiden und meine eigene als Pfand“, fuhr Moe schnell fort. „In der Stadt treffen wir uns wieder und schließen den Handel ab. Wir werden gemeinsam die drei Skulpturen dort verkaufen und am Ende bekommt jeder von uns dreien denselben Anteil vom Erlös.“
Der Große schnaubte nur verächtlich, während der Rothaarige unentschlossen wirkte. Moe arbeitete krampfhaft daran, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen und nach außen hin halbwegs entspannt zu wirken. Ohne sein Gesicht zu sehen, konnte er nur erahnen, was im Kopf des Mannes vorging. Er war sich sicher, dass dieser sich – genauso wie er selbst - einen Weg wünschte, bei dem Moe diesen Ort lebend verließ. Aber konnte der Wegelagerer darauf vertrauen, dass ihn die Schenkungsurkunde vor einer Verfolgung schützen würde? Sollte er auf den Handel eingehen und riskieren, dass Moe sich mit seiner Ausrüstung aus dem Staub machte? Dann hätten die Männer nur die Skulpturen, die sie schwer zu Geld machen konnten. Aber falls der Plan aufging, würden sie eine erheblich fettere Beute machen als die wenigen Münzen in seinem Beutel. Vielleicht wären sie dann gar nicht mehr auf diese Raubzüge angewiesen.
Schließlich sah der kleine Mann zu ihm herüber und blickte ihn einige Augenblicke lang aus seiner Vermummung heraus einfach an. Moe hatte das Gefühl, als wolle er in seine Seele hinein blicken. Und tatsächlich hatte es den Anschein, als hätte der Rothaarige mit seinem Blick etwas gefunden, das seine Anspannung verfliegen ließ. Zum Erstaunen der beiden anderen Männer zog er den Sack von seinem Kopf und entblößte sein mit Sommersprossen übersätes Gesicht.
„Wie heißt du?“, fragte der Mann ihn.
„Man nennt mich Moe“, antwortete der Angesprochene.
„In Ordnung, ich nehme dein Angebot an, Moe. Allerdings gebe ich dir neben deinem Reisegepäck nur die Hälfte deiner Münzen zurück. Das sollte reichen, um nach Kyrinthis zu kommen.“ Er nickte seinem Komplizen zu, der ihn zunächst verständnislos anblickte, dann aber widerstrebend den Reisebeutel wieder einpackte, während der Rothaarige die Hälfte der Münzen abzählte und diese mit in den Beutel warf. Moe atmete erleichtert auf.
„Am liebsten würde ich dich in die Stadt begleiten“, fuhr der Kleine fort, ohne seinen Blick von den Münzen abzuwenden. „Aber es ist … schlecht für’s Geschäft, wenn wir uns dort zusammen blicken lassen. Wir treffen uns in zehn Tagen in Kyrinthis. Aber sei dir in jedem Fall sicher – wir werden dich finden, egal wohin es dich verschlägt.“ Er reichte Moe seinen Beutel. „Hat mich gefreut mit dir zusammen zu arbeiten, Moe!“
Mit diesen Worten drehte sich der Rothaarige herum und ging davon. Unentschlossen blickte sein Komplize ihm hinterher, warf Moe einen letzten misstrauischen Blick zu und folgte schließlich, unverständliche Dinge murmelnd, dem Kleinen. Unter den Fetzen seines Tuches konnte Moe Erleichterung im Blick des Mannes erkennen.