Nelli beobachtete, wie sich alle anderen auf dem Steg verteilten und jeder begann die Zivilisation zu genießen. Ihr Blick ruhte etwas länger auf Andre und sie zog die Augenbrauen hoch. Es war sicher spannend heraus zu finden, wie lange die anderen auf seine – oder sollte sie besser sagen ihre – Maskerade herein fielen. Denn dass der junge Matrose sicher kein Mann war, hatte sie schon schnell genug erkannt. Auch das mit seinem komischen Kater etwas nicht stimmte. Oder ihr allgemein. Etwas in der alten Heilerin schauderte jedes Mal, wenn sie das Tier oder dessen Besitzerin anschaute.
Ihr Blick ging zu Trevor, der mit ihr zusammen das Boot bewachen wollte, bis die anderen wieder da waren. Wobei die Alte sich ernsthaft fragte, wer diese Nussschale wohl stehlen würde. Ihr war aber auch bewusst, dass es vermutlich da auch nie um das Schiff selbst ging, sondern ihre Ladung im Frachtraum. Sie selbst hatte sich nie sonderlich viel aus Geld gemacht, es hatte nur dafür reichen müssen, dass sie genug zu Essen und Zutaten für ihre Tränke hatte. Und genau da würde sie auch ansetzen. Und vielleicht war die Zeit doch mal reif für neue Kleidung. Im Grunde musste sie Edmund Recht geben, wenn er sich immer wieder über die Fetzen, die sie am Leib trug lustig machte. Im Grunde waren mittlerweile wirklich nur Stoffstreifen, die nur wie durch ein Wunder zusammen hielten. Ihr Blick glitt zu Trevor, der die Schäden am Segel begutachtete.
„Kann ich dich kurz allein lassen, Bursche?“ rief sie nach oben und schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne ab. Der Formwandler saß oben auf dem Mast und für einen Moment war Nelli sich nicht sicher, ob er sie gehört hatte, ehe er dann aber seinen Daumen nach oben streckte.
„Wenn du Hilfe brauchst, sagst du Bescheid“, verlangte er, was der alten Frau ein leises Schnauben entlockte. Für neue Kleidung würde sie seine Hilfe sicher nicht in Anspruch nehmen. Kurz wanderte sie unter Deck, nahm sich etwas von dem Geld, was in einer der Truhen gelagert war, und wanderte dann selbst über den Steg an Land. Es fühlte sich komisch an, plötzlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Der Sand auf dieser kleinen Insel hatte unter ihren Füßen nachgegeben, doch der gepflasterte Grund des Hafens, war unnachgiebig und hart. Die gefühlt hunderte von Stimmen, die ihr entgegen schallten, überforderten Nelli einen kurzen Augenblick lang, sodass sie versucht war, zurück aufs Schiff zu gehen, wo es eindeutig ruhiger war.
„Jetzt reiß dich zusammen, alte Fledermaus. Das ist nichts, was du nicht kennst!“ rief sie sich selbst zur Ordnung und lief durch die Gassen, auch der Suche nach einem Laden, der sie als Kundin auch bedienen würde.
Ein leises Klingeln ertönte, als sie ein Geschäft betrat. „Oh, habt ihr etwas vergessen, edle...“ begann der Ladenbesitzer, brach aber schlagartig ab, als er sie erblickte. Sofort konnte Nelli sehen, wie sich sein Blick und seine Haltung veränderte, erkannte die Abscheu und den Ekel in seinen Augen. Innerlich seufzte sie. Natürlich, warum sollte es je anders sein? „Ich brauche neue Kleidung“, erklärte sie dann ruhig und setzte ein zahnloses Lächeln auf. „Ganz offensichtlich“, erwiderte der Mann murmelnd und taxierte die alte Heilerin von oben bis unten. „Ich weiß nicht, ob ich etwas habe, was eurer...Preiskategorie entspricht.“ Missbilligend schnalzte Nelli mit der Zunge und legte den Kopf schief. „Oh, mach Dir darüber keine Sorgen. Ich werde Deine Preise schon bezahlen können“, antwortete sie herausfordernd und pfiff auf irgendwelche Höflichkeiten, die an diesen Schnösel völlig verschwendet waren. Vielleicht war Edmund deshalb so, weil er in so einem Umfeld groß geworden war. „Ich benötige etwas praktisches, am besten im Kombination mit einer Schürze. Es sollte für warme Temperaturen nicht zu dick sein, aber im Winter frieren will ich auch nicht. Eine Art Jacke oder Mantel wären für schlechtes Wetter auch nicht schlecht.“ Ihr Blick ruhte bei ihrer Aufzählung auf ihrem Gegenüber. „Meinst du, du hast etwas um meinen Ansprüchen gerecht zu werden?“ wollte sie herausfordernd wissen und langsam kam Bewegung in den Ladenbesitzer, der ihr zwei Kombinationen zeigte. Nelli musterte beide, ließ ihre knorrigen Finger über den Stoff wandern und entschied sich dann für ein dunkelblaues Ensemble aus einem Rock, einer Tunika und einer Weste. Gegen das schlechte Wetter fiel ihre Wahl auf einen Umhang aus Loden, der schwer, aber auch angenehm warm auf ihrer Haut lag. Widerwillig ließ der Händler zu, dass sie sich bei ihm umzog und ihre alte Kleidung im Müll landete. Richtig freundlich wurde er erst, als er Nellis Geldbeutel sah. Dachte ich mir doch, du kleine gierige Ratte! Dennoch konnte sie sich das Grinsen kaum verkneifen, als der Mann ihr dann auch noch die Tür öffnete und ihr einen schönen Tag wünschte. Den würde er sicherlich nicht haben. Denn auch wenn sich die Alte nichts hatte anmerken lassen, so würde sie dennoch dafür sorgen, dass er es bereuen würde, so mit ihr umgegangen zu sein. Der Haarausfall, der ihn die nächsten Tage ereilen würde in Kombination mit dem hässlichen Ausschlag würden sicher eine Auswirkung auf sein Geschäft haben.
Zufrieden mit ihrem Einkauf watschelte sie durch die Gassen, musterte die Auslagen in den Ständen und Geschäften. Schnell fand sie, was sie suchte und nach einigem Feilschen fanden etliche Kräuter, Tinkturen und auch die Zutaten für ihren Schnaps den Weg in ihren Beutel. Ihr Geldbeutel wurde immer leerer, doch das störte sie recht wenig. Es war noch genug unter Deck und einen Großteil davon würde sie ja auch zum Wohl ihrer Begleiter einsetzen. Und nach allem, was sie bisher mit ihnen erlebt hatte, konnte sie gar nicht genug Zutaten dabei haben. Alles in allem ein erfolgreicher Tag, bis sie einen bläulichen Schimmer am Rande ihres Gesichtsfeld wahr nahm. Erstaunt drehte sie sich um. Ein Geist? Hier? Jetzt?
Etwas abwesend folgte sie der Gestalt in eine etwas ruhigere Gasse. Als sie jedoch erkannte, wer das war, stolperte sie ein paar Schritte zurück. Wie war der Name des Matrose der Elefteria noch gleich gewesen? Sandro...Siegmar...Silvester – was für ein dämlicher Name, wer würde denn sein Kind so nennen? - Stiev! Das war es! „Was willst du denn von mir?“ Das Misstrauen in ihrer Stimme war unüberhörbar, ihre letzte Begegnung mit einem Geist war nicht so gut gelaufen. Das Gespräch mit Johnny wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen, egal wie oft Trevor behauptete, dass es in Ordnung war. Und gerade Stiev, der ihretwegen gestorben war, hatte sicherlich nicht viel Liebe für ihre Gruppe übrig. „Ich will euch nur warnen. Sie sind hier und auf der Suche danach, die verlorene Mannschaft zu ersetzen. Und ziemlich sauer, dass keine Schätze unter Deck waren“, berichtete der Matrose so schnell, dass Nelli Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen. Ob er wohl wusste, dass er keiner Gefahr mehr ausgesetzt war? Da er schon lebendig nicht mit besonders viel Grips geglänzt hatte, wagte die Heilerin das zu bezweifeln. „Wenn sie euch sehen, vor allem Armod, dann wird das kein gutes Ende nehmen“, beteuerte Stievs durchscheinende Gestalt weiter. Endlose Gefahren, natürlich. Warum sollte auch irgendetwas hier friedlich ablaufen? Genervt stöhnte die Alte auf und nickte Stiev dennoch dankbar zu. „Du hast deine Pflicht und deine Aufgabe erfüllt. Ich danke dir und du kannst jetzt in Frieden Ruhen“, sagte sie ruhig, doch der Matrose streckte seine Hand nach ihr aus. „Bitte...an Bord der Elefteria sind ist noch ein Ring unter der losen Diele im Lagerraum. Bitte bringt den meiner Verlobten, sie wartet auf mich.“ Nelli schluckte schwer und nickte dann. „Ich verspreche es dir“, erwiderte sie leise und mit einem Lächeln wurde die durchscheinende Gestalt immer blasser, bis sie ganz verschwand.