Es gibt 4 Antworten in diesem Thema, welches 582 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (26. Dezember 2023 um 19:44) ist von LittleOwlbear.

  • Klappentext

    Zwei jungen Alchemisten gelingt das Unmögliche und sie verwandeln Kupfer in Gold. Doch die Umwandlung ist nicht von Dauer und während der eine besessen davon ist, die Herstellung zu perfektionieren und bis zur Vollendung vor der Welt geheim zu halten, gibt sich der andere der Verschwendung und dem Exzess hin. Doch das falsche Gold lockt schon bald gefährliche Personen auf den Plan und es gibt Dinge, die sind unbezahlbar. Das eigene Leben, zum Beispiel.

    Vorwort: Diese Geschichte verfügt zwar über "Steampunk"-Elemente, jedoch spielt vor allem die fiktive (und dreckige) Welt mit ihren Orten, Völkern und Problemen eine Rolle. Die Weltkarte folgt demnächst, da ich sie aktuell noch etwas "aufhübsche". Und bevor jemand fragt, wieso ich mich für Kupfer entschieden habe und nicht für Blei, den alten Klassiker, kommt hier der epische Grund:

    Ich feier Kupfer einfach und seine Art, sich mit einer Oxidationsschicht vor Feuchtigkeit zu schützen.

    Mensch: *poliert fröhlich pfeifend ein Kupferschild unter freiem Himmel*

    Kuper, welches verzweifelt versucht zu oxidieren: Am I a joke to you?!

    Ich hoffe, die ein oder andere Person hat Spaß beim Lesen und ich freue mich von Herzen über eure Eindrücke und Verbesserungsvorschläge.

    Cheers, my dears!

    Octo :D


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    K A P I T E L

    1

    - Gold -


    In dem Moment, als alchemistische Geschichte geschrieben und das Kupfer zu Gold wurde, war Marcello DiMaggio mit anderen Dingen beschäftigt.

    Sein Füllfederhalter war ausgelaufen und hatte nicht nur seine Notizen, sondern auch sein letztes Hemd, in dem noch keine Brandlöcher zu sehen waren, mit Orelia’s Dauerwort versaut. Ein einziges Fläschen dieser tiefschwarzen Tinte kostete ein kleines Vermögen und der Name kam nicht von ungefähr; die Rezeptur war permanent. Egal ob Papier, Stein oder Stoff, das Zeug sog sich für die Ewigkeit fest.

    Marcello wollte gerade seinen Unmut über dieses Desaster kundtun, da packte ihn Aristides fest am Nacken und zog ihn lachend in eine Umarmung. Dem knochenbrechenden Körperkontakt folgten feste Küsse auf beide Wangen. Zähne kratzten über Haut. Aristides küsste, klammerte und lachte wie ein Wahnsinniger. Seine Hände waren wie die der meisten Alchemisten kräftig und rau und seine Finger krallten sich schmerzhaft in Marcellos sorgsam frisiertes Haar.

    »Bist du verrückt geworden?« Marcello stieß Aristides grob von sich. Dem hysterischen Lachen seines Kommilitonen zu urteilen war dies tatsächlich der Fall. Nicht, dass je einer von ihnen bei klarem Verstand gewesen war.

    Man musste schon mit einem Hauch Wahnsinn geboren worden sein, um sich der Gilde der Alchemisten anzuschließen. Das Leben als Auftragsmörder war vermutlich ruhiger als das eines Studenten der Materialien und Stoffe. Langeweile war eine echte Rarität, wenn man mit Dingen hantierte, die bei falscher Lagerung kompromisslos in die Luft flogen.

    Der Lachanfall von Aristides ebbte ab und er packte Marcello fest an beiden Schultern. Er schüttelte ihn leicht.

    »Gold.« Aristides grinste von einem Ohr zum anderen. »Gold, Marc. Wir haben verdammtes Gold erschaffen!«

    Marcello wurde wie eine Marionette einmal halb im Kreis gedreht. Sein ruiniertes Hemd war schlagartig vergessen, als er sah, was Aristides längst vor ihm gesehen hatte.

    In dem hitzebeständigen Glaskasten war keine Spur mehr von dem Stück Kupferrohr, welches Marcello vor wenigen Tagen hineingelegt hatte. Anstelle des Rohrs lag dort nun etwas Klumpiges. Etwas, das auf den ersten Blick Gold tatsächlich zum Verwechseln ähnlich sah. Auf den zweiten und dritten Blick ebenfalls.

    Marcello starrte eine der unzähligen Waagen an, die Aristides und er über die letzten Jahre verteilt dem Alchemietisch hinzugefügt hatten. Aus dem einst schmuck verzierten und feuerresistenten Tisch aus dem seltenen Holz einer Feuchtmoorbirke war ein mechanisches Monstrum aus Schrauben, Zahnrädern und Dampfpumpen geworden.

    Merkt euch eins, meine Damen und Herren, betonte der Professor für industrielle Mechanik in regelmäßigen Abständen. Ohne einen anständigen Alchemietisch seid ihr nichts weiter als ein Haufen Irrer. Dieser Tisch ist der einzige Grund, dass man von Alchemie spricht – und nicht von Gefährdung der Allgemeinheit. Kurzgesagt: Dieser Tisch steht zwischen euch und dem Gefängnis.

    Marcello war stolz auf den Tisch, den er zusammen mit Aristides gebaut hatte. Sie hatten viel Schweiß, Zeit und Nerven in die immer weiter wachsende Konstruktion gesteckt. Und der Tisch dankte es ihnen; mit einem Material, bei dem es sich um Gold zu handeln schien.

    Gold.

    »Das Testobjekt hat nachweislich Gewicht verloren.« Marcello hatte Mühe zu sprechen, während er jede einzelne der Waagen überprüfte. Seine Zunge schien plötzlich zu groß für seinen Mund und er bekam kaum Luft. Doch Aristides verstand ihn auch so und begann hektisch, mit einem Bleistift in das kleine Notizbuch zu schreiben, welches er immer bei sich trug. Himmel, Aristides ging damit sogar schlafen. »Der Zustand des noch nicht identifizierten Objekts scheint stabil-«

    Marcello hörte auf zu zitieren und versuchte hektisch den obersten Knopf seines Hemds zu öffnen. Luft. Er brauchte Luft. Wo war nur all der Sauerstoff hin? Jedoch zitterten seine Finger so stark, dass er schließlich mit Gewalt einfach riss. Zur Hölle nochmal, das Hemd war ohnehin hinüber. Der unglückselige Knopf landete irgendwo in einer Zimmerecke.

    Aristides lachte wieder, laut und glücklich. Im Gegensatz zu Marcello hatte er keinerlei Probleme mit dem Atmen.

    »Verstehst du, was das hier heißt?« Aristides breitete grinsend die Arme aus. In der einen Hand das kleine Notizbuch, in der anderen den angekauten Bleistift. »Wir gehen in die Geschichte ein, Marc. Du und ich. Scheiß auf Meister Krasic und all die anderen. Wir sind die Könige der Welt.«

    Marcello war zu geschockt, um die Euphorie seines Studienfreunds zu teilen. Obwohl er sich gerne einbildete, ein durchaus intelligenter und gefasster Mann zu sein, konnte er den kommenden Nervenzusammenbruch bereits schmecken.

    Der »Goldprozess« war nichts weiter als ein Scherz. Ein mieser und uralter Gag, der aus Niederlage und Frustration vor Jahrhunderten entstanden war. Es war ein amüsantes Spiel der Gilde und diente vor allem dazu, den Fokus der Studenten in den ersten, eher wilden Tagen auf eine abenteuerliche Aufgabe zu lenken – und weniger auf explosive oder ätzende Streiche. Es war Tradition, dass der Gildenmeister höchstpersönlich jedem Studenten ein Objekt aushändigte, mit dem Auftrag, es bis zum Semesterende in Gold zu verwandeln.

    Es war ein offenes Geheimnis, dass besonders die Erstsemester aufs Korn genommen wurden. Sie bekamen Schnürsenkel, Socken und sogar Unterhosen feierlich auf einem roten Samtkissen ausgehändigt, nur um dann mit hochrotem Kopf und dem donnernden »So lasse es zu Gold werden!«- Befehl des Gildenmeisters in die Reihen der Alchemiestudenten aufgenommen zu werden.

    Niemand bei klarem Verstand würde dieses Spiel mitspielen, doch in jedem wahren Alchemisten steckte das tiefe Bedürfnis danach, ein Ding zu nehmen, es zu zerlegen und anschließend etwas Neues daraus zu erschaffen. Etwas, das hoffentlich nicht BUMM! machte. Zudem lockte die Gilde damit, dass der Student, der zumindest nah an Gold herankam, sämtliche Studiengebühren erlassen bekam. Mehr Motivation brauchte ein Haufen lebensmüder und überschuldeter Studenten nicht. Dennoch war es nichts weiter als ein Spiel. Es war nicht vorgesehen, dass es tatsächlich funktionierte. Es wurde immer nur von dem Versuch gesprochen, Gold zu erschaffen und niemals von dem Erfolg.

    Marcello war ratlos. Was tat man, wenn man quasi per Zufall etwas erschaffen hatte, das mit jeder Sekunde immer mehr nach Gold aussah? Egal, wie witzig der Gildenmeister den kleinen Scherz zu Semesterbeginn auch hielt, Marcello bezweifelte, dass irgendwer wirklich mit einem noch so kleinen Erfolg rechnete.

    Was würde wohl passieren, wenn sie hier und jetzt mit dem Ding in dem Glaskasten zu Meister Krasic in sein Arbeitszimmer marschierten?

    Marcello wusste es nicht und genau das machte ihm Angst. Meister Krasic war ein Mann, der schwer zu fassen war. Er lachte viel und scherzte gern, jedoch war da etwas an ihm, dass Marcello nicht gefiel. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass der Gildenmeister nicht nur der humorvolle Lehrmeister war, als den er sich gerne verkaufte. Da war etwas gieriges an ihm. Natürlich, hier in Zytrapolis waren alle irgendwie gierig, aber etwas in Marcello sträubte sich dagegen, den goldähnliche Klumpen dem Gildenmeister auszuhändigen.

    Vermutlich liegt es an seinem Bart, dachte Marcello, während er nur halb mitbekam, wie Aristides erneut lachte und an ihm herumzerrte. Männer mit frisierten Bärten kann man nicht trauen.

    Erst als Aristides laut »GOLD! GOLD! GOLD!« in sein Ohr brüllte, erlangte Marcello seine Fassung wieder. Zumindest genug, um Aristides von sich zu drücken.

    »Sei leise, verdammt. Wir wissen doch noch gar nicht, ob es wirklich Gold ist. Wir müssen erst eine Reihe von Versuchen durchführen und-«

    Doch Aristides hörte ihm gar nicht weiter zu.

    »Scheiße, Marc! Weißt du, was so ein Klumpen wert ist? Davon leben wir eine ganze Weile wie die Könige.«

    Marcello starrte den goldartigen Klumpen an, dann sah er zu dem einzigen Fenster des stickigen Zimmers, welches unpraktisch geschnitten direkt unter dem Dach des schäbigen Mietshauses lag. Das ganze Gebäude erinnerte an ein windschiefes Geschwür, welches immer weiter wucherte. Jedes Jahr kamen neue Zimmer, Türme und Mieter dazu.

    Zytrapolis war eine so riesige Stadt, dass sie als unabhängiger Stadtstaat den Puls der Welt zu steuern schien. Als vertraglich neutraler Boden war Zytrapolis eine uneinnehmbare Handelsmacht. Nicht, weil man sich vorbildlich an den Neutralvertrag hielt, sondern weil sich niemand mit einer Stadt anlegen wollte, die ein einziges Pulverfass war.

    Es war ein offenes Geheimnis, dass unter der Handelsstadt unzählige Blaufeuerbomben, Rauchbomben und alle möglichen alchemischen und magischen Waffen lagerten. Offiziell wurden sie dort nur gelagert, freiverfügbar für den weltweiten Handelsmarkt. Inoffiziell waren sie die ultimative Absicherung.

    Man warf nicht mit Steinen auf ein Hornissennest, wenn man gegen die Stiche allergisch war. Eine einzige Bombe würde vermutlich ausreichen, um Zytrapolis den Erdboden gleichzumachen – und den gesamten Kontinent in Asche zu verwandeln. Vielleicht waren die Menschen in dieser Stadt deswegen so süchtig nach Unterhaltung und Spaß. Sie tanzten auf Tonnen von magischem Sprengstoff.

    Ein knallrotes Luftschiff glitt in einiger Entfernung am Fenster vorbei und zog ein Werbebanner für selbstaufziehende Taschenuhren von Turic&Sohn hinter sich her.

    »Wir zerteilen das Gold«, kam es plötzlich aus Marcellos Mund. Er konnte sich nicht daran erinnern, diese Worte zuvor gedacht zu haben. »Sechs kleine Stücke. Fünf Stücke für eine Reihe an Tests und ein Stück für einen praktischen Versuch.«

    Aristides grinste dreckig. Ihm gefiel, was er hörte.

    »Praktischer Versuch, huh?«

    »Ja.« Marcello starrte auf sein ruiniertes Hemd hinab. »Gold ist erst Gold, wenn die Leute daran glauben. Der Glaube macht den Wert aus. Es bringt nur etwas, wenn es von einem Händler akzeptiert wird. Besser noch von einer Bank.«

    »Bravo!« Aristides applaudierte albern. »Welch eine sozialkritische Umschreibung für ’Lass mal testen, ob wir mit diesem Prachtstück hier schneller zu Geld kommen, als ein Sicia-Bordell morgens um vier vor einem Feiertag’

    Ein Muskel zuckte in Marcellos Gesicht.

    »Wieso muss es ausgerechnet ein Sicia-Bordell sein?«

    »Weil ihr Sicianer verflucht schöne Leute seid, deswegen. Scheiße, schau dir mal die restlichen Visagen in dieser Stadt an. Natürlich geht man als Mann mit Klasse in ein Sicia-Bordell.«

    »Du hast keine Klasse, Aristides.«

    »In der Tat.« Besagter klassenloser Mann grinste. »Aber wer braucht schon Klasse, wenn er Gold hat? Also, welche Bank schwebt dir vor?«

    ...


    Aristides Kostras war der einzige Sohn und Erbe des ältesten Händlerimperiums in Zytrapolis. Die Kostras-Sippe war eine sehr alte und ehemals auch sehr reiche Familie. Mit dem Import von Edelsteinen reich geworden, hatten sich die Kostras vor einem Jahrzent einen so spektakulären Ruin geleistet, dass man zehn Blätter Papier seitlich aneinanderkleben musste, um die Gesamtsumme ihrer Schulden ausschreiben zu können.

    Wer glaubte, von Geburt an arm zu sein wäre schlimm, war noch nie reich gewesen - und hatte dann alles verloren. Es war eine Sache, sich nach Dingen zu sehnen und eine ganz andere, genau zu wissen, wie diese Dinge rochen und schmeckten.

    Aristides erinnerte sich an jeden einzelnen Geruch, an jeden einzelnen Geschmack und er war entschlossen, sich all diese wunderbaren Dinge wieder zu holen. Und wie es in Zytrapolis nun einmal zum guten Ton gehörte, wenn man illegal zu einem kleinen Reichtum gekommen war, spazierte er damit völlig selbstverständlich in eine Bank hinein.

    Es gab unzählige Banken in Zytrapolis, jedoch hatte ihn Marcello angewiesen, einer ganz bestimmten einen Besuch abzustatten. Die ausgewählte Bank war im Vergleich zu den anderen Protztempeln recht klein, hatte jedoch hohen Publikumsverkehr und lag nur wenige Straßen und schmale Gassen vom belebten Anhalter-Hafen entfernt. Sie war die erste Anlaufstelle für Touristen und Neuankömmlinge aus aller Welt, die ihr Geld in die hier akzeptierten Währungen umtauschen mussten.

    Per Zufall war es auch genau die Bank, in der Marcello, damals frisch von einem Boot aus Sicia, mächtig übers Ohr gehauen worden war. Da konnte der Kerl noch so viel von »Versuchswerten« und »geringes Risiko« schwafeln, Aristides erkannte den Gestank von Rache. Vermutlich hätte es für diesen Versuch auch jede andere Bank getan, aber die Stadt hatte mit ihrer Gehässigkeit längst auf den einst so braven Marcello abgefärbt.

    Piss deinem Nachbarn heute an die Tür und er ertränkt dich dafür in drei Jahren auf den Tag genau in einem Pissebecken, war eine der wohl wertvollsten zytrapolischen Weisheiten. Vergessen wurde vieles, verziehen jedoch nicht.

    In der Bank herrschte Hochbetrieb. Müde wirkende Touristen aus aller Welt und Flüchtlinge aus Svanske und Warsblag warteten in langen Schlangen vor den Schaltern. Die einen waren hier, um sich zu amüsieren und in riesigen Reisegruppen staunend Fotografien von den majestätischen Gildenhäusern zu machen. Die anderen waren da, um ihr letztes Geld aus der zerbombten Heimat gegen lächerlich wenige Zytra einzutauschen.

    Svanske und Warsblag waren zwei kalte und hügelige Binnenländer, deren einziges Verbrechen darin lag, dass sie die in ihr Land einfallenden Truppen der Burwanier nicht mit Tee und Kuchen empfangen hatten. Sie besaßen viel Land, aber keine Rohstoffe oder Güter, die es wert waren, ihnen gegen das mächtige Burwanien beizustehen. Daher tat der Rest der Welt so, als wären die burwanischen Bomben nichts weiter als buntes Feuerwerk.

    Aristides wusste, dass die Flüchtlinge der Grund waren, wieso Marcello ihn alleine mit dem Gold losgeschickt hatte. Natürlich, er war heute mit den Botengängen für die Gilde dran, aber sein Dienst würde nicht vor Abend beginnen. Marcello hätte somit mehr als genug Zeit, jedoch war sein Problem auch nicht die Zeit, sondern seine Herkunft.

    Sicia war ein Land im Süden, direkt am Meer und bekannt für guten Wein, heiße Sommer und die schnellsten Schiffe der Welt. Doch es waren nicht ihre Schiffe, die die Flüchtlinge aus Svanske und Warsblag brachten, sondern klapprige Kutter von Hilfsorganisationen, die von Suffragetten finanziert wurden. Sicia hatte kurz nach Kriegsbeginn seine kompletten Grenzen dicht gemacht und versperrte somit Millionen den Weg zum Meer.

    Da auch der Luftschiffverkehr über Svanske und Warsblag komplett zum Erliegen gekommen war, war der Weg über das Wasser die einzige Rettung. Doch Sicia war nicht einfach nur ein sich in die Länge ziehendes Land am Meer, das man als Flüchtling durchreisen musste; es war die verdammte Küste. Keine Einreise nach Sicia bedeutete kein Zugang zum südlichen Meer.

    Es war also nicht überraschend, dass die Flüchtlinge, die es doch irgendwie über Umwege bis nach Zytrapolis in die neutrale Zone geschafft hatten, in der Regel dem erstbesten Kerl auf die Fresse hauten, der wie ein Sicianer aussah.

    Olivfarbene Haut und schwarzes Haar reichten momentan aus, um vor allem in Hafennähe und den Ghettos abgestochen zu werden. Der arme Marcello hatte quasi Sicianer in Großbuchstaben auf der Stirn stehen.

    Aristides verstand somit seine Vorsicht, dennoch hätte er ihn gerne bei sich gehabt. Immerhin war das hier ihr gemeinsamer Erfolg. Selbst wenn das Gold den Test nicht bestehen sollte, war das hier ein unglaublicher Durchbruch.

    Die mechanischen Anzeigen über den Bankschaltern klickten und klackten, während sie in schneller Reihenfolge die aktuellen Aktienkurse auflisteten. Die Werte wechselten so schnell, dass man kaum Zeit hatte, sich die Information anzuschauen, geschweige denn zu verstehen oder sich zu merken. Doch Aristides kannte sich mit Aktien aus – und hatte ein verflucht gutes Gedächtnis.

    Der Svas war so gut wie nichts mehr wert und der Gul, die Währung von Warsblag, befand sich ebenfalls im Sturzflug. Die heimische Währung, Zytra und Libre, waren dafür erneut ordentlich gestiegen. Im Gegensatz zu den meisten armen Schweinen, die vor Erschöpfung im Stehen fast einschliefen, war Aristides klar, was die Zahlen bedeuteten. Jeder Flüchtling, der sein Erspartes in Svas und Gul in der Tasche bei sich hatte, würde nach dem Umtausch so gut wie nichts mehr haben.

    Eine Gestalt blockierte Aristides Blick zu den Schaltern. Es war ein mechanischer Homunculus, der wie die Kursanzeigen surrend klickte und klackte. Die knapp zwei Meter große Schöpfung starrte Aristides mit leeren Augenhöhlen an.

    »Beachten Sie die markierten Gänge, Besucher«, erklang es monoton aus der Brust des Homunculus. »Sie befinden sich außerhalb der Wegführung, Besucher. Beachten Sie die markierten Gänge, Besucher. Sie befinden sich außerhalb-«

    »Ja, ja. Schon gut, du magisches Spielzeug. Beruhige dich. Ich steh ja schon auf der Markierung. Siehst du?« Aristides trat demonstrativ auf die roten Mosaikplatten, die den Bereich markierten, wo sich Besucher anzustellen hatten.

    »Sie befinden sich nun innerhalb der Wegführung, Besucher. Die aktuelle Wartezeit beträgt voraussichtlich - sehr lange«, verkündete die emotionslose Stimme des Homunculus. Dann wurde seine Aufmerksamkeit auf eine junge Frau gelenkt, die mit ihrem linken Stiefel den Wartebereich überschritten hatte. »Sie befinden sich außerhalb der Wegführung, Besucher. Beachten Sie die markierten Gänge, Besucher. Sie befinden sich-«

    Und da Zytrapolis nun einmal Zytrapolis war, brüllte irgendwer recht leidenschaftlich:

    »Halt die verdammte Fresse, Blechkasten!«

    Was wiederum einer anderen Person nicht sonderlich gefiel.

    »Halt du lieber deine Scheißfresse, Sackgesicht! Der Homunculus hier macht nur seinen Job!«

    »Hast du ein Problem, Freundchen?«

    »Ja, habe ich! Du bist mein Scheißproblem!«

    Gerangel brach in den Reihen der Wartenden aus. Auffällig gekleidete Touristen, die wohl zum ersten Mal in Zytrapolis waren, machten ernsthaft Anstalten die sich prügelnden Männer zu trennen, wurden jedoch von anderen Bankbesuchern zurückgehalten.

    »Die bringen sich noch um!«, klagte eine Frau in einem geschmacklos bunten Hosenanzug. Ihrem Akzent und den schrecklichen Kleidern nach zu urteilen kam sie aus dem Norden. »Wieso tut denn niemand etwas?«

    »Wieso sollte man?«, fragte ein bärtiger Mann mit Zylinder und dem Abzeichen der Luftschiffgilde. »Hab gerade auf den Kleinen gesetzt. Fünf Zytra. Wäre ja schön blöd, wenn jetzt irgendwer dazwischen gehen würde.«

    Man ließ die Männer gewähren, denn so lange sie sich innerhalb der Markierung prügelten, war es dem als Wärter angestellten Homunculus allerlei. Diese halb mechanischen, halb magischen Kreationen waren nun wirklich nicht die hellsten Kerzen im Kronleuchter. Zum Bedauern des Luftschiffkapitän wischte der größere Mann mit dem Kleineren den Boden. Erst als die Schlägerei blutig wurde und eine der menschlichen Bankangestellten am Schalter einen Alarm auslöste, wurden die sich prügelnden Männer unter lautem Protest der Zuschauer von massiv gebauten Kupfergolems weggeschleift.

    Golems. Noch so eine Spielerei der verfluchten Magier, die ohne die Alchemisten nicht existieren würde. Aber wer kassierte den Lohn und den Applaus? Natürlich diese arroganten Idioten mit Gehstock und Zylinder, die ständig von der Zeitung hochgelobt wurden. Wenn es mal einen Artikel über die Alchemisten gab, dann nur, weil etwas in die Luft geflogen war.

    Aristides Blick folgte den sich überraschend geschmeidig bewegenden Kupfergolems und er ärgerte sich kurz, nicht auf den größeren Mann gesetzt zu haben. Aber was waren schon fünf lausige Zytra, wenn man in seiner linken Manteltasche ein verdammtes Goldstück hatte?

    Sollten die Magier ruhig noch ein wenig die Aufmerksamkeit der Presse und ihren zum Erbrechen glamourösen Ruf genießen. Marcello und er würden nämlich schon bald sämtliche Zeitungen der Stadt aufkaufen. Ach was, sie hätten bald genug Gold, um daraus einen gigantischen Mittelfinger zu gießen und diesen als Statue direkt vor das Gildengebäude der Magier zu stellen.

    Aristides grinste breit, als seine Finger das kleine Wunder in seiner Tasche umschlossen.


  • Soweit gefällt mir das sehr gut, freut mich, mal wieder etwas Steampunk zu lesen. ^^

    Ich finde das einen starken Auftakt für die Geschichte. Zwei Freunde machen die Entdeckung ihres Lebens und werden somit gleich vor wichtige Fragen und Entscheidungen gestellt. Wie haben sie das geschafft? Wem können sie vertrauen? Das mach gleich Bock auf mehr!

    Auch die Informationsvermittlung finde ich mehrheitlich gelungen. Wir erfahren erst einmal die wichtigsten paar Informationen über unsere beiden Figuren und wie sie ticken. Ebenso kriegen wir kurz die politische Lage von Zytrapolis dargelegt - ein Hafen der Sicherheit in einer kriegsgebeutelten Welt.

    Die einzige Stelle, die ich bemängeln würde, ist die hier:

    Marcello starrte den goldartigen Klumpen an, dann sah er zu dem einzigen Fenster des stickigen Zimmers, welches unpraktisch geschnitten direkt unter dem Dach des schäbigen Mietshauses lag. Das ganze Gebäude erinnerte an ein windschiefes Geschwür, welches immer weiter wucherte. Jedes Jahr kamen neue Zimmer, Türme und Mieter dazu.


    Zytrapolis war eine so riesige Stadt, dass sie als unabhängiger Stadtstaat den Puls der Welt zu steuern schien. Als vertraglich neutraler Boden war Zytrapolis eine uneinnehmbare Handelsmacht. Nicht, weil man sich vorbildlich an den Neutralvertrag hielt, sondern weil sich niemand mit einer Stadt anlegen wollte, die ein einziges Pulverfass war.


    Es war ein offenes Geheimnis, dass unter der Handelsstadt unzählige Blaufeuerbomben, Rauchbomben und alle möglichen alchemischen und magischen Waffen lagerten. Offiziell wurden sie dort nur gelagert, freiverfügbar für den weltweiten Handelsmarkt. Inoffiziell waren sie die ultimative Absicherung.


    Man warf nicht mit Steinen auf ein Hornissennest, wenn man gegen die Stiche allergisch war. Eine einzige Bombe würde vermutlich ausreichen, um Zytrapolis den Erdboden gleichzumachen – und den gesamten Kontinent in Asche zu verwandeln. Vielleicht waren die Menschen in dieser Stadt deswegen so süchtig nach Unterhaltung und Spaß. Sie tanzten auf Tonnen von magischem Sprengstoff.


    Ein knallrotes Luftschiff glitt in einiger Entfernung am Fenster vorbei und zog ein Werbebanner für selbstaufziehende Taschenuhren von Turic&Sohn hinter sich her.

    Der Einschub wirkt mir etwas zu willkürlich. Brauchen wir bereits zu wissen, was unter Zytrapolis lagert?

    Hier fände ich besser, wenn z.B. Barcello das Fenster öffnet, um sich Luft zu verschaffen und dann erst einmal eine kleine visuelle Beschreibung des Gebäudes und der Stadt folgt, evt. mit der Bemerkung, dass die Leute draussen verdammt ruhig scheinen, dafür, dass sie auf einem Pulverfass sitzen.

    Somit hätte Marcello einen Grund, überhaupt nach draussen zu schauen, wir würden erfahren, dass es sich um ein viktorianisches Setting handelt, hätten einen Bezugspunkt, um später Sicia (Mediterran), Svanske und Warsblag (Nordisch / Baltisch) zu positionieren und würden erfahren, dass diese Stadt etwas zu verbergen scheint.

    Auch später in der Bank folgt eine deftige Menge an Informationen, die man vielleicht auch geschickter unterbringen könnte. Da sie aber durch Aristides Beobachtung und durch sein Interesse am finanziellen Hintergrund des Konflikts irgendwie sinnvoll hervorgerufen wird, finde ich sie an der Stelle aber nicht schlimm.

    Ach, eine Sache noch:

    Eine Gestalt blockierte Aristides Blick zu den Schaltern. Es war ein mechanischer Homunculus, der wie die Kursanzeigen surrend klickte und klackte. Die knapp zwei Meter große Schöpfung starrte Aristides mit leeren Augenhöhlen an.

    Ich hoffe, da folgt später noch eine genauere Beschreibung, denn aktuell habe ich noch Mühe, mir den Homunculus vorstellen zu können.

  • Ach was, sie hätten bald genug Gold, um daraus einen gigantischen Mittelfinger zu gießen und diesen als Statue direkt vor das Gildengebäude der Magier zu stellen.

    :rofl: Die Idee könnte von mir sein

    Man ließ die Männer gewähren, denn so lange sie sich innerhalb der Markierung prügelten, war es dem als Wärter angestellten Homunculus allerlei

    Du meinst wahrscheinlich einerlei :)

    Ich kenne mich mit Steampunk leider so gar nicht aus, bisher gefällt mit das Setting aber recht gut ^^

    Die Stadt, in der die Beiden leben, scheint ja recht ... hemdsärmelig zu sein XD Mag ich auch. Bisher wirkt es auch nicht übertrieben auf mich.

    Dein Klappentext ist auf jeden Fall interessant! Bin gespannt, wie die beiden Freunde sich entwickeln und ob sie am Ende noch Freunde sind ...

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald

  • Hallo Octopoda ! Ich habe auch mal in deine Geschichte reingelesen. :alien: Das Setting und die Idee gefallen mir sehr gut! Ich selbst habe mir vor vielen Jahren auch eine ähnliche Idee grob zurechtgesponnen, sie aber vorerst auf den "irgendwann-mal"-Stapel gelegt. Es erinnert mich etwas an die Filme "The Time Machine" oder "Prestige" :thumbup:

    Allerdings habe ich die Befürchtung, dass du in deinem ersten Part bereits zu viel angehandelt hast. Ich weiß jetzt nicht, wie viel du von der Geschichte schon geschrieben hast oder wie lang sie am Ende wirklich wird, aber ich glaube, ich hätte die einzelnen Szenen mehr ausgebaut oder erst später einbunden. Jufington hat es bereits angemerkt. Ich finde, die Hintergrundgeschichte zu Zytrapolis kommt mir dort bereits zu früh.

    Die Sache mit der Bank hätte ich so früh noch nicht erwartet. Dass Marcello die "Echtheit" des vermeintlichen Goldes auch einem Praxistest unterzieht verstehe ich schon, aber, dass sie es gleich als ersten Test in Betracht ziehen, weniger. Ich finde es etwas riskant, in Anbetracht dessen, dass dort Homunkuli und Golems als Wächter parat stehen. In meinen Augen müssen sie schon sehr davon überzeugt sein, dass es sich um echtes Gold oder einen zum Verwechseln ähnlichen Stoff handelt, um diese Aktion durchzuziehen. Ich hätte vielleicht zuerst ein paar Experimente durchgeführt oder zumindest die Dichte bestimmt, ob sie der von Gold ähnlich kommt.

    Als Laie würde ich das nur schwer bestimmen können, ob es echtes Gold wäre. Und die Bankangestellten werden garantiert Messgeräte haben, um die Echtheit zu überprüfen.

    Also in meinen Augen gibt es ja nun nur zwei Möglichkeiten, wie das ausgeht. Entweder es ist Gold (oder Gold zum Verwechseln ähnlich) und sie können es an der Bank anlegen oder die Bank verweigert es und die beiden Protas kriegen vermutlich jede Menge Ärger.

    Mir geht es darum, dass ich vielleicht schon zu viel (oder im nächsten Part dann) Wissen vermittelt bekomme und die Charaktere vielleicht stellenweise zu vorhersehbar sind.

    Ich weiß ja jetzt bereits, dass Marcello eher der Skeptische und Zögerliche ist und Aristides eher ein Draufgänger.

  • Octopoda

    Oh Steampunk, ich liebe Steampunk! Schon von der Ästhetik her, aber auch von den verschiedensten Themen, die sich dadurch eröffnen.

    Ich finde du hast diese typische Steampunk-Atmosphäre sehr gut eingefangen und Themen, die man darin findet, kreativ umgesetzt und speziell die Homunculus haben bisher mein Interesse geweckt.

    Die Prämisse finde ich sehr interessant Gold, oder falsches Gold, zu erschaffen und die Hauptcharaktere müssen sich schon sehr bald mit allen lästigen Fragen rumschlagen, nachdem die erste Freude über das Gold ein wenig gewichen ist.

    Wie Zarkaras Jade finde ich es allerdings auch etwas voreilig dem Gold nicht erstmal Dichtetests und anderen zu unterziehen. Wenn Leute Zweifel haben, wiegen sie es erstmal. Insbesondere wenn es sich um Bankangestellte handelt. Allerdings hat deren Freude wohl jegliche Hemmung fallen lassen und dann geht es erstmal in ein Bordell. xD