Ich möchte gerne den Prolog und vielleicht ein paar Kapitel mehr von meinem aktuellen Projekt „Die Vampire von Rankental“ vorstellen. Es ist ein Dark-Fantasy Drama. Ich liebe dieses Manuskript sehr, deswegen möchte ich euch herzlich einladen es kritisch in Fetzen zu reißen, damit ich es danach wieder zu der best-möglichen Version davon zusammenflicken kann. Der Cover-Entwurf ist auch dabei.
Den Buchklappentext stelle ich mir etwa so vor:
„Sommer des Jahres 1901. Der Siebzehnjährige Lafayett trifft in der kleinen französischen Stadt Rankental auf seine große Liebe und beginnt eine verbotene Affäre, während in den nächtlichen Straßen zwei mächtige Vampir-Clans um die Vorherrschaft kämpfen. Wessen Blut wird fließen und wer kann sich vor den Monstern retten?"
Warnhinweise: Der Roman ist an manchen Stellen sehr gewalttätig. Der Prolog ist dabei ein guter Indikator für den Rest. Es kommt in späteren Kapiteln Selbstmord vor.
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Die Vampire von Rankental
Prolog
„Mein Beileid für deinen Verlust“, flüsterte die Kreatur zu ihrem Komplizen. Die beiden Männer erschienen von Nahem und von Weitem wie Menschen, aber unter ihrer Haut waren sie beide Raubtiere. So greifbar wie ein halb vergessener Alptraum schlichen sie durch den verlassenen Park, mit Augen so lichtscheu, dass sie sich selbst gegen das Leuchten der Sterne verengten. Dunkle Wasser glucksten über das Ufer eines künstlichen Sees und winterkahle Kastanien säumten den Pfad. Auf der Kuppe eines flachen Hügels hatten die Arbeiten für einen neuen Pavillon begonnen, aber zu so später Stunde war die Baustelle still. Auch Bänke, Krocket-Felder und Picknickplätze lagen verlassen da. Die Abwesenheit der Menschen, die sich hier bei schönem Wetter einfanden, war beinahe spürbar, wie ein vertrautes Lied, das plötzlich in der Mitte gestoppt hatte. Dennoch gab es Bewegung. Winzige Pfoten huschten durch die Hyazinthenbeete, die getrimmten Rosenhecken und die Binsen am See. Rotfüchse, Waschbären und Igel waren auf der Jagd. Dies war auch ihr Paradies, ob es die Architekten vorgesehen hatten oder nicht.
„Wer hat dir davon erzählt?“ verlangte die zweite Kreatur zu wissen. Seine Stimme war dabei kühl und gefasst. Der Mantel aus dunkelblauer Wolle, der ihn verhüllte, war zu lang und die ausgefranzten Enden schleiften seit Jahren hinter ihm am Boden. Er verkleinerte kaum merkbar seine Schrittlänge und passte sie jener von Raphael an. Bei jedem anderen ihrer Streifzüge war es genau andersherum gewesen.
„Du hättest es mir direkt sagen sollen.“ Raphael suchte verzweifelt Augenkontakt, welcher ihm aber verwehrt wurde. Es war nicht mehr weit bis zum nördlichen Tor, wo sie vom Rest ihrer Patrouille erwartet wurden. Er hatte Minuten für ein Gespräch, das sich nach Jahren anfühlte. „Ich hätte das verhindern müssen.“ presste er schließlich hervor.
„Aber das konntest du nicht.“ Es lag kein Zorn in den Worten der vermummten Gestalt: nur kalte, klare Fakten, heruntergebetet wie die Börsenkurse des gestrigen Tages. Der Geruch von Torf, verrottenden Blättern und Kerzenwachs hing an seiner Kleidung. Er war definitiv auf dem Friedhof gewesen, egal wie stoisch er sich gab. „Es zerfrisst mich von innen.“ Du hattest das nicht verdient. Raphael drehte seine Hand nach innen und hielt sie über sein Herz. Sein Begleiter zuckte mit den Schultern und starrte auf den Teich hinaus. „Man hat sie tot in ihren Betten gefunden. Es ist unwahrscheinlich, dass sie überhaupt nochmal aufgewacht sind. Niemand im Haus Sures wusste, dass Sie zu mir gehören. Sie haben einfach nur ihren Durst gestillt. Mein Sohn und seine Kinder konnten diese Welt ohne Angst und Schmerzen verlassen und dafür bin ich dankbar.“
„Sie hätten ohne Angst und Schmerzen leben können, wenn ich den Rückzug nicht befohlen hätte.“ Raphaels Stimme brach, nicht in ein Wimmern, sondern ein Fauchen. Er hoffte abermals vergebens, dass sein Freund sich zu ihm umdrehen und ihn ansehen würde. Der Schaden, den er verursacht hatte, war so endgültig, das Leid so unbeschreiblich groß, dass es ihn erschütterte, wie wenig seine Untergebenen seine Entscheidung infragestellten. Er wollte nicht, dass ihre Freundschaft daran zugrunde ging, aber in welcher gerechten Welt hätte sie fortbestehen können?
„Als Stratege hast du getan, was du musstest.“ fügte die Bestie mit dem blauen Mantel an. „Wenn du den Sures-Bastarden das Industriegebiet nicht überlassen hättest, wären wir beim Versuch es zu verteidigen aufgerieben worden. Es war eine Zahlenfrage. Ich verstehe und akzeptiere das.“
„Du hörst mich, aber du hörst mir nicht zu.“ Raphael blieb stehen, streckte seinen Arm aus und versperrte seinem Mitstreiter den Weg. Er brauchte mehr Zeit und er würde sie haben. Die Fußsoldaten am Tor konnten gefälligst warten.
„Es war der einzige mögliche Zug in einem Spiel, das ich nicht fortsetzen kann. Ein anderer Meister der Waffen hätte vielleicht dasselbe getan, aber dann wäre nicht ich derjenige gewesen, der damit weiterleben muss. Wie könnte ich dich ein weiteres Mal in den Kampf schicken und dein Leben aufs Spiel setzen, in dem Wissen, dass ich versagt habe, als du mich am meisten gebraucht hast?“ Er senkte seinen Arm wieder ab, verblieb aber, wo er stand, anstatt weiter zu gehen. „Ich werde Morgen als Meister der Waffen zurücktreten.“ Erklärte er, seine Stimme gerade so über ein Flüstern erhoben. Als die Worte gesagt und gehört waren, gab es kein Zurück mehr. Er stellte sich einen Moment in der fernen Zukunft vor. Fünf oder sechs Monate entfernt von hier, wenn alles Erklären und Rechtfertigen hinter ihm lag und er wieder Gleicher unter Gleichen war. Die Toten würden lange begraben liegen und die Trauer würde unweigerlich einem neuen Alltag gewichen sein. Er würde ein kleiner Teil in einem großen Ganzen sein, der jagte, patrouillierte, kämpfte, wenn es befohlen wurde und dazwischen ruhte. Mehr nicht. Die Zeit konnte nur vorwärts fließen, niemals zurück, und so würde er diesen Punkt unweigerlich erreichen, egal wie lang und schwer der Weg dorthin war. Raphael fand Trost darin. „Bitte überdenk das! „Willst du nicht noch warten bis…“
Und da war es: Ein Geräusch. in der Mitte eines Satzes, wo er es am wahrscheinlichsten überhört hätte. Der Laut, den etwas Metallisches machte, wenn es über etwas Starres, aber Weiches schleifte. Der Klang von Stahl auf altem Leder, ein Dolch, der aus seiner Hülle gezogen wurde. Sein Freund wirbelte zu ihm herum und stach zu. Raphael machte einen Satz zurück, aber es war zu spät. Die Klinge riss seinen Bauch auf. Schmerz schoss wie ein Blitz in seine Glieder und kaltes, schleimiges Blut rann an ihm herab bis zu seinen Knien. „Es gibt nichts mehr von mir auf dieser Welt“ knurrte der Verräter, seine scharfen Eckzähne gefletscht. Die rostroten Augen fixierten ihn, funkelnd vor Hass, der endlich seinen Weg an die Oberfläche gefunden hatte. „Mein Vermächtnis ist zerstört, weil du zu feige warst, uns in den Kampf zu führen. Es wird für dich kein Zurücktreten geben, Meister der Waffen.“ Die letzten drei Worte würgte er hervor, als ob der Titel in seinen Augen für alle Zeit besudelt war: ein Schimpfwort, ein Fluch. Ein weiterer Dolch-Hieb, diesmal von unten nach oben. Er verfehlte nur knapp Raphaels Rippen. Der scharfe Geruch von Blut umgab sie, so stark, dass der Rest der Patrouille ihn garantiert ebenfalls wahrnahm. Aber sein Gegner war kein Narr. Er hätte niemals zugeschlagen, wenn er nicht sicher war, damit davon zu kommen.
Etwas surrte durch die Luft. Ein Armbrustbolzen zertrümmerte Raphaels Schulterblatt und bohrte sich knapp unter seinem Schlüsselbein wieder heraus. Er blickte an sich hinab und erspähte die wiederhackenbewehrte Spitze.
Die Sehnen an diesen Waffen waren so stark, dass kein Mensch sie spannen konnte. Niemand, nicht einmal er konnte sich viele Treffer leisten.
Er wirbelte herum und fing den nächsten Bolzen mit rechts auf, eine Hand breit entfernt von seinem linken Auge. Er blickte in die Gesichter seiner ehemaligen Mitstreiter, aber fand dort nur dieselbe ungezügelte Verachtung. Der erste Schuss war von einem Mädchen abgefeuert worden. Sie hatte schmale Augenbrauen und eine kleine, sichelförmige Narbe auf ihrer Stirn. Zu Hause im Nest nannte man sie „Giroflée“, aber an ihren wahren Namen konnte er sich nicht erinnern, so sehr er es wünschte. Er holte aus und schleuderte den Bolzen, den er gefangen hatte, auf sie zu.
Er traf. Das grässliche, nasse Krachen durchbrach die Stille und sie stürzte auf die Knie, ihren leeren Blick noch immer fest auf ihn gerichtet. Ihr Schädel war gespalten. An den Fingern und Unterarmen beginnend, löste sich ihre Form auf und zerfiel zu feinem, grauen Staub, den der Wind wegriss, als hätte es sie niemals gegeben. Raphael brauchte weder seinen aufgeschlitzten Magen noch die durchlöcherte Lunge, aber er konnte fühlen, wie das Blut seinen Körper in Strömen verließ und seine mystischen Kräfte mitnahm. Es gab hier und heute keinen Sieg für ihn. Zitternd und ächzend vor Schmerz ließ er sich auf die Handflächen fallen und konzentrierte sich. Raphael stellte sich vor, wie er von einer Haut in die andere wechselte und es geschah.
Gelenke verdrehten sich, sprangen aus ihren Sockeln nur um sich neu zu verbinden, Muskeln schrumpften zu winzigen Überresten ihrer selbst und Organe schoben einander aus dem Weg. Dünnes, braunes Fell spross hervor und seine Finger verformten sich zu den ledrigen Schwingen einer kleinen Fledermaus. Erneut sauste kalter Stahl auf ihn nieder, diesmal von dem jüngeren Kämpfer, der mit Giroflée am Tor gelauert hatte. Er stieß sich vom Boden ab und rollte auf die Seite, um auszuweichen. Er war sich nicht sicher, ob er getroffen war oder nicht. Zum Wunden lecken war ohnehin keine Zeit. Der kleine Kopf schnappte zu und verbiss sich im Handrücken des Angreifers. Dieser schrie auf und riss seinen Arm noch oben. Raphael dachte für einen Moment, dass die Wucht, mit der er in den Nachthimmel geschleudert wurde, ihm den Kiefer brechen würde, aber als er sein Maul wieder öffnete, war er gerade hoch genug, um abzuheben. Eine harsche Windböe ergriff ihn und er musste dagegen ankämpfen, um nicht gegen den Stamm einer Kastanie gedrückt zu werden. Die Rinde streife seine Flügelspitze. Er hörte noch ein weiteres Surren. Es erschien ihm wie der grässlichste Klang, den je ein Wesen vernommen hatte. Der Bolzen streifte seinen Kopf und ließ einen triefenden, pulsierenden Stumpf zurück, wo vorher sein linkes Ohr gewesen war. Blut rann seine Stirn hinunter in seine Augen. Die Sterne, das Wasser und das Gras wurden rot. Die Welt war doch gerecht. Ein letzter Flügelschlag, um an Höhe zu gewinnen, dann konnte er vielleicht noch außer Reichweite gelangen und irgendwo Schutz suchen. Ein Schatten tauchte unter ihm auf. Ein Wolf mit schwarzem Pelz und rostroten Augen hetzte lautlos über die Wiese unter ihm. Das Biest schloss mit riesigen Sätzen zu ihm auf und stieß sich mit seinen mächtigen Läufen vom Boden ab. Die Kiefer schnappten zu und zermalmten die Fledermaus zwischen seinen Zähnen. Den Kopf hocherhoben stand er da und ließ den Staub langsam über seine Lefzen rieseln. Mit seiner Lust auf Rache endlich befriedigt, wandte er sich ab und trabte davon. Sein schwarzes Fell verschmolz mit der Nacht, wie ein Wassertropfen der wieder eins mit dem Meer wurde.
Verbesserte Version:
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Die Vampire von Rankental
Prolog
Die beiden Männer erschienen wie Menschen, aber unter ihrer Haut lauerten Monster. So greifbar wie ein halb vergessener Alptraum schlichen sie durch den verlassenen Park, mit Augen so lichtscheu, dass sie sich selbst gegen das Leuchten der Sterne verengten. Dunkle Wasser glucksten über das Ufer eines künstlichen Sees und winterkahle Kastanien säumten den Pfad. Auf der Kuppe eines flachen Hügels hatten die Arbeiten für einen neuen Pavillon begonnen, aber zu so später Stunde war die Baustelle still. Auch Bänke, Krocketfelder und Picknickplätze lagen verlassen da. Die Abwesenheit der Menschen, die sich hier bei schönem Wetter einfanden, war beinahe spürbar, wie ein vertrautes Lied, das plötzlich in der Mitte verstummt war. Dennoch gab es Bewegung. Winzige Pfoten huschten durch die Hyazinthenbeete, die getrimmten Rosenhecken und die Binsen am See. Marder, Rotfüchse und Wiesel waren auf der Jagd. Dies war auch ihr Paradies, ob es die Architekten wünschten oder nicht.
„Mein Beileid für deinen Verlust“ flüsterte eine der Kreaturen zu ihrem Komplizen.
„Wer hat dir davon erzählt?“, verlangte sein Begleiter zu wissen. Seine Stimme war dabei kühl und gefasst. Der Mantel aus dunkelblauer Wolle, der ihn verhüllte, war zu lang und die ausgefranzten Enden schleiften seit Jahren hinter ihm am Boden. Er verkürzte seine Schrittlänge und passte sie jener von Raphael an. Bei jedem Ihrer bisherigen Streifzüge war es genau andersherum gewesen.
Raphael suchte verzweifelt nach Augenkontakt, welcher ihm aber verwehrt wurde. Es war nicht mehr weit bis zum nördlichen Tor, wo sie vom Rest ihrer Patrouille erwartet wurden. Er hatte Minuten für ein Gespräch, das sich nach Jahren anfühlte. „Ich hätte das verhindern müssen.“ Presste er schließlich hervor.
„Aber das konntest du nicht.“ Es lag kein Zorn in den Worten der vermummten Gestalt, nur kalte, klare Fakten, heruntergebetet wie die Börsenkurse des gestrigen Tages. Der Geruch von Torf, verrottenden Blättern und Kerzenwachs hing an seiner Kleidung. Er war definitiv auf dem Friedhof gewesen, egal wie stoisch er sich gab.
Raphael drehte seine Hand nach innen und hielt sie über sein Herz. „Es zerfrisst mich von innen. Du hattest das nicht verdient“ Sein Begleiter zuckte mit den Schultern und starrte auf den Teich hinaus. „Man hat sie tot in ihren Betten gefunden“ berichtete er. „Es ist unwahrscheinlich, dass Sie überhaupt nochmal aufgewacht sind. Niemand im Haus Sures konnte wissen, dass sie zu mir gehören. Sie haben nur ihren Durst gestillt, wie wir alle. Mein Sohn und seine Kinder konnten diese Welt ohne Angst und Schmerzen verlassen und dafür bin ich dankbar.“
„Sie hätten ohne Angst und Schmerzen leben können, wenn ich den Rückzug nicht befohlen hätte.“ Raphaels Stimme brach, nicht in ein Wimmern, sondern in ein Fauchen. Er hoffte abermals vergebens, dass sein Freund sich zu ihm umdrehen und ihn ansehen würde. Der Schaden, den er verursacht hatte, war so endgültig, das Leid so unbeschreiblich groß, dass es ihn erschütterte, wie groß die Treue seiner Untergebenen immer noch war. Er wollte nicht, dass ihre Freundschaft daran zugrunde ging, aber in welcher gerechten Welt hätte sie fortbestehen können?
„Als Stratege hast du getan, was du musstest“ fügte die Bestie mit dem blauen Mantel an. „Wenn du den Sures-Bastarden das Industriegebiet nicht überlassen hättest, wären wir beim Versuch, es zu verteidigen, aufgerieben worden. Es war eine Zahlenfrage. Ich verstehe und akzeptiere das.“
„Du hörst Mich, aber du hörst mir nicht zu.“ Raphael blieb stehen, streckte seinen Arm aus und versperrte seinem Mitstreiter den Weg. Er brauchte mehr Zeit und er würde sie haben. Die Fußsoldaten am Tor konnten gefälligst warten.
„Ja! Es war der einzige mögliche Zug. Aber sind wir denn gezwungen, immer weiter zu spielen!? Ein anderer Meister der Waffen hätte vielleicht dasselbe getan, aber dann wäre ich nicht derjenige gewesen, der damit weiterleben muss. Ihr habt einen Kriegshelden gebraucht, aber es gab nur mich.“ Er senkte seinen Arm wieder ab, verblieb aber, wo er stand, anstatt weiter zu gehen.
„Ich werde als Meister der Waffen zurücktreten.“ Erklärte er, seine Stimme gerade so über ein Flüstern erhoben. Als die Worte gesagt und gehört waren, gab es kein Zurück mehr. Er stellte sich einen Moment in der fernen Zukunft vor. Fünf oder sechs Monate entfernt von hier, wenn alles Erklären und Rechtfertigen hinter ihm lag und er wieder Gleicher unter Gleichen war. Die Toten würden lange begraben liegen und die Trauer würde unweigerlich einem neuen Alltag gewichen sein. Er würde ein kleiner Teil in einem großen Ganzen sein, der jagte, patrouillierte, kämpfte, wenn es befohlen wurde, und dazwischen ruhte. Mehr nicht. Die Zeit konnte nur vorwärts fließen, niemals zurück, und so würde er diesen Punkt unweigerlich erreichen, egal wie lang und schwer der Weg dorthin war. Raphael fand Trost darin, aber der andere Krieger war nicht zufrieden. „Bitte überdenk das! Willst du nicht noch warten bis…“
Und da war es: ein Geräusch. Genau in der Mitte des gesprochenen Satzes, wo er es am wahrscheinlichsten überhört hätte. Der Klang von Stahl auf altem Leder, ein Dolch, der aus seiner Hülle gezogen wurde. Sein Freund wirbelte zu ihm herum und stach zu. Raphael machte einen Satz zurück, aber es war zu spät. Die Klinge riss seinen Bauch auf. Schmerz schoss wie ein Blitz in seine Glieder und kaltes, schleimiges Blut rann an ihm herab bis zu seinen Knien.
„Es gibt nichts mehr von mir auf dieser Welt“ knurrte der Verräter, seine scharfen Eckzähne gefletscht. Die rostroten Augen fixierten ihn, funkelnd vor Hass, der endlich seinen Weg an die Oberfläche gefunden hatte. „Mein Vermächtnis ist zerstört, weil du zu feige warst, uns in den Kampf zu führen. Es wird für dich kein Zurücktreten geben, Meister der Waffen“. Die letzten drei Worte würgte er hervor, als ob der Titel in seinen Augen für alle Zeit besudelt war, ein Schimpfwort, ein Fluch. Ein weiterer Dolch-Hieb, diesmal von unten nach oben. Er verfehlte nur knapp Raphaels Rippen. Der scharfe Geruch von Blut umgab sie, so stark, dass der Rest der Patrouille ihn garantiert ebenfalls wahrnahm. Aber sein Gegner war kein Narr. Er war sicher, damit davonzukommen, sonst hätte er niemals zugeschlagen.
Etwas surrte durch die Luft. Ein Armbrustbolzen zertrümmerte Raphaels Schulterblatt und bohrte sich knapp unter seinem Schlüsselbein wieder heraus. Er blickte an sich hinab und erspähte die wiederhakenbewehrte Spitze.
Die Sehnen an diesen Waffen waren so stark, dass kein Mensch sie spannen konnte. Niemand, nicht einmal er, konnte sich viele Treffer leisten.
Er stieß dem Krieger mit dem blauen Mantel seinen Ellenbogen mit solcher Wucht ins Gesicht, dass diese mehrere Schritte rückwärts taumelte. Dann wirbelte er herum, alarmiert durch das erneute Knirschen einer Armbrustsehne. Er fing den Bolzen mit rechts auf, eine Hand breit entfernt von seinem linken Auge. Er blickte in die Gesichter seiner ehemaligen Mitstreiter, aber fand dort nur dieselbe ungezügelte Verachtung. Der Schuss war von einem Mädchen abgefeuert worden. Sie hatte schmale Augenbrauen und eine kleine, sichelförmige Narbe auf ihrer Stirn. Zu Hause im Nest nannte man sie ‘Giroflée ‘, aber an ihren wahren Namen konnte er sich nicht erinnern, so sehr er es wünschte. Er holte aus und schleuderte den Bolzen, den er gefangen hatte, auf Sie zu.
Er traf. Das grässliche, nasse Krachen durchbrach die Stille und sie stürzte auf die Knie, ihren leeren Blick noch immer fest auf ihn gerichtet. Ihr Schädel war gespalten. An den Fingern und Unterarmen beginnend, löste sich ihre Form auf und zerfiel zu feinem, grauem Staub, den der Wind wegriss, als hätte es sie niemals gegeben. Raphael brauchte weder seinen aufgeschlitzten Magen noch die durchlöcherte Lunge, aber er konnte fühlen, wie das Blut seinen Körper in Strömen verließ und seine mystischen Kräfte mitnahm. Es gab keinen Sieg für ihn. Zitternd und ächzend vor Schmerz, ließ Raphael sich auf die Handflächen fallen und konzentrierte sich. Er stellte sich vor, wie er von einer Haut in die andere wechselte, und es geschah.
Gelenke verdrehten sich, sprangen aus ihren Sockeln, nur um sich neu zu verbinden, Muskeln schrumpften zu winzigen Überresten ihrer selbst und Organe schoben einander aus dem Weg. Dünnes, braunes Fell spross hervor und seine Finger verformten sich zu den ledrigen Schwingen einer kleinen Fledermaus. Erneut sauste kalter Stahl auf ihn nieder, diesmal von dem jüngeren Kämpfer, der mit Giroflée am Tor gelauert hatte.
Er stieß sich vom Boden ab und rollte auf die Seite, um auszuweichen. Er war sich nicht sicher, ob er getroffen war oder nicht. Zum Wundenlecken war ohnehin keine Zeit. Der kleine Kopf schnappte zu und verbiss sich im Handrücken des jungen Angreifers. Dieser knurrte und riss seinen Arm zurück. Raphael dachte für einen Moment, dass die Wucht, mit der er in den Nachthimmel geschleudert wurde, ihm den Kiefer brechen würde, aber als er sein Maul wieder öffnete, war er gerade hoch genug, um abzuheben. Eine harsche Windböe ergriff ihn und er musste dagegen ankämpfen, um nicht gegen den Stamm einer Kastanie gedrückt zu werden.
Die Rinde streifte seine Flügelspitze. Er hörte noch ein weiteres Surren. Es erschien ihm wie der grässlichste Klang, den je ein Wesen vernommen hatte. Der Bolzen streifte seinen Kopf und ließ einen triefenden, pulsierenden Stumpf zurück, wo vorher sein linkes Ohr gewesen war. Blut rann seine Stirn hinunter in seine Augen. Die Sterne, das Wasser und das Gras wurden rot. Die Welt war doch gerecht. Ein letzter Flügelschlag, um an Höhe zu gewinnen, dann konnte er vielleicht noch außer Reichweite gelangen und irgendwo Schutz suchen. Ein Schatten tauchte unter ihm auf. Ein Wolf mit schwarzem Pelz und rostroten Augen hetzte lautlos über die Wiese unter ihm. Das Biest schloss mit riesigen Sätzen zu ihm auf und stieß sich mit seinen mächtigen Läufen vom Boden ab. Die Kiefer schnappten zu und zermalmten die Fledermaus zwischen seinen Zähnen.
Den Kopf hocherhoben stand er da und ließ den Staub langsam über seine Lefzen rieseln. Mit seiner Lust auf Rache endlich befriedigt, wandte er sich ab und trabte davon. Sein schwarzes Fell verschmolz mit der Nacht, wie ein Wassertropfen, der wieder eins mit dem Meer wurde. Und sein verbliebener Mitverschwörer folgte schweigend.