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Oder auch Glasphiolen??
(Der Smiley ist so herrlich aussagekräftig. xD)
Wie die Teile von Musafir zu denen von Kadir und Kasim passen, wird sich ziemlich bald aufklären.
~.~.~
Kadir grub die Zehen in den kalten Sand, während die Blätter der Palmen über ihm ein Lied im Wind sangen. Am Horizont zeichnete sich erstes, frühes Licht ab; kurz musterte er den nahenden Morgen, bevor er seufzend den Blick senkte. Leises Plätschern von Wasser beruhigte sein aufgewühltes Gemüt. Wenn er an den Stamm des Baumes gelehnt die Augen schloss, hatte er das Gefühl, zurück im Palast zu sein. Mit den Füßen im kalten Nass saß er an einem der Springbrunnen und lauschte dem alltäglichen Trott des Haushaltes.
Doch er war nicht zuhause. Da war kein Kichern, kein lautes Rufen, keine klappernden Töpfe und stapfenden Schritte. Nur das Schnauben des Pferdes, das unweit von ihm an den Grasbüscheln knabberte und ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
Er war mitten in der Wüste, gestrandet an einer Oase, die mit wenigen Schritten umrundet war. Im Zwielicht sah alles um ihn herum gleich aus, eine Sanddüne glich der nächsten. Eine ungeahnte Schwere legte sich auf seine Brust. Er wusste nicht, wo sie waren, wie weit sie seit ihrer überstürzten Flucht geritten waren. Nur eines war sicher: Ohne Kasim hätte er nicht einmal die erste Nacht überstanden oder dieses Fleckchen gefunden, geschweige denn, dass er überhaupt aus der Stadt gelangt wäre.
Kadir seufzte. Sein Leben lang hatte er sich erhofft, nicht nur den Palast, sondern auch Alsahar hinter sich zu lassen. Wie oft hatte er in seinen Büchern gewälzt und sich ausgemalt, in fremden Ländereien umherzuwandern. Doch diese Weite um ihn herum bereitete ihm Magenschmerzen. Überall wohin er blickte kein Ende in Sicht; es behagte ihm nicht und sein Puls rauschte in seinen Ohren. Unvermittelt sehnte er sich nach der Geborgenheit der Palastmauern zurück.
Schaudernd grub er sich tiefer in die Decken. Er sah zu dem behelfsmäßigen Zelt auf, das Kasim aus ebensolchen zwischen Palmen aufgespannt hatte. Halbrund und zu einer Seite offen, bot es genügend Schutz vor Sonne, Staub und Wind.
Noch in der Stadt waren sie zu Dieben geworden. Seither schien ihm eine Ewigkeit vergangen. Es war schwer zu glauben, dass es erst wenige Tage her sein sollte. Er runzelte die Stirn, als er sich entsann, wie einfach es gewesen war, die Stadt zu verlassen. Als hätte ein Großteil der Stadtwache gewollt, dass sie entkamen. Diejenigen, die sie verfolgt hatten, agierten halbherzig, versuchten nicht einmal, ihr Pferd an den Zügeln zu ergreifen oder sich in ihren Weg zu stellen. Kasim, der es ebenfalls bemerkte, preschte mit ungeahnter Geschicklichkeit durch enge Gassen voran, verwirrte damit nicht nur die Wachen. Mit Todesangst krallte der Prinz die Finger in die Mähne des Tieres, gerade als Kasim hinter ihm begann, akrobatische Kunststücke zu vollführen. Mehrfach hatte er sich zu den zwischen Häusern gespannten Leinen gestreckt und scheinbar wahllos Dinge stibitzt, ohne das Pferd unter ihnen langsamer werden zu lassen.
Kadir atmete tief durch, als er an die panischen Gesichter jener zurückdachte, an denen sie vorbeigeritten waren. Die Stadtbewohner hatten versucht, den sich ausbreitenden Feuern Einhalt zu gebieten, als er die Flucht ergriff.
Letztendlich waren sie unbehelligt durch eines der letzten offenen Tore hinaus und ihren ausgedünnten Verfolgern entkommen, nur in hastig um die Köpfe gewickelte Tücher gehüllt. Kasim drosselte lange das Tempo nicht, gönnte dem wild schnaufendem Pferd erst etwas Rast, als die Sonne höher wanderte und die Mauern der Stadt längst nicht mehr in Sicht waren. Irgendwann hatte sein Freund dem Tier freien Lauf gelassen, bis sie hierher fanden.
Seufzend lehnte sich der Prinz zurück und schluckte den Kloß im Hals herunter. Mit einem Mal war alles zu viel. Fahrig wischte er sich über die feuchte Stirn.
Keiner von beiden hatte seitdem viel Schlaf gefunden, immer in der Furcht, jemand finde sie. Kadir selbst plagten wirre Alpträume. Mittlerweile fürchtete er die Schwere der Müdigkeit und stets, wenn seine Lider zufielen, schreckte er hastig auf.
Kasim war vor einiger Zeit aufgestanden, um an der Wasserquelle ihre Vorräte aufzufüllen. Nun saß er in der Morgendämmerung mit dem Rücken zu ihm am Ufer und starrte ins Unbekannte, tief in eigenen Gedanken versunken. Der Prinz hegte keinen Drang, sich zu ihm zu gesellen. Zu bleiern lag ihm die letzte Auseinandersetzung noch im Magen.
Entgegen all des Drängens des anderen jungen Mannes, wollte er die Oase nicht verlassen. Niemand von ihnen konnte sagen, was jenseits lauerte. Tief im Inneren hoffte er weiterhin, dass Harun ihn mit einigen Männern fand. Der Hauptmann hatte versprochen, nachzukommen. Doch mitten in der Wüste würden sie aneinander vorbeilaufen.
Mit gebrochenen Worten hatte Kasim versucht ihm begreiflich zu machen, dass diese Oase nicht nur von Freunden aufgefunden werden konnte, sondern auch von jenen, die ihnen nicht wohlgesonnen waren. Sie wussten nicht, wer ihnen auf den Fersen war. Kadir war das bewusst, dennoch beharrte er darauf, zu warten. Ritten sie weiter ohne Sinn und Verstand durch die Einöde, würden sie dem Tod in die Arme laufen.
Nach einigen harschen Worten hatte Kasim nur Unverständliches genuschelt und seitdem nicht mehr mit ihm gesprochen.
Kadir vertraute darauf, dass sich alles zum Guten wendete. Doch der Glaube fand in seinem Verstand keinen Zuspruch.
Seine Finger tasteten nach dem Ring an seiner Brust. Tränen schossen in seine Augen; wütend und schniefend rieb er sie fort. Sein Vater war tot, doch Weinen würde ihn nicht zurückbringen. Nicht ein letztes Mal hatte er ihn sehen können; er wusste nicht einmal, wie er starb. Warum er starb. Nun hatte er nur das Bild vor Augen, wie er zusammengesunken auf einer Bank vor den Bädern saß, den Rücken gebeugt und das Gesicht in den Händen vergraben.
Der Prinz schluckte weitere Tränen herunter. Der König lebte nicht mehr und sein einziger Thronfolger war geflohen. Nur vor was? Diese Antwort hatte ihm keiner geben können.
Durfte er, entgegen aller Sehnsucht, davonlaufen? Die Stadt im Stich lassen? Alles in ihm sträubte sich dagegen. Er fühlte sich feige. Niemand konnte sagen, was auf ihn zukäme, wenn er zurückkehrte. Harun wollte ihn aus Alsahar wissen – dafür musste es einen Grund geben.
Hinter seinen Schläfen kribbelte es und mit einem Aufstöhnen zerzauste er sich das ohnehin schon wirre Haar. Ein Rascheln erschreckte ihn und als er aufsah, duckte sich Kasim zu ihm unter ihr kleines Zelt. Im fahlen Licht wirkte sein Gesicht weiterhin verbissen. Doch etwas anderes erregte Kadirs Aufmerksamkeit. Vom Hals seines Freundes baumelte eine Phiole an einem Lederband. Ein sanftes Glühen ließ Schatten auf Kasims Kinn tanzen. Die Stirn in Falten gelegt, beobachtete der Prinz, wie er sich ihm gegenübersetzte, sich in seine eigenen Decken wickelte und das Leuchten verbarg. Ihre Schultern berührten sich beinahe, doch keiner zuckte von dem anderen fort.
Das Schweigen war plötzlich so laut in Kadirs Ohren und schließlich seufzte er. »Einen Tag.«
Langsam hob Kasim den Kopf. Die Furche zwischen seinen Brauen war zurück, zauberte ein Schmunzeln auf die Lippen des Prinzen, das rasch schwand.
»Wir warten noch einen Tag, dann ziehen wir weiter.« Die Frage, wohin, wollte er sich derzeit nicht stellen.
Sein Gegenüber überlegte einen Moment, bevor es zögerlich nickte. »Einen Tag. Nicht mehr.« Kasim blickte sich um. »Sobald Sonne wieder Hozont berührt, reiten wir.«
»Horizont.« Blinzelnd sah sein Freund zu ihm auf. »Es heißt Horizont, nicht Hozont.« Seine Mundwinkel zuckten und auch Kasims Gesicht zierte ein flüchtiges Lächeln. Der Prinz beschloss, dass ihm dies um einiges besser stand.
Die neue Stille war angenehmer. Kadir warf einen verstohlenen Blick dorthin, wo er die Phiole vermutete. Sie war ihm zuvor nie aufgefallen und er fragte sich, was darinnen steckte. Bilder sorgloser Nächte tauchten vor ihm auf, zu denen er als Kind gemeinsam mit Harun oder seinem Vater nach seltenen Glühwürmchen Ausschau hielt. Doch das Licht der Käfer war anders.
Es versetzte ihn einen Stich in die Brust; hastig schob er die Erinnerung beiseite. Stattdessen kaute er auf seiner Unterlippe, bis die Neugierde ungewollt aus ihm herausplatzte. »Was hast du da?« Ihm war bewusst, wie unverschämt diese Frage klang.
Kasim wandte den Kopf herum, die Brauen gewölbt, ehe er zögernd an sich herabsah und die Decken etwas lüpfte. Sanft erhellte das Glühen seine Haut, als er das Glasfläschchen anhob.
Unvermittelt streckte Kadir seine Hand nach dem sonderbaren Anhänger aus, hielt jedoch abrupt inne, bevor er vorsichtig aufblickte. »Darf ich?«
Sein Freund zögerte, streifte dann das Lederband über den Kopf und reichte es ihm.
Die Phiole war warm. Mit jeder Berührung seiner Fingerspitzen stob ihr feinkörniger Inhalt von einer Seite zur anderen. Das sanfte, gelblich-weiße Licht, das eindeutig vom Staub ausging, strahlte wärmer als zuvor. Blinzelnd sah Kadir darauf hinab. Das Glas schien zu pochen, wie ein Herzschlag, gleichmäßig. Schnell stellte er fest, dass es sich seinem eigenen anpasste. Oder war es umgekehrt?
»Es ist wunderschön«, flüsterte Kadir. Ein wohliges Seufzen erklang, doch als er sich umschaute, wurden seine Augen ebenso groß wie Kasims, der schwach den Kopf schüttelte. Gänsehaut überzog die Arme des Prinzen, doch sein Frösteln war nicht unangenehm. Im Gegenteil, er fühlte sich sicher, geborgen – geliebt.
Die Stirn erneut gerunzelt, betrachtete er das Schmuckstück noch einen Moment, bevor er es widerwillig zurückreichte. Sofort ergriff ihn eine Leere, die er nicht zu beschreiben vermochte. Eine Sehnsucht, die nicht seine eigene zu sein schien. Er merkte erst, dass ihm Tränen in den Augen standen, als sie langsam seine Wangen herabrannen. Verwirrt berührte er sie, bevor er sie beschämt wegwischte.
Kasim sah einige Zeit auf die Phiole, dann hängte er sich das Lederband wieder um den Hals, eine Hand auf dem Glas ruhend.
»Woher hast du es?«, fragte Kadir leise. Er konnte den Blick kaum von dem Leuchten abwenden.
»Mein Großvater gab es mir.« Ein kaum sichtbares Lächeln huschte über das Gesicht seines Gegenübers. »Er von seinem, der von seinem.« Schwer stieß er die Luft aus und ließ seine Aufmerksamkeit über die heller werdende Landschaft wandern.
Eine Weile musterte Kadir ihn, bis eine Erkenntnis ihn traf. »Ich weiß eigentlich nichts über dich«, bemerkte er, wollte kein erneutes Schweigen zwischen ihnen aufkommen lassen. Zu sehr drohten seine Gedanken zu unangenehmeren Dingen zurückzukehren. Wieder vergrub er die Zehen im Sand. »Und du kaum etwas über mich. Dennoch hast du nicht gezögert, als – als man dich bat, mit mir zu fliehen.« Er schluckte, doch der Kloß in seiner Kehle blieb. »Warum? Du hättest genauso gut allen davonreiten können. Ich bin doch nur eine Last.«
»Keine Last. Du bist Freund.«
Das Herz des Prinzen machte einen Sprung. Die Einzige, die ihn bisher so aufrichtig als solchen bezeichnet hatte, war Ranya.
Sein Magen sackte tiefer. Ranya. Bisher hatte er keinen Gedanken an sie gehegt. Ihm wurde schlecht, seine Wangen warm. Rasch drehte er sich beiseite. Seine Freundin seit Kindertagen und er hatte sich nicht einmal gefragt, ob es ihr gutging. Er dachte nur an sich selbst.
»Prinz?«
Schniefend raunte Kadir: »Hör auf mich so zu nennen. Wir sind nicht mehr im Palast.« Und er war sich nicht einmal sicher, ob er noch ein Prinz war, ob er es noch sein wollte.
Kasim verlagerte sein Gewicht und plötzlich legte er den Arm um ihn. Ohne weitere Worte zog er ihn näher heran und Kadir riss die Augen weit auf. Er konnte das Vibrieren der Phiole unter seinen Fingern spüren. Ehe er sich versah, schlang er die Arme um den anderen und seufzte schwer, bevor seine Schultern zu beben begannen.
Begleitet von einem fernen, flüsternden Singen, hockten sie lange beisammen, bis die ersten Strahlen der Sonne den Sand berührten.