Es gibt 220 Antworten in diesem Thema, welches 68.747 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (7. Januar 2019 um 11:40) ist von 97dragonfly.

  • Spoiler anzeigen

    Oder auch Glasphiolen??

    :grinstare: (Der Smiley ist so herrlich aussagekräftig. xD)

    Wie die Teile von Musafir zu denen von Kadir und Kasim passen, wird sich ziemlich bald aufklären. ^^

    ~.~.~


    Kadir grub die Zehen in den kalten Sand, während die Blätter der Palmen über ihm ein Lied im Wind sangen. Am Horizont zeichnete sich erstes, frühes Licht ab; kurz musterte er den nahenden Morgen, bevor er seufzend den Blick senkte. Leises Plätschern von Wasser beruhigte sein aufgewühltes Gemüt. Wenn er an den Stamm des Baumes gelehnt die Augen schloss, hatte er das Gefühl, zurück im Palast zu sein. Mit den Füßen im kalten Nass saß er an einem der Springbrunnen und lauschte dem alltäglichen Trott des Haushaltes.
    Doch er war nicht zuhause. Da war kein Kichern, kein lautes Rufen, keine klappernden Töpfe und stapfenden Schritte. Nur das Schnauben des Pferdes, das unweit von ihm an den Grasbüscheln knabberte und ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
    Er war mitten in der Wüste, gestrandet an einer Oase, die mit wenigen Schritten umrundet war. Im Zwielicht sah alles um ihn herum gleich aus, eine Sanddüne glich der nächsten. Eine ungeahnte Schwere legte sich auf seine Brust. Er wusste nicht, wo sie waren, wie weit sie seit ihrer überstürzten Flucht geritten waren. Nur eines war sicher: Ohne Kasim hätte er nicht einmal die erste Nacht überstanden oder dieses Fleckchen gefunden, geschweige denn, dass er überhaupt aus der Stadt gelangt wäre.
    Kadir seufzte. Sein Leben lang hatte er sich erhofft, nicht nur den Palast, sondern auch Alsahar hinter sich zu lassen. Wie oft hatte er in seinen Büchern gewälzt und sich ausgemalt, in fremden Ländereien umherzuwandern. Doch diese Weite um ihn herum bereitete ihm Magenschmerzen. Überall wohin er blickte kein Ende in Sicht; es behagte ihm nicht und sein Puls rauschte in seinen Ohren. Unvermittelt sehnte er sich nach der Geborgenheit der Palastmauern zurück.
    Schaudernd grub er sich tiefer in die Decken. Er sah zu dem behelfsmäßigen Zelt auf, das Kasim aus ebensolchen zwischen Palmen aufgespannt hatte. Halbrund und zu einer Seite offen, bot es genügend Schutz vor Sonne, Staub und Wind.
    Noch in der Stadt waren sie zu Dieben geworden. Seither schien ihm eine Ewigkeit vergangen. Es war schwer zu glauben, dass es erst wenige Tage her sein sollte. Er runzelte die Stirn, als er sich entsann, wie einfach es gewesen war, die Stadt zu verlassen. Als hätte ein Großteil der Stadtwache gewollt, dass sie entkamen. Diejenigen, die sie verfolgt hatten, agierten halbherzig, versuchten nicht einmal, ihr Pferd an den Zügeln zu ergreifen oder sich in ihren Weg zu stellen. Kasim, der es ebenfalls bemerkte, preschte mit ungeahnter Geschicklichkeit durch enge Gassen voran, verwirrte damit nicht nur die Wachen. Mit Todesangst krallte der Prinz die Finger in die Mähne des Tieres, gerade als Kasim hinter ihm begann, akrobatische Kunststücke zu vollführen. Mehrfach hatte er sich zu den zwischen Häusern gespannten Leinen gestreckt und scheinbar wahllos Dinge stibitzt, ohne das Pferd unter ihnen langsamer werden zu lassen.
    Kadir atmete tief durch, als er an die panischen Gesichter jener zurückdachte, an denen sie vorbeigeritten waren. Die Stadtbewohner hatten versucht, den sich ausbreitenden Feuern Einhalt zu gebieten, als er die Flucht ergriff.
    Letztendlich waren sie unbehelligt durch eines der letzten offenen Tore hinaus und ihren ausgedünnten Verfolgern entkommen, nur in hastig um die Köpfe gewickelte Tücher gehüllt. Kasim drosselte lange das Tempo nicht, gönnte dem wild schnaufendem Pferd erst etwas Rast, als die Sonne höher wanderte und die Mauern der Stadt längst nicht mehr in Sicht waren. Irgendwann hatte sein Freund dem Tier freien Lauf gelassen, bis sie hierher fanden.
    Seufzend lehnte sich der Prinz zurück und schluckte den Kloß im Hals herunter. Mit einem Mal war alles zu viel. Fahrig wischte er sich über die feuchte Stirn.
    Keiner von beiden hatte seitdem viel Schlaf gefunden, immer in der Furcht, jemand finde sie. Kadir selbst plagten wirre Alpträume. Mittlerweile fürchtete er die Schwere der Müdigkeit und stets, wenn seine Lider zufielen, schreckte er hastig auf.
    Kasim war vor einiger Zeit aufgestanden, um an der Wasserquelle ihre Vorräte aufzufüllen. Nun saß er in der Morgendämmerung mit dem Rücken zu ihm am Ufer und starrte ins Unbekannte, tief in eigenen Gedanken versunken. Der Prinz hegte keinen Drang, sich zu ihm zu gesellen. Zu bleiern lag ihm die letzte Auseinandersetzung noch im Magen.
    Entgegen all des Drängens des anderen jungen Mannes, wollte er die Oase nicht verlassen. Niemand von ihnen konnte sagen, was jenseits lauerte. Tief im Inneren hoffte er weiterhin, dass Harun ihn mit einigen Männern fand. Der Hauptmann hatte versprochen, nachzukommen. Doch mitten in der Wüste würden sie aneinander vorbeilaufen.
    Mit gebrochenen Worten hatte Kasim versucht ihm begreiflich zu machen, dass diese Oase nicht nur von Freunden aufgefunden werden konnte, sondern auch von jenen, die ihnen nicht wohlgesonnen waren. Sie wussten nicht, wer ihnen auf den Fersen war. Kadir war das bewusst, dennoch beharrte er darauf, zu warten. Ritten sie weiter ohne Sinn und Verstand durch die Einöde, würden sie dem Tod in die Arme laufen.
    Nach einigen harschen Worten hatte Kasim nur Unverständliches genuschelt und seitdem nicht mehr mit ihm gesprochen.
    Kadir vertraute darauf, dass sich alles zum Guten wendete. Doch der Glaube fand in seinem Verstand keinen Zuspruch.
    Seine Finger tasteten nach dem Ring an seiner Brust. Tränen schossen in seine Augen; wütend und schniefend rieb er sie fort. Sein Vater war tot, doch Weinen würde ihn nicht zurückbringen. Nicht ein letztes Mal hatte er ihn sehen können; er wusste nicht einmal, wie er starb. Warum er starb. Nun hatte er nur das Bild vor Augen, wie er zusammengesunken auf einer Bank vor den Bädern saß, den Rücken gebeugt und das Gesicht in den Händen vergraben.
    Der Prinz schluckte weitere Tränen herunter. Der König lebte nicht mehr und sein einziger Thronfolger war geflohen. Nur vor was? Diese Antwort hatte ihm keiner geben können.
    Durfte er, entgegen aller Sehnsucht, davonlaufen? Die Stadt im Stich lassen? Alles in ihm sträubte sich dagegen. Er fühlte sich feige. Niemand konnte sagen, was auf ihn zukäme, wenn er zurückkehrte. Harun wollte ihn aus Alsahar wissen – dafür musste es einen Grund geben.
    Hinter seinen Schläfen kribbelte es und mit einem Aufstöhnen zerzauste er sich das ohnehin schon wirre Haar. Ein Rascheln erschreckte ihn und als er aufsah, duckte sich Kasim zu ihm unter ihr kleines Zelt. Im fahlen Licht wirkte sein Gesicht weiterhin verbissen. Doch etwas anderes erregte Kadirs Aufmerksamkeit. Vom Hals seines Freundes baumelte eine Phiole an einem Lederband. Ein sanftes Glühen ließ Schatten auf Kasims Kinn tanzen. Die Stirn in Falten gelegt, beobachtete der Prinz, wie er sich ihm gegenübersetzte, sich in seine eigenen Decken wickelte und das Leuchten verbarg. Ihre Schultern berührten sich beinahe, doch keiner zuckte von dem anderen fort.
    Das Schweigen war plötzlich so laut in Kadirs Ohren und schließlich seufzte er. »Einen Tag.«
    Langsam hob Kasim den Kopf. Die Furche zwischen seinen Brauen war zurück, zauberte ein Schmunzeln auf die Lippen des Prinzen, das rasch schwand.
    »Wir warten noch einen Tag, dann ziehen wir weiter.« Die Frage, wohin, wollte er sich derzeit nicht stellen.
    Sein Gegenüber überlegte einen Moment, bevor es zögerlich nickte. »Einen Tag. Nicht mehr.« Kasim blickte sich um. »Sobald Sonne wieder Hozont berührt, reiten wir.«
    »Horizont.« Blinzelnd sah sein Freund zu ihm auf. »Es heißt Horizont, nicht Hozont.« Seine Mundwinkel zuckten und auch Kasims Gesicht zierte ein flüchtiges Lächeln. Der Prinz beschloss, dass ihm dies um einiges besser stand.
    Die neue Stille war angenehmer. Kadir warf einen verstohlenen Blick dorthin, wo er die Phiole vermutete. Sie war ihm zuvor nie aufgefallen und er fragte sich, was darinnen steckte. Bilder sorgloser Nächte tauchten vor ihm auf, zu denen er als Kind gemeinsam mit Harun oder seinem Vater nach seltenen Glühwürmchen Ausschau hielt. Doch das Licht der Käfer war anders.
    Es versetzte ihn einen Stich in die Brust; hastig schob er die Erinnerung beiseite. Stattdessen kaute er auf seiner Unterlippe, bis die Neugierde ungewollt aus ihm herausplatzte. »Was hast du da?« Ihm war bewusst, wie unverschämt diese Frage klang.
    Kasim wandte den Kopf herum, die Brauen gewölbt, ehe er zögernd an sich herabsah und die Decken etwas lüpfte. Sanft erhellte das Glühen seine Haut, als er das Glasfläschchen anhob.
    Unvermittelt streckte Kadir seine Hand nach dem sonderbaren Anhänger aus, hielt jedoch abrupt inne, bevor er vorsichtig aufblickte. »Darf ich?«
    Sein Freund zögerte, streifte dann das Lederband über den Kopf und reichte es ihm.
    Die Phiole war warm. Mit jeder Berührung seiner Fingerspitzen stob ihr feinkörniger Inhalt von einer Seite zur anderen. Das sanfte, gelblich-weiße Licht, das eindeutig vom Staub ausging, strahlte wärmer als zuvor. Blinzelnd sah Kadir darauf hinab. Das Glas schien zu pochen, wie ein Herzschlag, gleichmäßig. Schnell stellte er fest, dass es sich seinem eigenen anpasste. Oder war es umgekehrt?
    »Es ist wunderschön«, flüsterte Kadir. Ein wohliges Seufzen erklang, doch als er sich umschaute, wurden seine Augen ebenso groß wie Kasims, der schwach den Kopf schüttelte. Gänsehaut überzog die Arme des Prinzen, doch sein Frösteln war nicht unangenehm. Im Gegenteil, er fühlte sich sicher, geborgen – geliebt.
    Die Stirn erneut gerunzelt, betrachtete er das Schmuckstück noch einen Moment, bevor er es widerwillig zurückreichte. Sofort ergriff ihn eine Leere, die er nicht zu beschreiben vermochte. Eine Sehnsucht, die nicht seine eigene zu sein schien. Er merkte erst, dass ihm Tränen in den Augen standen, als sie langsam seine Wangen herabrannen. Verwirrt berührte er sie, bevor er sie beschämt wegwischte.
    Kasim sah einige Zeit auf die Phiole, dann hängte er sich das Lederband wieder um den Hals, eine Hand auf dem Glas ruhend.
    »Woher hast du es?«, fragte Kadir leise. Er konnte den Blick kaum von dem Leuchten abwenden.
    »Mein Großvater gab es mir.« Ein kaum sichtbares Lächeln huschte über das Gesicht seines Gegenübers. »Er von seinem, der von seinem.« Schwer stieß er die Luft aus und ließ seine Aufmerksamkeit über die heller werdende Landschaft wandern.
    Eine Weile musterte Kadir ihn, bis eine Erkenntnis ihn traf. »Ich weiß eigentlich nichts über dich«, bemerkte er, wollte kein erneutes Schweigen zwischen ihnen aufkommen lassen. Zu sehr drohten seine Gedanken zu unangenehmeren Dingen zurückzukehren. Wieder vergrub er die Zehen im Sand. »Und du kaum etwas über mich. Dennoch hast du nicht gezögert, als – als man dich bat, mit mir zu fliehen.« Er schluckte, doch der Kloß in seiner Kehle blieb. »Warum? Du hättest genauso gut allen davonreiten können. Ich bin doch nur eine Last.«
    »Keine Last. Du bist Freund.«
    Das Herz des Prinzen machte einen Sprung. Die Einzige, die ihn bisher so aufrichtig als solchen bezeichnet hatte, war Ranya.
    Sein Magen sackte tiefer. Ranya. Bisher hatte er keinen Gedanken an sie gehegt. Ihm wurde schlecht, seine Wangen warm. Rasch drehte er sich beiseite. Seine Freundin seit Kindertagen und er hatte sich nicht einmal gefragt, ob es ihr gutging. Er dachte nur an sich selbst.
    »Prinz?«
    Schniefend raunte Kadir: »Hör auf mich so zu nennen. Wir sind nicht mehr im Palast.« Und er war sich nicht einmal sicher, ob er noch ein Prinz war, ob er es noch sein wollte.
    Kasim verlagerte sein Gewicht und plötzlich legte er den Arm um ihn. Ohne weitere Worte zog er ihn näher heran und Kadir riss die Augen weit auf. Er konnte das Vibrieren der Phiole unter seinen Fingern spüren. Ehe er sich versah, schlang er die Arme um den anderen und seufzte schwer, bevor seine Schultern zu beben begannen.
    Begleitet von einem fernen, flüsternden Singen, hockten sie lange beisammen, bis die ersten Strahlen der Sonne den Sand berührten.

    Einmal editiert, zuletzt von Kitsune (25. Juli 2016 um 21:09)

    • Offizieller Beitrag

    Nun hatte er nur das Bild vor Augen, wie er zusammengesunken auf einer Bank vor den Bändern saß, den Rücken gebeugt und das Gesicht in den Händen vergraben.

    Was für Bänder? Ich bin verwirrt.
    Oder meinst du Bädern? :hmm:

    Die Gefühle und den Zwiespalt Kadirs hast du super dargestellt. Auch diese Gedanken, um wirklich alles, zeigt seine innere Verwirrung und seine Unruhe. Das ist sehr gut nachzuvollziehen und ich fühle mit dem Armen. Da sitzt er da und weiß nicht wohin mit sich. ;(
    Schön auch, dass du hier den Bogen zu Kasims Phiole geschlagen hast. Elin hat ja etwas von Nomaden in dem Zusammenhang erzählt, oder? Und hast nicht mal erwähnt, dass Kasims Familie reist? :hmm:
    Frage mich, wie das alles zusammenhängt. :)

    LG, Kyelia

  • Mit gebrochenen Worten hatte Kasim versucht ihm begreiflich zu machen, dass diese Oase nicht nur von Freunden aufgefunden werden konnte, sondern auch von jenen, die nicht wohlgesinnt waren.

    ...., die ihnen nicht wohlgesonnen waren.


    Kadir ist aus seinem Leben gerissen und du hast das überzeugend dargestellt. Ich bin sehr gespannt, was aus Kasim und Kadir wird. Und welchen Bezug der Prinz zu Kasims Phiole entwickelt. :stick:

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Ja, ich stimme den anderen zu: vollkommen glaubhaft dargestellt. In echt wäre es vielleicht sogar noch krasser, nach einem so behüteten Leben plötzlich mitten in der Botanik herumzustehen, ohne etwas in den Händen. Nicht einmal mit einer Zukunft.

    Bleibt wie so oft zuletzt: Und jetzt, wie geht's weiter?

    "Sehe ich aus wie einer, der Geld für einen Blumentopf ausgibt, in den schon die Pharaonen gepisst haben?"

  • Spoiler anzeigen

    Oh, was habe ich mich schwergetan mit diesem Abschnitt. Nicht am Anfang, nicht am Ende, nein, die Mitte war der Übeltäter. Mal wieder ein Dank an euch, dass ihr das hier lest und fleißig kommentiert.

    Langsam wanderte die Sonne am Horizont höher über die Dünen. Musafir folgte gemächlich den beiden Mädchen, die ihn begleiteten. Ihre Kopftücher flatterten im schwachen Wind und ihr Kichern drang klar zu ihm heran, während die Kamele ihnen vorausliefen.
    Seufzend senkte er den Blick auf seine eigenen Füße. Nach einer schlaflosen Nacht hatte Elin ihn buchstäblich aus dem Bett geworfen. Er hatte sich nicht beklagt, hegte weiterhin die Hoffnung, dass die Bewegung nicht nur seinen Gliedern guttun würde, sondern auch den Nebel in seinem Verstand lichtete.
    Mürrisch schob er seinen eigenen Kopfschal zurück und strich die Haare aus seinem Nacken, bevor er sie mit einem dünnen Band von seinem Handgelenk zusammenfasste. Am Ende waren sie ein einziger wirrer Knoten, doch er fühlte sich für den Moment besser, als er den Schal wieder geschickt um seinen Kopf wickelte.
    Nach und nach verschwanden die Kamele über einen mannshohen Sandhügel. Die Mädchen beschleunigten ihre Schritte, wobei die Lederflaschen an ihren Gürteln um ihre Beine schlugen. Musafir stapfte hinterher, fluchte leise, als er bis zum Knöchel versank und beinahe einen der lockeren Stiefel verlor. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie für den Weg fest zu verschnüren.
    Sein Herz begann zu jubeln, als die ersten Wipfel von Palmen in Sicht gerieten; es war einige Zeit verstrichen, seit er das letzte Grün gesehen hatte.
    Mit neuem Tatendrang überholte er die Mädchen und entdeckte die Tiere, wie sie sich gemächlich dem Wasser näherten. Doch kaum schätzte Musafir die Ausmaße der Quelle ab, fühlte er die Enttäuschung durch seinen Magen brausen. Karges Gras und wenige, schmächtige Palmen umgaben die Oase, die kaum mehr als ein umfangreicheres Wasserloch war. Für die Zwecke des Lagers ausreichend, doch für ihn, der bei einem größeren Gewässer auf rastende Nomaden mit ihren endlosen Geschichten gehofft hatte, ernüchternd.
    Wie angewurzelt blieb er an der höchsten Stelle der Düne stehen. Beinahe hätte er sich stöhnend auf die Knie sinken lassen. Er wusste, in diesem Moment, dass er weiterziehen, sich von Elin und ihren Frauen verabschieden musste. Sein schmerzendes, sehnendes Herz verlangte nach mehr als das, was vor ihm lag. Und noch mehr als das, was hinter ihm liegen würde.
    Sein Blick wanderte über die Rücken der Kamele hinweg. Plötzlich stutzte er, wurde zweier Gestalten im Schatten der Bäume gewahr. Lachend schlossen die Mädchen zu ihm auf. Mit einer flüchtigen Handbewegung brachte er sie zum Stehen. Verdutzt blickten sie zu ihm auf, doch Musafir ging ohne weitere Erklärung allein voran.
    Sollte ihn das Glück doch nicht verlassen haben?
    Seine Euphorie schwand. In der Nähe entdeckte er nur ein Pferd, das schnaubend die Mähne schüttelte und einige Schritte ins Wasser trottete, ungeachtet der Neuankömmlinge. Das Lager, wenn man es so nennen konnte, bestand lediglich aus einem notdürftigen, halben Zelt aus Decken. Im Sand zeugten keinerlei Spuren von einem Feuer oder Anzeichen weiterer Reiter. Je näher er kam, desto deutlicher schien es ihm, dass hier niemand sein konnte, der dem eigentlichen Lager vorausgeeilt war, um Vorräte aufzufrischen.
    Dennoch trieb ihn etwas Schritt für Schritt voran. Als zöge ihn eine unsichtbare Macht in die Nähe der beiden Gestalten, die sich hinter einem Baum verborgen hielten. Eine von ihnen, beinahe einen halben Kopf größer als die andere, mit hellerer Haut als die seine, hatte eine Waffe erhoben, doch auch davon ließ sich Musafir nicht abschrecken, obwohl er Gewalt jeglicher Art verabscheute.
    Mit den Innenflächen nach oben streckte er die Hände aus. Der junge Mann stellte sich gekonnt vor die verhüllte Person hinter ihm, doch selbst wenn er es nicht getan hätte, wäre es Musafir schwergefallen, viel von dieser zu erkennen. Ihr Kopf war von einem schwarz-weiß gemusterten Tuch verhüllt, sodass bis auf die Augen nicht einmal ein Haaransatz hervorlugte.
    Einige Schritte vor den beiden hielt er inne, die Hände noch immer erhoben. »Wir wollen nichts Böses«, begann er ruhig und kreuzte den Blick mit jenem Mann, der die Waffe fest umklammert hielt. Seine Augen waren ein helles braun, etwas, dass er bisher selten gesehen hatte. Auch seine hellbraune Haut zeugte davon, dass er außerhalb der Wüste geboren sein musste. Etwas kitzelte in seinem hinteren Verstand, doch er bekam es nicht zu fassen.
    Er versuchte ihnen entgegenzukommen, indem er sein eigenes Tuch nach hinten strich und das Gesicht offenbarte. Sein Gegenüber senkte die Brauen und runzelte die Stirn; sein Blick glitt zu den Kamelen, dann über Musafirs Schultern hinweg zu den Mädchen, die hoffentlich noch an Ort und Stelle ausharrten. Seinen Säbel senkte er jedoch nicht. Keiner von den beiden Fremden ergriff die Flucht und etwas davon machte Musafir Hoffnung, auch wenn er nicht genau sagen konnte, auf was.
    »Wir wollen nur unsere bescheidenen Vorräte auffüllen. Und unsere Kamele brauchen Wasser. Seht. Wie euer Pferd.« Langsam deutete er zur Wasserstelle. Der andere Mann ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. »Steckt die Waffe fort. Ich trage keine und die beiden Mädchen ohnehin nicht.«
    Er trat einige Schritte zurück, wandte sich dann halb herum und erschrak, als er sich seinen Begleiterinnen direkt gegenübersah. Neugierig stellten sie sich auf die Zehenspitzen und reckten die Köpfe, um zu sehen, mit wem er gerade noch gesprochen hatte. Er wollte sie zurückscheuchen, besann sich jedoch eines Besseren und schickte sie stattdessen zum Wasserholen. Schmollend musterten sie ihn eine Weile, gaben dann jedoch nach und baten um seine leeren Flaschen am Gürtel.
    Nachdem er sie ihnen überreicht hatte, drehte er sich zurück zu den Fremden. Zwischen den Brauen des bewaffneten Mannes bildete sich eine deutliche Furche, dann senkte er langsam den Schwertarm. Vorsichtig lugte sein Begleiter an ihm vorbei. Und da traf es Musafir.
    Ein Paar silbergrauer Augen musterte ihn aufmerksam aus dem Schatten der Kopfbedeckung heraus. Das Licht streifte sanft die Iriden; etwas funkelte darin, doch der Eindruck schwand zu rasch, um es genauer zu erkennen. Dennoch schwoll Musafirs Herz an. Augenblicklich wollte er mehr erfahren. Mehr sehen.
    Ohne, dass er sich selbst aufhalten konnte, trat er nah an jene Gestalt mit den wundersamen Augen heran und griff nach dem Tuch. Ehe er es jedoch wirklich fassen konnte, packte ihn eine Hand am Arm und riss ihn beiseite, während der verhüllte Fremde einige Schritte zurücktaumelte. Etwas an seinem Gang war merkwürdig und hätte sein Rücken nicht den Stamm der Palme berührt, wäre er rücklings zu Boden gegangen.
    Erschrocken stammelte Musafir Worte der Entschuldigung und wollte sich aus dem harten Griff befreien, doch als er das nächste Mal realisierte, was geschah, fand er sich mit dem Gesicht voran im Sand wieder. Hustend und spuckend versuchte er den Kopf zu drehen, spürte den Schmerz seines auf den Rücken verdrehten Armes.
    Die beiden Mädchen begehrten auf, doch er konnte nicht erkennen, was sie taten. Am Wasser blökte ein Kamel, doch sonst wurde es mit einem Schlag still.
    »Lass ihn!«, rief eine helle Stimme. Es fiel ihm schwer, sich zum Sprecher zu wenden. Der Fremde hielt sein Gesicht noch immer verborgen, doch seine Augen waren weit aufgerissen. Etwas in ihnen sprach von Neugierde, jedoch auch Unsicherheit und - Angst. Musafir blinzelte, als das Funkeln zurückkehrte und wild in dem Grau umherwanderte.
    »Lass ihn«, sprach der Fremde noch einmal, sanfter, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. »Ich bin mir sicher, er wollte mir nichts tun.«
    Der Druck auf ihm ließ nicht nach. »Woher wissen?«, fragte der Begleiter. Ein kratziger Akzent schwang in seinen Worten, der Musafir bekannt vorkam, doch noch immer konnte er kein Bild dazu herbeizaubern.
    »Ich kann es nicht. Doch ich glaube nicht, dass sie mit zwei Mädchen auf der Suche nach uns wären. Oder?«
    Eine weitere Pause entstand, die unendlich lang schien. Zwischen Musafirs Zähnen knirschte es und seine Zunge fühlte sich pelzig an, während die feinen Körnchen in seiner Nase kribbelten. Dann wurde er kurz losgelassen, ehe man ihn unsanft auf die Knie zog. Mehrfach spuckte er aus und klopfte sich den Sand von der Kleidung und aus dem Gesicht. Zögerlich drehte er sich herum, suchte den Blick des Verhüllten. Seine Augen wirkten nun schmaler, feiner, doch huschten sie in ihren Höhlen unruhig umher.
    Waren die beiden auf der Flucht vor jemandem? Er öffnete bereits den Mund, um seine Frage laut auszusprechen, entschied sich jedoch anders. Als er das Grummeln eines Magens laut vernahm, stahl sich ein schwaches Schmunzeln auf sein Gesicht, während er sich den brennenden Arm rieb. Verstohlen legte der Verhüllte die Hand auf seinen Bauch.
    »Unser Lager ist nicht weit von hier«, begann Musafir. »Um unseren guten Willen zu zeigen, könnt ihr gern das Frühstück mit uns teilen.«
    »Safir, ich glaube nicht, dass Elin damit einverstanden wäre«, schnappte eines der Mädchen direkt hinter ihm. Sie hatten sich an seinen Rücken gedrängt und musterten die Fremden nun mit offenem Missmut.
    »Ich bin mir sicher, Elin wird darüber hinwegsehen«, versuchte Musafir die beiden zu beruhigen, während er jeweils einen Arm um ihre Schultern legte. Die Wanderin würde es spätestens, wenn sie dieser wundersamen Augen gewahr wurde. »Also?«, wandte er sich wieder an die Fremden. Eine Weile musterten sie sich schweigend und es war nicht zu übersehen, dass dem Helleren der beiden der Gedanke missfiel. Alles an seinem Körper war angespannt und sein Säbel baumelte offen an seinem Gürtel, die Hand griffbereit am Heft.
    »In Ordnung«, sprach der Verhüllte und nickte schwach. Mürrisch drehte sich sein Begleiter auf den Fersen um und stapfte zum Wasser, um das Pferd einzusammeln.
    Musafir sah ihm nur kurz nach, dann lächelte er dem Gesprächigeren der beiden aufmunternd zu, ehe ihm mitsamt der Mädchen den Rücken zukehrte und ihm winkte, ihnen zu folgen.

    Einmal editiert, zuletzt von Kitsune (5. August 2016 um 15:22)

  • Ein Paar silbern-grauer Augen musterte ihn aufmerksam aus dem Schatten der Kopfbedeckung heraus.

    silbergraue Augen

    8o Endlich, sie haben sich getroffen. Man merkt beim Lesen nicht, dass du dich mit dem Post iwie schwer getan haben könntest, es liest sich geschmeidig wie immer :thumbup: . Ich bin schon gespannt, wie Elin auf die Neulinge reagieren wird. ^^

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

    • Offizieller Beitrag

    Ah sie sind sich also endlich begegnet. Auch wenn Kasim nicht sonderlich begeistert darüber ist, mit den Fremden mitzugeben. Aber das wäre ich wohl auch nicht. Immerhin sind sie auf der Flucht. Zum Glück wissen wir, dass weder von Musafir noch von Elin oder den Mädchen Gefahr droht. ^^
    Ich frage mich nur, ob Elin sich über den Besuch freuen wird. :hmm:
    Ich stimme melli zu, man merkt nicht, dass dir der mittlere Teil schwer gefallen ist. Alles super. :thumbsup:

    LG, Kyelia

  • Kadir atmete tief durch, als er an die panischen Gesichter jener zurückdachte, an denen sie vorbeigeritten(vorbei geritten) waren.

    Zwei sehr gut geschriebene Teile. Die Korrektur stammt aus dem vorletzten Part.
    Du hast wieder sehr detailreich beschrieben, sowohl die Gefühle von Kadir als auch die Umgebung.
    Ich bin mal gespannt wie es im nächsten Abschnitt weiter gehen wird :stick:

    xoxo
    Kisa

  • Ich wollte auch nur kurz mein "gelesen" hier lassen, sonst gibt's kaum etwas zu sagen. Es war mal interessant, die Beschreibung des Prinzen und seines Homies aus anderer Sicht zu erleben.

    "Sehe ich aus wie einer, der Geld für einen Blumentopf ausgibt, in den schon die Pharaonen gepisst haben?"

  • Spoiler anzeigen

    Ich bin mir derzeit mehr denn je unsicher, ob Sternenstaub zum Bereich High Fantasy passt. Je weiter ich mit meiner Planung komme, desto intensiver wird das Gefühl. .__. Gnah. Vorerst weiter im Text.


    Wie ein Sturm fegten die Gedanken durch Kasims Kopf. Seine Fingerspitzen prickelten am weichen Leder der Zügel, als er den Hengst mitsamt Prinzen darauf neben sich führte, dem Fremden namens Safir hinterher ins Ungewisse. Ein letztes Mal warf er einen Blick zurück. Die Mädchen waren mit den Kamelen zurückgeblieben und inzwischen hinter einer Düne außer Sicht geraten.
    Steif saß Kadir auf dem Pferderücken und krallte die Finger in die Mähne des armen Tieres, das gelegentlich mit einem Kopfschütteln und Schnauben protestierte - was den Prinzen wiederum leise zum Jammern brachte, bis sich seine Konzentration wieder darauf legte, nicht herunterzufallen, den Blick eisern nach vorn gerichtet.
    Innerlich seufzte Kasim. Der unvermittelte Sinneswandel seines Freundes missfiel ihm. Es gab keine Erklärung dafür, was er sich erhoffte. Jedes Mal, wenn er versucht hatte, Kadir darauf anzusprechen, war ein zittriger Finger vor seine verborgene untere Gesichtshälfte gewandert.
    Safir drehte sich mehrfach zu ihnen um und ließ sich zu ihnen zurückfallen. Mit gerunzelter Stirn sah er zum Prinzen auf, wandte sich dann zögerlich an Kasim. »Ich habe euch nicht nach euren Namen gefragt.« Er lächelte schwach, wartete allerdings vergebens auf eine Antwort. Er selbst hatte sich bisher nicht direkt vorgestellt.
    Noch einige Male probierte er, sie in ein Gespräch zu verwickeln, gab schließlich resigniert auf und lief ihnen erneut voraus, auf jene Reihe von Zelten zu, die sich seit geraumer Zeit vor ihnen abzeichnete.
    Bevor sie das Lager erreichten, kamen ihnen einige Frauen entgegen. Neugierig musterten sie aus dunklen Gesichtern die Neuankömmlinge. Eine von ihnen löste sich aus der Gruppe; ihre dunkle, knöchellange Robe war an Saum und Ärmeln fleckig und ihr Haar ruhte in einem Knäuel auf ihrer Schulter. Die Arme in die Seiten gestemmt, blieb sie stehen.
    »Habt Ihr meine Mädchen und Kamele gegen ein Pferd und Fremde eingetauscht, Safir?«, rief sie ihnen entgegen, ihr Blick war jedoch auf die Neuankömmlinge hinter dem Angesprochenen gerichtet.
    »Es würde mir im Traum nicht einfallen«, sagte Safir ruhig. »Sie sind noch an der Wasserstelle.«
    Die stämmige Frau trat an ihm vorbei, direkt auf Kasim und das Pferd zu. Er zuckte zusammen, als sie die Hand ausstreckte, doch statt ihn, berührte sie den glänzend braunen Nasenrücken. Mit einem Lächeln streichelte sie das Tier, das kurz schnaubte und dann den Kopf der Berührung zuwendete.
    »Ein schönes Tier. Euer Pferd?«
    Die Worte und ihr rauer Klang waren Kasim so vertraut, dass es einige Momente dauerte, zu realisieren, dass die ältere Frau ihn auf seiner Muttersprache anredete. Mit halboffenem Mund starrte er zu ihr. Ihre Haut und ihr Haar waren zu dunkel für eine Frau seiner Heimat.
    Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu; ihr darauffolgendes Schmunzeln war ein wenig schief, doch in ihren Augen blitzte Humor auf, sodass etwas in seinem Inneren mitschwang. Eine Folge liebevoller Erinnerungen an seine Mutter strömte auf ihn ein, umhüllte ihn sanft, bevor ein Kloß seine Kehle zuschnürte.
    Die Fremde kraulte die Pferdestirn, doch ihr Schmunzeln schwand. Eine Weile betrachtete sie das längliche Gesicht und schüttelte den Kopf. Sanft strich sie über den Hals, wanderte aufmerksam einmal um den Braunen herum, ohne dem Prinzen einen Hauch von Beachtung zu schenken.
    Kadir rutschte derweil mithilfe von Kasim herunter. Tief atmete er durch, obwohl sein ganzer Leib zitterte, als er sich gegen seinen Freund lehnte. Dann verfolgte er unverhohlen mit den Augen die Frau, ohne ein Wort zu sagen.
    »Kein Steppenpferd, aber es ist kräftig. Gut gepflegt. Es scheint in der Wüste geboren.« Sie stand wieder vor ihnen, widmete sich weiterhin ausgiebig dem Hengst, der erneut die Nase gegen ihre Hand stupste.
    Kasim öffnete und schloss den Mund, brachte jedoch keinen Ton heraus. Zu groß war die Faszination. Er spürte, dass mehr hinter ihr steckte als das Wissen seiner Sprache - oder dass er sie überhaupt verstehen würde. Das Misstrauen, das er für den fremden Mann hegte, wollte bei ihr keinen Fuß fassen. Ganz, als wisse sein Herz mehr als sein Verstand. Zeitgleich irritierte es ihn.
    In diesem Moment räusperte sich Safir, meldete sich in der melodischen Sprache der Wüste zu Wort. »Elin, wie wäre es, bei einem Frühstück weiterzusprechen? Sie scheinen nicht viel bei sich zu haben und ich glaube, von Datteln allein sind sie nicht satt geworden.« Er zwinkerte ihnen zu. Wie aufs Stichwort gab Kasims Magen ein leises Grummeln von sich. Sie hatten in der Tat bisher kaum mehr als die frischen Datteln der Oase gegessen, die er von den Palmen heruntergeholt hatte, sehr zum Erstaunen des Prinzen, der überrascht von seinen Kletterkünsten gewesen war. Mit heißen Wangen wandte er sich ab.
    Die Frau namens Elin schenkte ihnen das erste Mal wahre Aufmerksamkeit, begutachtete sie von oben nach unten und schnalzte mit der Zunge. An Kadir blieb sie länger hängen, schien beinahe durch ihn hindurchzusehen, doch schlussendlich drehte sie sich nur um und winkte ihnen, ihr zu folgen, während Safir aufmunternd lächelte.
    Kasim sah zu seinem Freund hinab, dessen Blick sich mit seinem traf. Einen Moment versank er im Grau dieser Augen. Ihn überkam ein plötzliches Sehnen. Das Vibrieren der Phiole an seiner Brust wurde stärker, ebenso wie sein Herzschlag. Er wollte den Prinzen nicht nur stützen, sondern ihn fest in die Arme schließen und nicht mehr loslassen. Seinen Atem an seiner Haut wissen, seine Finger in seinem dichten Haar.
    Er schreckte vor seinen eigenen Gedanken zurück und brachte Abstand zwischen sich und Kadir, der fragend zu ihm aufsah.
    »Worauf wartet ihr?«, rief Elin zu ihnen und blickte über die Schulter zurück. »Eine zweite Einladung gibt es nicht.«
    »Sollen wir folgen?«, raunte Kasim und schaute der Frau nach.
    Der Prinz zuckte nur mit den Schultern. Dann blickte er seinem Begleiter lange schweigend entgegen. »Du hast sie verstanden, vorhin, oder?«
    Zögernd nickte Kasim. »Meine Sprache.«
    »Bringst du sie mir bei?«
    Blinzelnd musterte er Kadir. Das offene Interesse an ihm oder seiner Vergangenheit war nicht ungewöhnlich, doch so etwas hatte er sich bisher nie erbeten. Es wirkte bizarr in ihrer Situation, besonders in der des Prinzen, doch in seinen Worten schwang jener Trotz mit, den Kasim an ihm kannte und mochte.
    Ein Schmunzeln zupfte an seinen Mundwinkeln. Er konnte dem Prinzen endlich etwas zurückgeben. Als Antwort nickte er, schlang dann einen Arm um seine Taille. Dabei versuchte er erfolglos das Hüpfen seines Herzens zu ignorieren.
    Kasim überließ das Pferd einer der Frauen, die sich nun wie eine Meute um sie scharrten. Safir hatte geduldig auf sie gewartet und seinen Kopfschal mittlerweile abgenommen. Es war das erste Mal, dass der junge Mann ihn richtig beäugte. Er war ein wenig kleiner als der Prinz, besaß jedoch den gleichen dunklen Hautton und seine zu einem Knoten verworrenen Haare waren rabenschwarz und kraus. Ein schiefes Grinsen zierte seine schmalen Lippen, als er bemerkte, dass er genau studiert wurde; nicht nur von Kasim.
    »Ihr braucht keine Angst haben. Elin mag ruppig erscheinen, doch sie ist eine herzensgute Wanderin, auch wenn sie gern das Gegenteil behauptet«, sagte Safir, als er neben ihnen ins Lager lief, dessen Zelte die Farbe von Sand hatten und meistens kaum breiter waren als fünf Schritte.
    »Gibt es hier nur Frauen?«, fragte Kadir und huschte mit seinen Blicken umher. Das Lachen der Frauen umhüllte sie, ebenso wie das leise Tuscheln hinter ihrem Rücken, das von bloßer Neugierde zeugte, wenn man genauer lauschte.
    »Nun, ja, wie Ihr seht«, bemerkte Safir und kratzte sich verstohlen an seiner von Bartstoppeln schattigen Wange. »Die Wanderinnen dulden lediglich männliche Gesellschaft.«
    »Ein Paradies für Ranya«, murmelte der Prinz. Kasim runzelte die Stirn. Ihm entging das traurige Flüstern in seiner Stimme nicht. Schwach entsann er sich, den Namen ein-, zweimal aus seinem Munde gehört zu haben, konnte ihm jedoch kein Gesicht zuordnen. Zu fragen getraute er sich nicht.
    In der Mitte des Lagers befand sich eine erkaltete Feuerstelle, auf der noch vereinzelte Kochtöpfe verteilt waren. Die meisten der Frauen schienen rasch das Interesse an ihnen zu verlieren, ein Teil lungerte jedoch weiterhin in ihrer Nähe, als sie neben Elin erneut innehielten.
    »Eine Bedingung hätte ich noch«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust, bevor sie zu Kasims sicher verstauten Säbel nickte.
    Der jüngere Mann verstand, schämte sich zeitgleich dafür, nicht selbst darauf gekommen zu sein, die Waffe abzunehmen. Das Gewicht an seiner Seite war in den letzten Wochen zu vertraut geworden.
    Er gab die Waffe einer der Fremden, hoffte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Sein Verstand schimpfte, natürlich war es richtig; am Feuer von Gastgebern war man unbewaffnet. Das war in der Wüste wie in der Steppe.
    Zufrieden nickend, breitete Elin die Arme aus und deutete einem jungen Mädchen, ein paar Platten mit Speisen zu füllen, unter denen sich vor allem getrocknete Früchte und sogar etwas Fleisch fanden, neben einem ziemlich klebrigen Brei und etwas kaltem Brot. Kasims Mund füllte sich schmerzhaft mit Wasser – alle Bedenken beiseite – und sein Magen krampfte, nachdem er sich gemeinsam mit dem Prinzen auf einer im Sand ausgebreiteten bunten Decke niedergelassen hatte. Dankend nahmen sie die Teller an.
    Doch statt anzufangen, zauderte Kadir und starrte eine Weile auf sein Essen hinab. Schließlich seufzte er kaum hörbar, bevor er das Tuch unter sein Kinn schob.
    Ächzend setzte sich Elin neben Kasim, Safir platzierte sich neben den Prinzen und zog die Beine zu einem Schneidersitz heran. Während sie schweigend und zurückhaltend ihr Frühstück aßen, holte die Wanderin eine Pfeife hervor und stopfte sie.
    »Es gilt als höflich, in meinem Lager die Namen zu teilen«, sagte sie leise, ohne sich von ihrer Arbeit abzuwenden.
    Kauend musterte Kasim den Prinzen von der Seite, der in seinen Bewegungen stockte.
    »Vor allem, wenn ihr das Essen mit uns teilt«, fuhr Elin unbeirrt fort.
    Ruhe legte sich über sie und einige Zeit war nur das Flüstern der anderen Frauen in den nahen Zelten zu hören. Safir räusperte sich, doch es war der Prinz, die Stimme erhob.
    »Nadim«, log er und starrte auf sein Essen.
    Elin hielt kurz inne, bevor sie die überflüssigen Krümel von ihrer Pfeife blies. »Und Ihr?«, fragte sie an Kasim gewandt.
    Ihm sackte das Herz tiefer. Der Prinz hatte einen falschen Namen genannt und wahrscheinlich wäre es besser, es ebenfalls zu tun, doch gleichzeitig widerstrebte es ihm, sie anzulügen. »Kasim.« Es war das, was sein Innerstes für richtig hielt.
    Die ältere Frau neben ihm nickte langsam und legte die Pfeife in ihren Schoß. »Nun, ihr solltet euch bewusst sein, dass ich Geschichten erwarte als Gegenleistung.« Ihre Mundwinkel zuckten bei den Worten. »Safir, vielleicht solltet Ihr eines Eurer Bücher holen, um nichts zu verpassen?«
    Der jüngere Mann zuckte zusammen, erhob sich nach einigem Zaudern jedoch und verschwand in einem der Zelte. Nachdenklich blickte Kasim ihm nach.
    »Wir sollten Eure Gastfreundschaft nicht allzu lang ausreizen«, bemerkte Kadir leise.
    Elin winkte ab. »Die Wüste ist trostlos und unfreundlich jenen gegenüber, die nicht auf sie vorbereitet sind. Gesellschaft ist etwas Kostbares und Gold für den Verstand.«
    »Ich lebe bereits mein ganzes Leben in der Wüste«, murmelte er und schob die restlichen Datteln auf seinem Teller hin und her. Seine Züge waren mit einem Mal verbissen.
    Sie warf ihm einen langen Blick zu. »Ihr mögt in einem Teil der Wüste gelebt haben, Nadim«, begann sie, »doch Ihr habt sie nie wirklich erlebt.«
    »Woher wollt Ihr das wissen?«, schnappte der Prinz mit einem Mal, wandte sich zu ihr herum und warf dabei beinahe das Essen in den Sand.
    Elin blieb ruhig, sprach unbeeindruckt weiter. »Eure Blicke und Euer Gebaren verraten mehr als Ihr denkt.« Damit widmete sie sich wieder ihrer Pfeife. Erst als Safir zurückkehrte und sich erneut neben Kadir setzte, schenkte sie ihnen weitere Aufmerksamkeit.
    Kasim rutschte hin und her, beobachtete seinen Freund genau, der sich an keinem der leichten Gespräche beteiligen wollte, selbst nicht, wenn er direkt angesprochen wurde. Seine Unterkiefer mahlten und er atmete schwer. Sein restliches Mahl rührte er nicht mehr an und Kasim war sich sicher, dass er aufgesprungen wäre, wenn er es so einfach gekonnt hätte.
    Aus Rücksicht ihm gegenüber, beantwortete er die Fragen der anderen nur spärlich. Mit der Zeit bemerkte er, dass keine einzige dahin führte, woher sie kamen, was sie allein, nur mit einem Pferd und keinerlei Proviant außer einer zerbeulten Lederflasche in die Wüste trieb. Es erleichterte ihn, denn er hätte nicht gewusst, was er ihnen erzählen sollte. Was er durfte. Keiner von beiden hatte sich ausgemalt, was sie anderen Leuten berichten würden.
    Nur eines war Kasim bewusst: Der Prinz wollte über sich selbst kein Wort verlieren. Und er begrüßte das.

  • Zitat von Kitsune

    Ich bin mir derzeit mehr denn je unsicher, ob Sternenstaub zum Bereich High Fantasy passt. Je weiter ich mit meiner Planung komme, desto intensiver wird das Gefühl.

    Welcher Bereich sollte denn passender sein?

    Ich war und bin etwas erstaunt, dass die Gang um Elin einfach allen vertraut xD Aber die Dame wird schon ihre Gründe haben und wegen ihrem Alter andere bestimmt gut einschätzen können. Es war also sehr ansprechend zu lesen, wie üblich. Es ist immer wieder schön, wenn man voll in die Atmosphäre eintauchen kann, was in dieser Geschichte sehr oft der Fall ist. Zudem ist das Wüstenszenario für mich noch sehr unverbraucht :thumbsup:

    "Sehe ich aus wie einer, der Geld für einen Blumentopf ausgibt, in den schon die Pharaonen gepisst haben?"

  • Elin spricht Kasims Muttersprache? Das hat mich echt überrascht. Bis jetzt weiß ich ja recht wenig von Kasims Volk und hoffe natürlich, bald mehr davon zu erfahren :thumbsup: .

    Ich bin mir derzeit mehr denn je unsicher, ob Sternenstaub zum Bereich High Fantasy passt. Je weiter ich mit meiner Planung komme, desto intensiver wird das Gefühl.

    Es ist eigentlich egal, wo die Geschichte steht - Hauptsache, sie steht. :D
    Da sie gut ist wird sie überall ihre Leser finden. ;)

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

    • Offizieller Beitrag

    Gut, das Elin die beiden so freundlich aufgenommen hat und ihnen sogar noch etwas zu Essen gibt. Und die Frau spricht sogar Kasims Sprache. Das hat mich überrascht und ich frage mich, wie es dazu kommt. Vielleicht ist sie als Wanderin auch schon in das Land gekommen, woher Kasim kommt. Auf die Lösung bin ich gespannt. ^^
    Ich mag die kleine Gruppe, Elin mit ihren Frauen und Safir. :)

    LG, Kyelia

  • Spoiler anzeigen

    Welcher Bereich sollte denn passender sein?

    Wenn ich das wüsste, würde ich mir die Frage nicht stellen. xD'
    Nah, aber wenn ihr meint, dass es schon passt, versuche ich das meinem Hirn auch noch klarzumachen. Ich tue mich ja ohnehin schwer, meine Sachen irgendwo einzuordnen.

    Nun denn, Kapitel 6 neigt sich auch schon wieder dem Ende entgegen.


    Mit der Zeit fühlte sich Kasim stetig wohler in Elins Gegenwart, wenngleich das nicht für den Prinzen zu gelten schien. Seine Neugierde war verschwunden; missmutig ließ er immer wieder den feinen Wüstensand durch seine Hände rieseln. Safir versuchte unterdessen verzweifelt, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Kadir hüllte sich dadurch nur umso verbissener in Schweigen, wie sein Freund mit einer seltsamen Genugtuung bemerkte.
    Kasims Zutrauen wuchs, als die ältere Frau begann, ihn Dinge auf seiner Sprache zu fragen. Es klang bei ihr so flüssig, auch wenn ein beschwingter Akzent mitschwang, der deutlich machte, dass die Melodie der Wüste in ihrer Stimme nicht auszumerzen war.
    »Woher könnt Ihr es?«, fragte er mit altgewohnten Worten.
    Die Wanderin lächelte und schirmte ihr Gesicht vor der Sonne ab, die sich vorwitzig langsam über die Zeltdächer schob. Bald würde die Hitze des Tages selbst im Schatten der Zelte unerträglich werden. Eine Vielzahl der Frauen im Lager hatte es bereits ins Innere getrieben. Kasim hoffte, sich noch etwas länger mit Elin unterhalten zu können.
    »Lang vor Eurer Zeit wanderte ich allein, auf der Suche nach dem Schicksal. Vor allem nach meinem.« Seufzend fegte sie einige Krümel von ihrer Robe. »Es trieb mich hinaus, durch die Steppen, hin zu den Bergen und zurück, durch mehrere Ländereien und Ortschaften.«
    Kasim hielt den Atem an, bevor es aus ihm herausplatzte: »Die Berge sind mehrere Wochen von den Ausläufern der grünen Länder entfernt.«
    Elin nickte. »Dieser Tage würde es mich aufhalten, doch nicht in meinen jungen Jahren.«
    »Habt Ihr es gefunden? Das Schicksal?«
    Leise lachte sie auf, deutete dann mit einer Hand um sie herum. »Es ist überall, mein junger Reiter. In jeder Pore unseres Seins.«
    Einen Moment dachte er darüber nach. »In meiner Familie erzählt man sich ähnliches. Ismet sei ein Teil von jedem, doch das Wesen selbst sei gespalten, erscheine in unterschiedlichsten Formen.«
    »Gespalten?«
    Kasim zuckte die Schultern. »Mein Großvater sagte immer, Ismets Einfluss sei deswegen so viel größer als jener der anderen, weil es als einzig göttliches Wesen vollständig vom Himmel fiel – und zerbarst wie Glas.«
    Die ältere Frau schwieg. Leise lachend schüttelte Kasim den Kopf. »Mein Großvater erzählte allerlei merkwürdige Geschichten.«
    »Solche Geschichten sind oft jene, welche die meiste Wahrheit enthalten. Gerade die Alten wussten das.«
    Schwach schmunzelte Kasim, doch das Herz wurde ihm schwer, als er daran dachte, wie elend sein Großvater gestorben war, erstickt an seinem eigenen Blut. Seine Hand wanderte zu der Wölbung unter seiner Kleidung, schloss sich sanft um die Phiole. Das Pochen im Inneren beruhigte ihn ein wenig, vertrieb die aufgewühlten Gedanken und Erinnerungen.
    »Eines verstehe ich nicht«, überlegte er nach einigen stillen Momenten laut. »Wie konntet Ihr Euch sicher sein, dass ich Euch verstehe?«
    Elin zuckte die Schultern, zog dann an ihrer mittlerweile entzündeten Pfeife und stieß den Rauch aus. »Konnte ich das? Jedoch – Ihr erinnert mich an einen jungen Reiter, der mir auf meinen Reisen durch die Steppe begegnet ist. Er brachte mir Eure Sprache bei.« Sie musterte ihn von der Seite. »Ihr habt dasselbe Profil, seine helle Haut und das Haar von Sand, das ich an ihm so mochte.« Sie kicherte leise. »Er erzählte ebenfalls gern Geschichten. Wenn ich mich recht erinnere, meinte er, das Schicksal verstecke sich direkt in meinem Herzen.«
    »Ihr klingt, als wäret Ihr verliebt gewesen.«
    Ein verträumtes, halbseitiges Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. In ihren Augen schimmerte etwas, doch sie drehte sich zu hastig fort, um sicher zu sein, was es war. Taktvoll senkte Kasim den Blick; er musste nicht sehen, um zu verstehen.
    »Lächeln bringen Herzen zum Schmelzen, sagte er immer«, flüsterte Elin und richtete ihr Augenmerk auf einen Punkt am wolkenlosen Himmel. Mit einem lauten Seufzen schüttelte sie die offensichtlichen Erinnerungen von sich. »Ich konnte mir nicht sicher sein, doch als ich Euch sah, überkam es mich.« Wieder gluckste sie. »Und nun sitzen wir hier.«
    »Warum vertraut Ihr uns?«
    »Oh, ich vertraue euch keineswegs.« Ihr Blick huschte zu Kadir. »Doch ich bin von Natur aus neugierig. Außerdem solltet ihr uns nicht unterschätzen, nur weil wir Frauen sind.«
    »Das tue ich nicht. Meine Mutter ist – war ...« Er hielt inne, atmete tief durch und fuhr dann fort. »Sie war die Herrin über das Vieh und die Pferde; sie hat nicht nur meinen Brüder und mir oft mit der Schöpfkelle gedroht. Mein Vater behandelte sie immer wie eine Königin.«
    »Niemand ist aufgrund seines Geschlechtes, das Ismet für uns vorsah, schlechter oder besser als ein anderer. Unter Ismet sind wir alle gleich.«
    Kasim lächelte ihr entgegen. »Ein schöner Gedanke.«
    »Wenn es jeder so sehen würde«, seufzte Elin und paffte wieder an ihrer Pfeife.
    »Mir ist heiß«, meldete sich Kadir mit einem Mal zu Wort. Beide wandten sich zu ihm, doch er hob den Blick nicht von seinen Händen, die er tief im Sand vergraben hatte. Safir zuckte hinter ihm resigniert die Schultern und widmete sich dann wieder seinem Buch.
    »Ihr könnt Euch in meinem Zelt ausruhen«, schlug Elin nach kurzer Überlegung vor.
    »Warum sollte ich?«, fragte der Prinz und reckte das Kinn vor. Kasims Stirn legte sich in Falten. Etwas stimmte nicht, doch er konnte nicht sagen, was es war.
    »Sie können auch mein Zelt nutzen, Elin. Ich werde in der Zwischenzeit nach den Kamelen sehen.« Safir rappelte sich auf und klopfte sich den Sand von seiner Kleidung. Er wollte Kadir die Hand reichen und ihm aufhelfen, doch dieser starrte nur auf die langen Finger des anderen, bis Safir seufzend aufgab und ging.
    »Was ist los?«, fragte Kasim den Prinzen, spürte, wie seine Zunge sich beinahe verknotete bei den weiterhin schwerfallenden Worten der Wüste.
    Der Prinz warf ihm einen finsteren Blick aus schmalen Augen zu. »Was los ist? Ich hocke hier untätig herum, während jemand auf der Suche nach mir ist!«
    Kasim behielt für sich, dass er selbst es gewesen war, der Safir folgen wollte. Dennoch verstand er seine Ungeduld.
    »Jetzt weiterzureisen wäre Selbstmord. Euer Pferd würde ebenfalls nicht weit kommen«, bemerkte Elin und ignorierte gekonnt das wütende Funkeln, dass ihr aus der Richtung des Prinzen entgegenschlug. Stattdessen beobachtete sie den Himmel eine Weile, bevor sie mit der Zunge schnalzte und nickte. »Ihr solltet weiter, wenn die Sonne untergeht, wenn es euch so ruhelos vorantreibt.«
    »Wir sollten Eure Freundschaft nicht so lange strapazieren«, sagte Kasim in seiner eigenen Sprache.
    Die Wanderin schüttelte den Kopf. »Ich kann euch nicht guten Gewissens ziehen lassen, wenn ihr das Essen mit mir geteilt habt.« Sie lächelte aufmunternd in ihre Richtung. »Nehmt Safirs Angebot an und ruht euch in seinem Zelt aus.« Sie deute zu jener Behausung, die etwas Abseits der anderen am Rande des Lagers aufgeschlagen worden war. »Ich bitte euch darum.«
    Kasim bedankte sich leise und erhob sich, half dann dem Prinzen auf, dessen Muskeln angespannt waren, als er gegen ihn schwankte. Schweigend führte er ihn von der Feuerstelle und der Wanderin fort.
    Sie waren gerade außer Hörweite, als Kadir laut schnaubte. »Was sollte das?«
    Irritiert blinzelte sein Freund. »Was?«
    Mit der freien Hand fuchtelte der Prinz zurück. »Das! Es ging um ein Frühstück, nicht, dass du ihr deine Lebensgeschichte erzählst.«
    Kasim versteifte sich. »Habe ich nicht.«
    Ruckartig hielt Kadir inne und brachte sie beinahe gemeinsam aus dem Gleichgewicht. Mit verkniffener Miene sah er zu ihm auf. »Woher soll ich das wissen? Ich habe kein Wort von dem verstanden, was ihr geredet habt!«
    Es versetzte ihm einen Stich, als ihm bewusst wurde, dass der Prinz ihm anscheinend nicht so vertraute wie erhofft. Doch er blieb ruhig und versuchte mit gebrochenen Worten zu erklären, dass er sich nicht zu sorgen brauchte.
    Wütend schob Kadir sich von ihm, riss sich den Kopfschal vom Kopf und warf ihn achtlos beiseite. Er versuchte einige Schritte allein zu gehen, knickte mit seinem schlechten Bein um und sank keuchend in den Sand, bis er seitlich zum Liegen kam. Kasim blieb einen Moment das Herz stehen; er wollte ihm wieder aufhelfen, doch sein Freund ergriff eine Handvoll Sand und warf sie ihm entgegen. Dann rührte er sich nicht mehr, kämpfte sich nicht einmal auf die Ellenbogen.
    Zögernd kniete sich Kasim neben ihn, zuckte jedoch davor zurück, ihn an den bebenden Schultern zu berühren.
    »Was tue ich hier überhaupt?«, fragte Kadir gedämpft und zog die Nase hoch. »Was tue ich hier?« Wieder und wieder stellte er dieselbe Frage, bis seine Stimme heiser wurde. Kasim konnte ihm keine Antwort geben. Es zehrte an ihm, ihn so zu sehen. Als wäre sein Stolz verpufft, weggefegt vom Wind.
    Schließlich fasste er sich ein Herz und versuchte den Prinzen aufzusetzen. Der wehrte sich dagegen, wollte die Hände von sich schlagen und kratzte ihn mit seinen kurzgeschnittenen Nägeln. Kasim verzog keine Miene, packte ihn an den Handgelenken und schüttelte ihn kräftiger als beabsichtigt. Es zeigte Wirkung; sein Freund versteifte sich und starrte mit aufgerissenen Augen zu ihm. Seine Wangen waren feucht und sein Haar klebte an seiner Haut, während seine Nase lief. Einige Zeit musterten sie sich gegenseitig, bis Kadir den Blick abwandte.
    »Sie werden uns nicht finden, oder? Harun wird nicht kommen.«
    Der junge Reiter schwieg. Zittrig atmete sein Gegenüber ein, senkte seine Hände, deren Gelenke Kasim noch immer fest umklammerte.
    »Er wäre längst aufgeschlossen«, flüsterte Kadir. »Er hat mich immer gefunden, warum sollte er es jetzt nicht tun?«
    Langsam lockerte der Reiter seinen Griff. Dann nahm er ihn einfach in die Arme, saß noch eine lange Zeit so mit ihm da, bis sie das laute Röhren der Kamele hörten, die sich dem Lager langsam näherten. Wortlos half er dem Prinzen auf, trug ihn halb die letzten Schritte zum Zelt und legte ihn im Inneren auf die Felle und Decken. Beinahe augenblicklich zog Kadir die Beine heran, die Arme darum geschlungen, kehrte ihm den Rücken zu und gab sich rasch seiner Erschöpfung hin.

    • Offizieller Beitrag

    Ein schöner Teil, in dem man auch etwas über Kasims Hintergrund erfährt, zwar nicht viel aber doch genug. Eine ausgewogene Menge, bei der auch Elin mitreden konnte. Beide haben dadurch mehr Tiefe bekommen. ^^
    Ich kann sogar Kadirs Gedanken nachvollziehen. Er weiß ja immer noch nicht so recht, was los ist, dann die Erkenntnis, dass Harun und die anderen wohl nicht aufholen werden, und das Gespräch zwischen Elin und Kasim, bei dem er kein Wort verstanden hat ... das alles muss ihn wirklich mitnehmen und ich auch glaubhaft rübergebracht. Verständlich, dass es ihm irgendwann zu viel wird. :hmm:
    Vielleicht hilft etwas Schlaf, um alles zu verarbeiten. Denn irgendwem muss er vertrauen und Kasim ist dafür sicherlich kein schlechter Kandidat. ^^

    LG, Kyelia

  • Spoiler anzeigen

    Ich nutze gerade meine Schreibwut, um rasch zu posten, weil ich nicht sagen kann, wie es bei mir die nächsten Wochen aussehen wird, vor allem mit Internetzugang. Geschrieben wird trotzdem, aber es wird wahrscheinlich wesentlich langsamer vorangehen. Das nur als Vorwarnung. :/

    - 7 -


    Rufe hallten durch Alsahar, verteilten sich schallend zwischen den Gassen, über die Straßen hinweg, bis in jedes Viertel. Den wütenden Feuern der letzten Tage war endlich Einhalt geboten worden und das große Aufräumen begann; letzte Rauchschwaden trübten an manchen Stellen noch den Blick auf den wolkenlosen Himmel.
    Eine gewisse Aufregung hielt an. Die Kunde vom Tod des Königs hatte sich wie eine Seuche verbreitet. Raunendes Bedauern, das sich keiner traute laut zu äußern, wurde von jenen übertönt, die den Göttern dankten und mit ihrem neuen Herrscher endlich auf Besserung hofften.
    Etwas dämpfte die Freude jedoch; besonders im noblen Viertel vor dem Palast, das am stärksten von den merkwürdigen Bränden betroffen war, konnte sie keinen Fuß fassen. Der neue Herrscher war unauffindbar. Unter der Bevölkerung wurde die Forderung laut, ihn endlich auf dem Versammlungsplatz vor den Palastmauern zu präsentieren, ihn als König auszurufen und damit zu beweisen, dass er existierte. Die Stadt- und Palastwache hatte alle Hände voll zu tun, die aufgeregte Menge, die sich auf den Plätzen und Basaren versammelte, zu beschwichtigen und zur Geduld zu ermahnen.
    In den Schatten lauerten derweil diejenigen, die einen feigen Mord hinter dem plötzlichen Tod des Königs vermuteten. Unter ihnen lungerten auch jene, die es schlicht besser wussten. Doch ihre Zahl war zu gering, um sich Gehör zu verschaffen und nicht von den Wachen in die unterirdischen Zellen des Palastes gebracht zu werden.

    Ranya sah vorsichtig um eine Häuserecke. Bereits seit Stunden beobachtete sie die ausgebrannte Villa auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Aus dem Schatten ihrer Kapuze heraus beäugten sie die Männer, Frauen und Kinder in abgetragener Kleidung, wie sie Dinge aus dem Inneren trugen oder sich gegenseitig durch die zerstörten Fenstergitter reichten.
    Alles, was den Brand einigermaßen unbeschadet überstanden hatte, wechselte den Besitzer. Vor allem Schmuck, Truhen und Kästchen, hier und da vereinzelte Bücher und Schriftrollen. Ranyas Magen verkrampfte sich, als sie den blinden Sinan in seinen staubigen Roben entdeckte, der mit gierigen, dürren Händen nach allen Schriftstücken griff, für die andere keine Verwendung hatten. Ohne sie genauer zu prüfen, reichte er sie seinem großgewachsenen Assistenten weiter, der es mit verbissener Miene in einem Wagen verstaute. Wenigstens der junge Mann schien Bedenken zu hegen, ob es richtig war, die Toten zu bestehlen.
    Die Wache hatte ein blindes Auge entwickelt, während die unteren Bewohner Alsahars sich überall aus den verlassenen Häusern der Ranghöchsten das nahmen, was sie brauchten – oder zu Geld machen konnten.
    Es schnürte ihr die Brust zu, als eine ältere, gebeugte Frau einige von Ruß geschwärzte Puppen im Arm heraustrug. Ihr folgte ein ergrauter Mann, und Ranya erkannte das krause schwarze Haar der Lieblingspuppe ihrer kleinsten Schwester, die gerade einmal sieben werden durfte. Er warf die Puppe achtlos auf einen bereits mit anderem Spielzeug gefüllten Karren.
    Fahrig wischte sich Ranya über die Wangen. Die verbrannten Leichen ihrer Familie waren noch nicht einen Tag geborgen. Wie Schlachtvieh hatten Männer der Stadtwache sie laut plaudernd auf einen Wagen zu den anderen leblosen Körpern aufgeladen.
    Ranya schmeckte ihre Übelkeit, als sie versuchte die Bilder zu verdrängen, die sich ihr geboten hatten. Über all diesen lagen ihre Schuldgefühle, weil sie nicht bei ihnen gewesen war. Warum war sie an diesem Tag noch einmal zum Palast gegangen, obwohl ihr Vater eindeutig gehofft hatte, sie würde sich etwas zu ihm setzen? Man hatte sie nicht einmal hereingelassen. Selbst ihr Schleichweg war bewacht und somit unzugänglich gewesen.
    Wenig später war die Hölle losgebrochen – und sie fand sich mittendrin. Hilflos war sie zwischen aufgebrachten Meuten getaumelt, hörte die Schreie und Hilferufe, das panische Wiehern von Pferden, bis sie einen Eimer Wasser in die Hand gedrückt bekam. Als sie jedoch mit Schrecken erkannte, wie sich das Feuer nur stärker entfachte, sobald es mit Wasser in Berührung kam, hatte sie den Eimer fortgeworfen und nach Decken gebrüllt. Verzweifelt hatte sie nach einem auf dem Boden liegenden Tuch gegriffen und sich schließlich auf den Jungen in Dienstkleidung geworfen, dessen Ärmel Feuer gefangen hatte.
    Erneut schob sie die Erinnerungen beiseite, blinzelte Tränen fort und atmete tief durch. Sie war zu spät gewesen und war nicht einmal in die Nähe ihres Hauses gekommen, um zu helfen.
    Einen Moment beobachtete sie noch das gegenüberliegende Treiben, umklammerte den Siegelring ihres Vaters fester. Es war purer Zufall gewesen, dass sie ihn gefunden hatte. Als sie vergangene Nacht versuchte, sich zu überwinden und ins Haus zu gehen, hatte sie ihn entdeckt. Silbern funkelnd im Schein einer einsamen Lampe, lag er direkt unter dem vergitterten Fenster neben dem Eingang.
    Nun kehrte Ranya ihrem Elternhaus ein letztes Mal den Rücken zu und eilte den Weg hinab.

    Rasselnd scharrte die Kette über den blanken Stein, als Harun sein Bein ausstreckte. Einige Male schloss er seine Hände zu Fäusten und entspannte sie wieder. Das Reiben der gusseisernen Fesseln an seinen Gelenken war nervenaufreibender als die Dunkelheit, die ihn umgab.
    Seine finstere Zelle war klein. Wenn er mühsam aufstand, konnte er gerade einmal drei Schritte gehen, bevor seine ausgestreckten Finger gegen den kalten Stein stießen. Doch er hatte sein Gefängnis für sich allein, anders als die armen Seelen, deren gequältes Stöhnen er selbst durch die versperrte Tür hindurch hören konnte. Der Geruch von verbranntem Fleisch und notdürftig versorgten, offenen Wunden hing in der Luft.
    Die unterirdischen Zellen waren voller denn je. Eine Vielzahl davon bevölkerten gefangene Wachen, die überlebt und sich nicht ergeben hatten. Doch was war dieses Glück wert, wenn ihnen ohnehin der Galgen drohte, sofern sie nicht vorher an ihren Verletzungen krepierten?
    Harun atmete tief durch und konzentrierte sich auf den schmalen Spalt unter der soliden Holztür. Seit Stunden – oder gar Tagen? - huschte kaum ein Schatten über den Streifen dumpfen Lichtes.
    Seine Gedanken schweiften zum Prinzen. Er hatte ihn im Stich gelassen. Nun war er auf sich allein gestellt, und obwohl Kadir nicht auf den Kopf gefallen war, wusste er nichts vom Leben außerhalb des Palastes oder gar jenseits der Mauern Alsahars. Der Hauptmann konnte nur hoffen, dass sein in Kasim gesetztes Vertrauen Bestand hatte. Was war nur in ihn gefahren, den Jungen gemeinsam mit dem Thronerben fliehen zu lassen?
    Wahrscheinlich, weil sie so eine bessere Aussicht auf Erfolg besaßen, denn Harun hatte geahnt, dass er ihnen nicht würde folgen können.
    Sie waren direkt in eine Falle gelaufen, kurz nachdem er das Pferd mit dem Prinzen darauf losgeschickt hatte. Es war ihm zuwider gewesen, die Waffe gegen seine eigenen Männer zu erheben, doch in ihren dunklen Gesichtern war nur wilde Entschlossenheit zu lesen gewesen, alles dafür zu tun, jene aus dem Weg zu räumen, die ihrem Handeln nicht zustimmten. Oder besser gesagt – Galibs Handeln.
    Grunzend schnaubte Harun. Die alte Eule hatte noch in jener Nacht die Führung im Palast übernommen, hatte sich zum Vertreter des Prinzen ernannt, bis dieser gefunden und zurückgebracht wurde. Er drohte offen und ließ durch die Ausrufer des Palastes verkünden, dass jeder mit dem Tode gestraft werde, der sich gegen die Amtseinsetzung Kadirs widersetzte.
    Gegenwind hatte er kaum zu erwarten, nur das Misstrauen schlug ihm wohl entgegen, weil der Prinz für das normale Volk in den letzten Jahren zu einem Mythos verkommen war.
    Schritte und das Klimpern von Schlüsseln rissen ihn aus seinen Gedanken. Er versteifte die Schultern, als es im Schloss der Tür kratzte, bevor diese mit einem Ruck aufgerissen wurde. Zwei Männer drängten sich am Eingang, während zwei weitere die Zelle betraten und sich vor dem sitzenden Hauptmann aufstellten. Einer von ihnen hielt eine Lampe in den Händen. Harun hob die Hände, um seine Augen vor dem Licht abzuschirmen.
    Er blinzelte zu dem Jüngeren der beiden auf, der über seinem hellgrünen Kaftan an der linken Brust das silberne Abzeichen des Hauptmannes trug: eine hinter Mauern aufragende Sonne, deren einzigen drei Strahlen aus gebogenen Klingen bestanden.
    Haruns Mundwinkel zuckten. Arin. Er kannte den jungen Gardisten gut. Seine lauernde Haltung ihm gegenüber war ihm nie entgangen, ebenso wenig wie sein gieriger Blick auf jenes Abzeichen, das nun seine Brust zierte. Er hatte den Rang erhalten, den er sich seit Jahren ersehnte. Harun hatte gehofft, dass sich sein Ehrgeiz mit den Jahren positiv auf ihn auswirken würde, doch seine spitze Zunge und sein unfreundliches Verhalten hatten den älteren Mann immer davon abgehalten, ihm einen verantwortungsvolleren Posten zu geben. Er hatte ihn nicht einmal in die Nähe des Prinzen gelassen.
    »Steht auf«, sagte Arin barsch und beobachtete mit schmalen Augen, wie sein ehemaliger Hauptmann sich ächzend auf die Beine stemmte und ihm schließlich die gefesselten Hände entgegenstreckte. Arin nickte dem anderen Mann zu und nahm die Lampe entgegen, als der Gardist vortrat.
    »Ist es das, was ihr wollt?«, raunte Harun seinem Gegenüber zu, der die Kette an seinen zusammenhängenden Handfesseln löste. Zögernd sah er von seiner Arbeit auf, konnte dem Blick seines einstigen Oberen jedoch nicht standhalten.
    »Es ist zum Besten aller, Hauptmann«, raunte der Gardist leise.
    Beinahe hätte Harun laut gelacht. »Zu wessen Besten? Eurem? Oder Galibs?«
    Doch der Mann vor ihm schwieg, senkte den Kopf ein wenig und trat mit der rasselnden Kette beiseite. Arin griff nach dem Balken, der die Fesseln nahtlos miteinander verband und zog kräftig daran, sodass Harun einen Schritt nach vorn machen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Eine vorwitzige Locke fiel ihm dabei in die Stirn und das verhaltene Schmunzeln schwand aus seinem Gesicht. Stattdessen starrte er finster in das schiefe Grinsen Arins.
    Dieser genoss es sichtlich, ihn in gekrümmter Haltung vor sich zu sehen. »Euer Galgen wartet, Harun, und mit ihm eine tobende Menge, die es nach dem Tod von Verrätern dürstet.«

    • Offizieller Beitrag

    In der Stadt geht es ja ziemlich drunter und drüber, nach einem Stadtbrand aber auch nicht verwunderlich. :hmm:
    Und irgendwie schmerzt es mich, dass Ranya dabei zusieht, wie die ganzen Leute die Sachen aus dem Haus stehlen und die Toden somit nochmal mit den Füßen treten. Sie hat ja wirklich alles verloren und ich frage mich, was sie jetzt machen wird? Ihre Gedanken hast du jedenfalls sehr schön aufgefasst und rüber gebracht. Ich leide mit ihr. ;(
    Und Harun ist also wirklich gefangen genommen worden? Das wundert mich ehrlich gesagt nicht. Es wäre verwunderlicher gewesen, wenn er es wirklich geschafft hätte, zu fliehen und den Prinzen einzuholen. Dass er nun aber gehenkt werden soll, finde ich nicht so dufte... stirbt er jetzt wirklich, oder gibt es noch jemanden, von dem er Hilfe erwarten kann? Ich hoffe es doch, aber leider fällt mir da gerade überhaupt niemand ein. :/ Ich hoffe also, dass dein Schreibrausch noch etwas andauert. xD

    LG, Kyelia

  • Aufrecht und erhobenen Hauptes trat Harun aus seiner Zelle, wollte Arin nicht die Befriedigung verschaffen, ihn zu seinen Füßen knien zu sehen. Mit nach vorn gewandtem Blick ging er den schmalen Gang entlang, dessen spärlich verteilte Fackeln den Boden vor ihnen kaum erhellten. Kühle Luft streifte seine bloßen Arme, ließ die Schatten um sie herum tanzen.
    Eisern versuchte er die Hilferufe und das Klagen jener Männer auszublenden, die sie zurückließen, doch sie verfolgten ihn den Weg hinauf, der abrupt an einer steilen Treppe endete. Harun atmete tief durch und nahm die ersten Stufen, doch Arin bohrte unvermittelt die Faust in seinen Rücken. Der einstige Hauptmann stieß sich die Zehen und geriet ins Straucheln. Mit gefesselten Händen war es unmöglich, den Sturz ohne Einsatz der Ellenbogen abzufangen. Er schürfte sich die Haut auf und der Schmerz kroch seine Arme hinauf. Hart riss Arin ihn am Kragen seiner Robe wieder hoch und schob ihn weiter.
    Innerlich bebte Harun. Am liebsten hätte er dem Mann hinter sich beide Fäuste ins Gesicht gerammt. Stattdessen knirschte er mit den Zähnen und konzentrierte sich darauf, nicht noch einmal zu fallen. Als sie oben anlangten und nach einem weiteren schattigen Gang in einen der hellen Flure einbogen, tränten seine Augen. Der Boden zu seinen Füßen war kalt; kein Sonnenstrahl erreichte den Marmor durch die vergitterten Fenster.
    Die wenigen Diener, die ihnen begegneten, senkten hastig den Blick und wichen beiseite. Einige machten einen großen Bogen um die Wachen. Harun hörte ihr Flüstern, das sofort verstummte, wenn einer der Männer sich umdrehte.
    Sie führten ihn hinaus zum Haupthof am Nordtor, wo sich eine Reihe Bediensteter und Wachen versammelt hatte. Mit verschlossenen Mienen sahen die Gardisten zu ihm, während viele der anwesenden Hausangestellten ersticktes Bedauern äußerten.
    Die Luft war drückend. Hitze flimmerte vor seinen Augen. Vor ihnen standen die Tore weit offen und von draußen war bereits das aufgeregte Rufen der Meute zu hören, die sich auf dem runden Platz davor versammelte.
    Der Stall vor der Nordwand war nur noch ein klägliches Abbild, halb eingefallen und das Holz der Türen zersplittert und schwarz. Harun entdeckte keine Pferde; sie waren in jener Brandnacht entweder ausgebrochen oder elendig zugrunde gegangen.
    Es schmerzte. Die Pferdezucht war dem König ein persönliches Anliegen gewesen. Nie hatte er sich gescheut, selbst nach ihnen zu sehen. Sein gekonnter Blick, Geschick und Zuwendung brachten stets die besten und ausdauerndsten Tiere hervor. Ein Erbe seiner Herkunft, wie er manchmal betonte. Lang hegte er die Hoffnung, sein Sohn würde in seine Fußstapfen treten. Und einst liebte Kadir die Pferde auch. Wie oft versteckte er sich in den Stallungen, wenn er sich einsam fühlte oder Trost suchte? Harun wusste nicht mehr, wie oft er ihn zur Vorsicht ermahnte, doch was hatte es dem Prinzen genutzt?
    Es war ihr aller Schicksal. Die berittene Wache würde nur mehr einer Farce ähneln und er musste sich um all das keine Gedanken mehr machen.
    Mitten auf dem Platz war ein kleines Podest errichtet worden, auf dem der breite Galgen bereits auf ihn wartete. Beim Anblick des Seils wurden seine Knie weich. Erhängen war nicht nur dem König stets zuwider gewesen. Besonders für Ehrenmänner war es eine schändliche Todesstrafe. Laut ihm fielen sie entweder zum Schutze ihres Herrn oder starben von schneller Hand. Selbst das Steinigen hatte er selten als höchste Strafe ausgesprochen.
    Haruns Schritte wurden zögerlicher, bis Arin ihm erneut zwischen die Schulterblätter stieß.
    »Notfalls zerre ich Euch nach oben, Harun«, zischte der frische Hauptmann nah an sein Ohr. »Der Galgen ist noch zu gut für Euch.«
    Harun zog es vor zu schweigen, als er die drei Stufen zum Podest hinaufstieg. Er wurde der runzligen, aufrechten Gestalt gewahr, die eingehend in seine Richtung starrte, und reckte das Kinn vor. Galibs Hände lagen hinter seinem Rücken und seine dunkle Robe war an diesem Tag fleckig und staubbedeckt. Seine glasigen, braunen Augen huschten über seinen Gegenüber hinweg, dann schien es, als würde er seufzen.
    Neben dem alten Diener standen zwei von Kopf bis Fuß in dunklen Stoff gehüllte Männer. Nur ihre Augen und Hände waren frei. Noch einmal atmete Harun tief durch, bevor er zum Stehen kam.
    Von seinen Wächtern war ihm nur Arin gefolgt. Doch zu seiner Überraschung schickte Galib den jungen Mann fort. Er weigerte sich, setzte zu einem Protest an, doch der alte Diener brauchte ihn nur finster anzusehen – schon gab er klein bei und zog sich mürrisch zurück.
    Harun schauderte. Die alte Eule wirkte größer als sonst, bedrohlicher. Hinter ihm waberte etwas, einem Schatten gleich, der nicht zu greifen war. Und noch etwas anderes umgab ihn. Ein Wispern, das, je mehr er sich darauf besann, lauter wurde. Es zog ihn förmlich weiter und er hatte alle Mühe, seine Füße davon abzuhalten, auch nur einen weiteren Schritt zu gehen.
    Am Ende war es Galib, der den Abstand zwischen ihnen verkleinerte. Einen Moment fixierte er ihn, dann machte er sich daran, die Handfesseln zu lösen, sehr zu Haruns Überraschung.
    »Es ist eine Schande, Harun«, raunte der Diener.
    »Wohl wahr«, schnaubte der Angesprochene und rieb sich seine Gelenke. Misstrauisch musterte er den alten Mann. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn zu überwältigen und augenblicklich dafür zahlen zu lassen, was er getan hatte. Doch etwas an seiner Ausstrahlung jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Da war etwas Fremdes, das ihm zuvor nie aufgefallen war, und der stete, merkwürdige Schatten hinter ihm schien einen Moment fester, dann war er beinahe vollkommen verschwunden.
    Er verzog das Gesicht, als das Flüstern anschwoll, und er meinte, vereinzelte Worte aufzuschnappen. Etwas wie »Bruder mein« oder »vergib mir«, wenn ihn nicht alles täuschte. Es ergab keinen Sinn.
    »Ich tue es nur für den Prinzen«, krächzte Galib und riss Harun damit aus den Gedanken.
    Schnaufend schüttelte er den Kopf. »Beenden wir es einfach. Aber seid Euch gewiss, Galib«, raunte er, als er an der Eule vorbei zum Galgen trat, »dass Ihr mit dem Tod des Königs nicht so einfach davonkommt.«
    Der alte Diener schwieg.
    Harun sah zu dem Seil auf, dass nun vor ihm baumelte, senkte einen Moment die Lider, ehe er auf die kleine Treppe davor erklomm und sich den Schaulustigen zukehrte. Einer der beiden Vermummten trat vor ihn und verband mit einem Tuch seine Augen, während der zweite hinter ihm aufstieg und seine Arme hinter den Rücken zerrte. Doch etwas an dem Strick, der ihm die Hände erneut fesseln sollte, war merkwürdig. Er saß viel zu locker. Harun runzelte die Stirn und biss sich auf die Zunge. Wahrscheinlich bildete er sich das alles nur ein. Er hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden. Dennoch zuckte er zusammen, als die Schlinge um seinen Hals gelegt und zugezogen wurde. Auch sie schien zu locker.
    »Habt Ihr noch etwas zu sagen, Harun?«, fragte Galib und seine Stimme klang näher als ihm lieb war. Er rührte sich nicht, sagte nichts und wartete nur noch darauf, dass sie es endlich hinter sich brachten. Doch dann irritierte ihn etwas von neuem. Der Vermummte hinter ihm stand weiterhin direkt auf der obersten Stufe. Dann flüsterte einer seiner Henker ihm etwas zu und er dachte, sich verhört zu haben. Spielte ihm sein Verstand nun doch einen Streich? Hegte er doch die Hoffnung, entkommen zu können?
    Sein Herz hämmerte in der Brust. Es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben. Seine Finger prickelten, als plötzlich jemand rückwärts zählte. Harun war sich nicht sicher, ob es vom Vermummten oder von Galib kam.
    Dann begann die Welt sich zu drehen. Die Präsenz hinter ihm verschwand, jemand trat die Stütze unter seinen Füßen fort und er fiel. Reflexartig hielt er den Atem an, in der Hoffnung, es würde schnell zu Ende sein.
    Der erwartete Ruck blieb aus. Hart kam er auf dem Podest auf und die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Seine ganze Seite schmerzte. Benommen hörte er die Aufschreie aus der Menge. Galib krächzte derweil und versuchte zur Ordnung zu rufen. Etwas surrte über ihre Köpfe hinweg und erneut kreischten einige der Versammelten auf.
    »Steht auf, Hauptmann!«, brüllte jemand neben ihm. Harun konnte sich nur ächzend auf den Rücken drehen. Das Seil um seine Handgelenke hatte sich beim Sturz gelöst, während sein gesamter Arm pochte. Etwas schien damit nicht in Ordnung zu sein.
    Als man ihm das Tuch von den Augen riss, blinzelte er in das verschwommene Antlitz einer jungen Frau, die den dunklen Kopfschal des Henkers bis zum Kinn heruntergezogen hatte. Sie sprach auf ihn ein, wollte ihm aufhelfen und stemmte seinen Oberkörper aufrecht. Harun schrie, als sie dabei seinen linken Arm um ihre Schultern legte. Erneut surrte etwas an ihnen vorbei und Harun erkannte durch den Tränenschleier, wie ein rot gefiederter Schaft aus der Brust eines Gardisten in der Nähe ragte, der taumelnd zu Boden ging.
    Schwer atmend starrte Harun auf das ausgebrochene Chaos. Menschen liefen panisch umher, die Wachen hatten allerhand zu tun, die Pfeile abzuwehren, die aus allen Richtungen zu kommen schienen. Unter ihnen krakelte Galib und schrie, dass sie sich endlich um die wichtigeren Dinge kümmern sollten, während er mit den Armen in ihre Richtung wedelte.
    Am Rande des Podestes griffen weitere Hände nach Harun und zogen ihn unsanft herab. Tief atmete er ein und hoffte inständig, dass ihn eine Ohnmacht ereilen würde. Eine raue Stimme riet von oberhalb laut zur Eile und eine Reihe dunkel gekleideter Gestalten löste sich unvermittelt aus den Schatten der Palastmauer und zerstob in alle Richtungen. Ein Teil von ihnen hatte die krummen Säbel der Leibgarde gezogen.
    Die beiden Halbvermummten an Haruns Seite nutzten die neu aufgezogene Verwirrung, trugen ihn zum Schutz der zerstörten Stallungen und schoben sich hinein. Die Frau löste sich von ihm und rannte zurück, um nach dem Rechten zu sehen. Harun musterte ihren Rücken, bis sein Blick erneut verschwamm.
    »Könnt Ihr laufen, Hauptmann?«, raunte der Vermummte neben ihm und etwas an seiner hellen Stimme mit dem leichten Lispeln war vertraut.
    »Fahid?«
    Der junge Mann löste die untere Hälfte seiner Kopfbedeckung und warf ihm ein schiefes Grinsen aus einem hageren, dunklen Gesicht zu. Seine Wangen waren schattig von Bartstoppeln und seine dunklen Augen huschten zur Frau, die in diesem Moment zu ihnen zurückkehrte.
    »Die anderen lenken sie ab, wir sollten uns dennoch beeilen.«
    Harun runzelte die Stirn und wandte den Kopf herum. Erst jetzt schien sich das Bild von dem länglichen Gesicht wirklich in seinem Gehirn zusammenzusetzen. Ranya hatte keinen zweiten Blick für ihn übrig, sondern huschte an ihnen vorbei und duckte sich zwischen heruntergestürzten Dachbalken hindurch.
    »Was zum Sakan«, begann Harun und zischte, als er versuchte, sich mit seinem verletzten Arm von Fahid zu schieben.
    Der junge Mann verstärkte seinen Griff um ihn. »Alles zu seiner Zeit, Hauptmann. Jetzt sollten wir schleunigst von hier verschwinden.«
    Sie setzten sich keine Sekunde zu spät in Bewegung, als die ersten Rufe vor dem Stall laut wurden.

    Einmal editiert, zuletzt von Kitsune (28. September 2016 um 10:51)

  • Nice! Es hätte für mich durchaus Sinn gegeben, wenn Harun gehängt worden wäre und ich hatte mich schon damit abgefunden. Dann hätten wir einen weiteren Grund zum Hass gehabt, als nur diese seltsame Verschwörung. Insofern: Ich wurde überrascht, auch wenn beide Möglichkeiten zur Auswahl standen. Und gut, dass Harun vielleicht noch die Gelegenheit bekommt, Arins schmierige Visage einzuschlagen :D
    Außerdem gibt es wieder viele Anspielungen auf etwas, das ohne Haruns / unser Wissen abgelaufen ist und ich will mehr lesen. Was treibt Galib bloß? Toll geschrieben!

    Trotzdem:

    Zitat von Kitsune

    Ich bin nicht wirklich zufrieden mit dem folgenden

    Diese Aussage steht vor jedem deiner Posts (gefühlt), und ich kann es nicht mehr lesen. Bald setze ich nur noch einen Daumen darunter, denn ich möchte manchmal nicht loben, wenn du dich vorher schlechtgeredet hast.

    "Sehe ich aus wie einer, der Geld für einen Blumentopf ausgibt, in den schon die Pharaonen gepisst haben?"

    • Offizieller Beitrag

    Harun konnte wirklich entkommen? Dank Ranyas Hilfe. Na zum Glück. Auch wenn ich ehrlich sagen muss, dass ich innerlich schon mit dem Hauptmann fertig war, für mich war er schon tot. So ist es natürlich am Besten. Freut mich, dass alles gut ausgegangen ist. :)

    Ich verstehe nur nicht ganz, warum man ihm die Fesseln erst abnimmt, und sie dann frisch anlegt. Das klingt fast, als wollte Galib, dass er flieht. :hmm:

    LG, Kyelia