Hallo, liebe Community!
Im Folgenden findet ihr meine erste Geschichte in diesem Forum.
Sie ist noch kein Teil einer festen Reihe, soll also erst mal dazu dienen, das Universum, das ich zu Papier bringen möchte in den ersten Zügen zu umreißen.
Vermutlich wird sie keine storymäßige Basis für Folgegeschichten sein. Aber das weiß ich noch nicht genau.
Ich verzichte auch erst mal bewusst auf eine vorausgehende Beschreibung und Erläutertung des Universums. Ich hoffe, dass die wichtigsten Aspekte aus dem Text hervorgehen. Sollte eine Erläuterung des Universums gewünscht sein, kann ich das gerne nachholen.
Ich würde mich sehr über konstruktive Anmerkungen und Kritik freuen.
Viel Spaß beim Lesen meiner Geschichte mit dem (vorläufigen) Titel: Flügelschlag
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Eichenstedt - Morgen
„Kühler Morgentau, die Sonnenstrahlen dringen durch die Baumwipfel. Und der Fluss. Wie jeden Morgen. So gewaltig und doch…“ Ein Treffer an der Schläfe ließ meinen Blick wieder in die Stube wandern. „Aufwachen, du Träumer! Wir kommen zu spät zum Observatorium!“
Ich hob das Buch vom Boden auf, das mir einer meiner Brüder gerade an den Kopf geworfen hatte. „Eisbiome und seine Bewohner“. Der Umschlag aus abgegriffenem Leder. Die Schrift noch lesbar. Als Erstgeborener hatte ich es nicht immer einfach, aber zumindest konnte ich mir zu Beginn der Unterrichtszeit immer als Erster die Bücher in Wugachugs Gebrauchtwarenhandel aussuchen.
„Heute Naturkunde?“ – Ich war noch zu verschlafen, um ganze Sätze zu bilden. In der vergangenen Nacht hatte ich den Himmel beobachtet und Sternformationen notiert. Ich dachte darüber nach, ob ich in dieser Nacht erneut solche faszinierenden Formationen finden würde. Das Nicken meiner Brüder konnte ich erst nicht zuordnen, meine Gedanken waren wieder abgeschweift. Ich schaute sie fragend an. „Wir haben heute Naturkunde, Aram.“ Ryo schien besorgt. „Wir gehen schon mal. Beeil dich, der Mentor sperrt dich sonst wieder aus! Bis gleich!“
Nachdem sie das Haus verlassen hatten, begann ich zu kichern. Ich dachte an die unzähligen Vormittage, die ich vor der verschlossenen Tür des Observatoriums verbringen musste.
Bis sie sich zum Unterrichtsende wieder öffnete, saß ich auf den Stufen und zählte die Glühwürmchen, die sich schon so früh in den Gräsern tummelten. Die Eichenzuflucht war in Sichtweite. In der Mitte des großen mit Holzbrücken bestückten Moores befand sich die Gotteseiche, der größte Baum von allen. Über Jahrtausende soll sie gewachsen sein. Über Jahrtausende hinweg hatte sie diese Mächtigkeit erlangt, nur um unserem geliebten König jetzt als Thronsaal zu dienen. Zweihundertneunundfünfzig Glühwürmchen bis sich die Tür wieder öffnete.
Das Buch fiel mir aus der Hand. „Naturkunde“, dachte ich. „Zumindest ein guter Grund, meinen Lieblingsplatz am Fenster zu verlassen“. Ich schaute ein letztes Mal hinaus. Die Sonne kam schon fast vollständig hinter den Bäumen hervor. Die Glocke des Observatoriums würde sieben Mal ertönen bis der Unterricht beginnt. Wie viele Glockenschläge hatte ich schon verpasst? Die Stille war Antwort genug.
Mutter würde wieder enttäuscht sein. Das sechste Mal in Folge hatte ich den Unterricht in dieser Periode schon verpasst.
Ich machte mich auf dem Weg zum Glühwürmchenzählen und dachte an die Zeit vor meiner Beflügelung. Musterknabe. Mutters Liebling. Der Mentor sprach in den höchsten Tönen von mir. Doch dann kam mein siebzehnter Geburtstag. Mein Rücken hatte sich angefühlt, als würden mir Fleischhaken unter die Schulterblätter geschlagen werden. Fleischhaken mit Dornen. Brennende Fleischhaken mit Dornen.
Und wofür? Für ein Paar abnormaler Flügel. Sie waren nicht so seidig, so bunt schillernd wie die meiner Altersgenossen. Sie waren schwarz, knochig und zu allem Überfluss mit harten Schuppen übersät. Sehr zum Missfallen meiner Eltern konnte auch Mendilion Okh, der bekannteste Schamane unserer Lande, nichts an dieser grässlichen Erscheinung ändern.
Die Flügel von uns Fluxen sind nicht zum Fliegen gemacht. Wir können uns höchstens um einige Ellen nach oben bewegen und hinabgleiten, doch nicht mal dazu waren meine Flügel zunutze. Steinflügel nannten sie mich. Sogar dem Mentor war dieser Name einmal entglitten.
Auf den Weg über den Hügel vor mir musste ich mich nicht mehr konzentrieren. Ich konnte also ungestört in meinen Aufzeichnungen der vergangenen Nacht blättern bis ich an den marmornen Treppen des Observatoriums angelangen würde. Plötzlich fand ich mich auf dem Boden wieder.
Ich stand auf und schaute mich nach dem Stein um über den ich gerade gestolpert sein musste, doch er war nicht zu sehen. Da war kein Stein.
Gerade sann ich über die Existenz unsichtbarer Steine nach, als ich bemerkte, dass der Erdboden bebte. Rauch stieg hinter dem Hügel auf.
Das Observatorium! Ich überquerte den Hügel so schnell ich konnte, bis es zu sehen war. Die Rauchschwaden stiegen aus der gläsernen Kuppel empor. Markerschütternde Schreie. Brennende Menschen, Nestare und Fluxe bahnten sich mit wilden Gebärden ihren Weg durch den dichten Rauch. Manchen gelang der Sprung in den kleinen Teich. Den anderen nur der Sprung aus den oberen Stockwerken. Ich musste erbrechen. An diesem Tag verlor ich sie alle.
Meine Brüder, meine Freunde, mein Mentor – tot.
Gotteseiche - Nacht
Ich habe die Geschichte schon unzählige Male erzählt. Grygor weint. Ich beobachte, wie sich Tränen in seinem kastanienbraunen Bart verfangen. Es ist schon merkwürdig, einen ausgewachsenen Nestaren weinen zu sehen. Ihr ungestümer Körperbau und ihre ausgeprägten Kiefer erwecken den Eindruck von Unantastbarkeit. Doch da sitzt er. Und schluchzt unaufhörlich.
„Ich wusste nicht, dass du den Erstschlag miterleben musstest.“
Ich nicke und schaue ins Lagerfeuer. Meine Tränen sind zwar längst versiegt, doch die Schreie hallen noch heute in meinen Ohren - einhundertzwanzig Tage nach dem ersten Angriff des Dragenstammes.
Vor einhunderteinundzwanzig Tagen hatte König Carl das furchterregendste Kriegervolk provoziert, das unser Kontinent je hervorbrachte. Rücksichtslose nestarische Barbaren, denen Ehre und Gnade fremd sind. Mit ihren stumpfen Schlagwaffen aus Eisen stürzten sie auf den Rücken ihrer Drachen bisher alle Feinde ins Verderben.
Aus persönlichen Gründen, die nur der König verstünde, wäre es unvermeidlich, Krieg gegen den Dragenstamm zu führen.
Die Kriegserklärung war unser Todesurteil. In dieser letzten Amtshandlung brachte der König das Inferno über unser Land.
Das Observatorium war nur der Anfang. Es folgten alle Bezirke Eichenstedts, Nebeltal und der Graufellwald –niedergebrannt wie einen trockenen Heuhaufen. Die Orte meiner Kindheit und Jugend – ausgelöscht. Das war kein Krieg. Das war Barbarei. Die Truppen der Eichenzuflucht, immer noch dezimiert vom letzten überstürzt geführten Krieg, leisteten kaum Widerstand.
Vor einigen Tagen versammelte der König die letzten Überlebenden Eichenstedts in der Gotteseiche. Einige hundert Bürger, darunter Mütter ohne Kinder, Kinder ohne Mütter und verängstigte Familien, versammelten sich, um sich die Worte des Königs anzuhören. Der Krieg sei bald vorbei, versicherte er, es gäbe keinen Grund zur Sorge. Die Zerstörung, die versengten Städte und Dörfer sprachen jedoch eine andere Sprache.
Kein Wunder also, dass dies seine letzten Worte waren.
Er liegt auch jetzt noch reglos vor seinem Thron. Sein Kopf gespickt mit drei präzise platzierten Armbrustbolzen. Bisher hat sich niemand die Mühe gemacht, seine Leiche zu beseitigen. Selbst seine Leibwachen sitzen nun mit uns versammelt um die Lagerfeuer im Inneren dieses gewaltigen Baumes und warten auf den Tod.
„Wir schaffen das, oder? Ich... ich meine, die Eiche, sie schützt uns.“ , Grygor schluchzt nun merklich weniger.
Ich schweige. Ich möchte in ihm weder falsche Hoffnungen erwecken, noch möchte ich ihn auf seine Naivität hinweisen. Ein Schamane tritt in die Mitte des Kreises aus Überlebenden, der sich um eines der Lagerfeuer gebildet hat.
„Die Eiche“, die Stimme des alten Schamanen ist rau und leise, „wird bald sterben. Die große Pforte wird sich dem Feind nur so lange entgegensetzen, bis die Gotteseiche ihr Leben ausgehaucht hat. Der Dragenstamm versengt das Land und damit das Leben in der Eichenzuflucht. Die Energie der Eiche schwindet. Die Pforte wird bald nicht mehr standhalten.“
Erschüttert von diesen klaren Worten senken sich die Köpfe der Menge. „Sprecht eure letzten Gebete. Wir sehen uns im Nachreich.“ Der Schamane zieht einen Dolch aus der Scheide am Inneren seiner goldenen Robe und stößt ihn sich ins Herz. Sein Körper fällt in das Lagerfeuer, beantwortet von einem kurzen Züngeln der Flammen gen Himmel. Die Menge wird unruhig. Manche erbrechen, Väter trösten ihre Kinder, die Waisen beginnen zu weinen.
Ich suche eine ruhige Stelle des großen Saals, die nicht mit dem Licht eines Feuers geflutet ist. Rücklings lege ich mich auf den Boden und richte meinen Blick nach oben.
Die Glühwürmchen unter der hohen Decke sehen fast wie Sterne aus. Ich beginne zu zählen. Eins. Zwei. Drei. Vier…