42
Erschöpft schnaufend blickte der Held über die Schulter. Ein Stück den Hang hinunter polterten die Bergriesen heran. Ihr euphorisches Brüllen bestätigte seine Befürchtung: In ihrem zerklüfteten, offenen Jagdrevier waren sie ihm in puncto Geschwindigkeit überlegen. Besorgt sah er sich nach einer rettenden Alternative um.
Das Loch! Da rein, schnell!, rief die Stimme.
In Ermangelung besserer Optionen sprang der Held regelrecht in das schmale, schräg in den Berg führende Loch hinein. Hinter der schmalen Öffnung begrüßten ihn eine angemessen dunkle Tiefe und der Geruch eines verendeten Tieres. Nicht zuletzt, weil er schlitternd auf den Überresten ausglitt, war nicht mehr zu erkennen, wessen ewige Ruhe er hier störte.
Binnen Sekunden wurden die Erschütterungen stärker, die wütenden Bergriesen versammelten sich um das Loch. Dass nun Intelligenz gefragt war, schürte ihren Zorn zusätzlich.
Was meinst du, was sie machen?, fragte das Schwert ehrlich interessiert.
„Ich wette, sie greifen nach mir“, meinte der Held und versuchte in der rutschigen, steilen Höhle einen sicheren Stand zu erreichen.
Ein paar Augenblicke später hielt sich einer der Bergriesen fluchend seinen zerschnittenen Handrücken.
Sehr gut, gratulierte die Stimme fröhlich. Ich glaube, ich habe ein paar Sehnen erwischt… was meinst du, kommt als Nächstes?
„Mir wäre es am liebsten, wenn sie sich wieder verziehen.“
Ich hätte lieber noch eine Hand.
„So dumm sind sie auch wieder nicht“, vermutete der Held vorsichtig.
Vielleicht erkennen sie ja im Zuge einer kollektiven Erkenntnissummierung, dass ihnen ihre Beute entwischt ist, schlug das Schwert mit hörbarem Grinsen vor.
„So schlau sind sie –“
Plötzlich verdunkelte sich der Höhleneingang erneut. Mit viel Glück schaffte er es, einer Riesenhandvoll
kinderkopfgroßer Steine auszuweichen. Gleich darauf folgte ein weiterer Steinschlag.
Bestimmt gehen ihnen bald die Steine aus, hoffte die Stimme unsicher.
„Im Gebirge?!“
Von irgendwo außerhalb des Loches ertönte unvermittelt ein ohrenbetäubendes Brüllen, als wäre einem großen Roten ein Findling auf den schuppigen Schwanz gefallen. Der hektischen Flucht der Bergriesen zufolge schien der Ursprung des Getöses tatsächlich vergleichbar verheerende Fähigkeiten zu haben. Leider bewies einer der Riesen unerwartete Geistesgegenwart, indem er zur Sicherung der Beute zuletzt noch einen enormen Brocken in das Loch warf, ehe er davonstampfte. Zuvorkommender Weise flog der Felsbrocken dem Helden nicht entgegen, sondern blieb im Eingangsbereich stecken. Irgendwo über ihnen verklangen die eiligen Schritte der Bergriesen. Was auch immer sie vertrieben hatte: Entweder folgte es ihnen nicht oder es folgte ihnen nicht zu Fuß.
Immerhin ist er in einem Stück geblieben und gönnt dem Licht ein paar Spalten, hob das Schwert hervor.
„Und das sind so ziemlich alle Vorteile. Falls es dir nicht aufgefallen ist: Wir sind eingeschlossen.“
Stimmt, ein Geröllhaufen wäre in puncto Beweglichkeit kooperativer gewesen, stellte die Stimme nachdenklich fest.
„Ist mir bewusst… sag mal, du kannst dich nicht zufällig in einen Hammer verwandeln, oder?“
Du kannst nicht zufällig spontan anderthalb Zentner abnehmen?
„Du bist NICHT hilfreich“, entgegnete der Held bissig.
Pah, ich bin IMMER hilfreich! Ts, in einen Hammer verwandeln! Als ob das nötig wäre…
Normalerweise hätte er sich nicht dazu hinreißen lassen, aber die Umstände waren zwingend.
„Schön. Warum ist das nicht nötig?“, fragte der Held zähneknirschend nach, während er über einen Ausweg nachdachte.
Kannst du hier ordentlich ausholen?
„Ähm.“ Der Held sah sich unschlüssig um und versuchte den Platz abzuschätzen. „Denke schon, wieso?“, fragte er vorsichtig.
Habe ich dir schon mal von Erdgar Krugbrecher erzählt?
„Ja. Aber ich dachte der Zwerg ist bereits tot?“
Er war… oh, hab ich wirklich?, wunderte sich das Schwert. Naja, egal. Jedenfalls, wie du sicher noch weißt, war er vor seinem Abenteurerdasein ein verdammt guter Hauer, ein Bergarbeiter mit Köpfchen. Hat mir so einiges aus dieser Zeit erzählt, natürlich vor allem über Steine…
„Uuuund?“, fragte der Held mit aufkeimender Ungeduld.
Ist ja gut. Betaste mal den Stein!, forderte das Schwert.
Da die magische Waffe schon ungefähr ein Dutzend seltsamere Dinge von ihm verlangt hatte, zögerte er keine Sekunde. Die kalte raue Oberfläche kündete von der Härte und Unnachgiebigkeit des Felsbrockens.
Stopp!, rief die Stimme und die Finger des Helden verharrten auf der Stelle. Merk dir die Stelle!
„Äh… ja. Und jetzt?“
Jetzt hast du zwei wichtige Dinge zu tun. Erstens: Du schlägst mich jetzt mit aller Kraft auf genau diese Stelle und –
„Sicher, dass du das willst?“, warf der Held skeptisch ein.
Ich will vor allem nicht für ein Jahrhundert hier drin festsitzen, sonst würde ich »Erstens« nämlich nicht vorschlagen… und das führt mich zu Zweitens: Ertrage meinen Schmerzensschrei.
Er schluckte.
Ach ja und Drittens wäre dann, dass du mich schnellstmöglich zu einer Schmiede bringst, fügte das Schwert noch angespannt hinzu.
Der Held nickte knapp. „Die Stelle war es, ja?“ fragte er sicherheitshalber nach.
Jep.
Wenn er beim ersten Mal nicht traf… –
… und denk bitte gar nicht erst an sowas…
„Entschuldige“, sagte der Held und holte aus. Er konnte regelrecht spüren, wie das Schwert die mentalen Augen zukniff. Mit aller Kraft schlug er zu. Das Bersten des Steins konkurrierte im Kopf des Helden mit dem gellenden Schrei seiner magischen Waffe. Sichtlich erleichtert, dass er nicht noch einen derartigen Hieb ausführen musste, ließ er die vom Schlag immer noch vibrierende Klinge sinken. Währenddessen rutschten und rollten ihm die Bruchstücke entgegen und er begann eifrig, über sie hinweg ins Freie zu klettern. Glücklicherweise war der Ausgang verwaist, sodass er sich erst einmal an den Rand des Loches setzen und verschnaufen konnte.
Au!, kommentierte das Schwert schließlich keuchend.
„War eine gute Idee“, gestand der Held ein. „Danke!“
Sag es!, presste die Stimme durch die Schmerzen heraus.
„Was denn?“ fragte er.
Sag es!, beharrte das Schwert und der Held wusste, dass seine gespielte Ahnungslosigkeit zwecklos war.
„Na schön, du bist IMMER hilfreich.“