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So etwas musste ja passieren, seufzte das Schwert.
„Hey! Ich bin deinetwegen hier, schon vergessen?“, erinnerte ihn der Held gereizt und versuchte sich zu orientieren. Die wesentlichen Bestandteile des sich ihm bietenden Anblicks waren leicht zu erfassen, nicht zuletzt, weil der alte Magier von einem Irrgarten-Zauber gesprochen hatte. In der Tat führten von seinem jetzigen zentralen Standpunkt aus viele Wege in verschiedene Richtungen. Die Wände der Abzweigungen glühten vor Hitze und der Boden wirkte als hätte er vor längerer Zeit einmal einen Ausflug durch eine Reihe Vulkane gemacht. Das eigentliche Problem seiner Situation erfasste der Held jedoch erst als er nach oben sah. Leider hatte der alte Magier in seinem Irrgarten nämlich kein oben vorgesehen, geschweige denn ein links oder rechts. Viel mehr schien jeder Gang nicht nur eine neue Himmelsrichtung zu definieren, sondern sich bei unvorsichtig genauer Betrachtung auch mit anderen Wegen zu überlappen. Grob geschätzt gab es einige hundert Abzweigungen neben-, über- und ineinander, welche man je nach Fokussierung beschreiten konnte.
„Ich hasse Magier“, konstatierte der Held.
Jep. Die alten sind besonders schlimm, pflichtete ihm die magische Waffe bei. Ich frage mich, was an drei Dimensionen so langweilig ist.
„Was soll’s“, zuckte der Held und lief einfach los. Da das Taschenuniversum, in welches der alte Magier den Helden teleportiert hatte, die Naturgesetze lediglich grob nachempfand, erreichte der Held bereits nach Sekunden einen neuen Knotenpunkt, welcher vorher nicht einmal zu sehen gewesen war. Erwartungsgemäß gingen von dieser Kreuzung wiederum Hunderte von mehrdimensionalen Wegen ab, welche von glühenden Wänden abgegrenzt wurden.
Einfach loslaufen war schon immer DIE Idee schlechthin, befand das Schwert und rollte metaphorisch mit den Augen.
„Na gut. Mal sehen“, grübelte der Held. „Was hat er nochmal gesagt? Für jeden Weg…?“
„… gibt es einen Ausweg“, ergänzte die Stimme nachdenklich.
„Ist also bei jeder Abzweigung jeder zweite Weg ein Ausgang aus dem Irrgarten?“
Dann wärst du ja ziemlich schnell draußen. Das ist dann wie beim Münzwurf: Irgendwann kommt Zahl… glaub ich aber nicht, das wäre zu einfach… interessant wäre ja auch, ob der Magier ein geschlossenes oder nur ein repetierendes Taschenuniversum gebastelt hat.
„Ich tippe auf Letzteres. Immer, wenn ich falsch abbiege, lande ich bestimmt wieder am Ausgangspunkt. Ich würde das zumindest so machen, wenn ich er wäre. Das spart nämlich… nun, ähm… das spart.“
Du bist ja auch kein bekloppter Hellseher-Magier.
Der Held überging das vermutlich unbeabsichtigte Kompliment und dachte erneut über den Hinweis des alten Mannes nach. Warum mussten Magier nur immer irgendwelches Brimborium veranstalten, wenn man was von ihnen wollte? Zumal es ja eigentlich nicht mal um ihn ging, sondern um Schnittchen.
Hey!, fuhr ihn das Schwert sofort an.
„Wenn es für jeden Weg einen Ausweg gibt“, sagte er laut und ignorierte das empörte Gebaren der Waffe, „dann… dann gibt es doppelt so viele Wege… ähm…“
Das ist jetzt noch nicht ganz der Durchbruch, den wir brauchen…
„Was gibt es hier genauso oft wie die Wege?“, überlegte der Held.
Gar nichts. Hier gibt es nur die Wege und mehr Hitze als mir gefällt. Ich wäre dir ungemein verbunden, wenn du mich etwas von den Wänden fernhieltest. Der Aufenthalt damals bei San’Bar hat mir vollauf ge – hey! WAS MACHST DU DA?!
Erfreulicherweise glitt das Schwert problemlos durch die vor Hitze flirrende Wand.
„Aha!“, triumphierte der Held und betrachtete die völlig unversehrte Klinge.
Manchmal mag ich dich nicht.
Da nun alles geklärt war, marschierte der Held geradewegs in eine der glühenden Wände hinein. Das simulierte Gefühl des Verbrennens verging schlagartig und der Irrgarten wich dem wesentlich angenehmeren, dreidimensionalen Anblick des Magiers und seines abgedunkelten Wahrsagezimmers.
Oh, oh!, merkte das Schwert an und dem Helden fiel die Kinnlade herunter. Vor ihm stand unverkennbar jener Magier, welcher ihn in den Irrgarten versetzt hatte. Allerdings hatte er während der multidimensionalen Odyssee des Helden ein paar Jahrzehnte abgenommen; er sah keinen Tag älter als zwanzig aus.
„Was habt ihr getan, Magier?!“, verlangte der Held sofort zu wissen.
Dem überaus bedrohlichen Gebaren des Helden zum Trotze bekam der junge, ernst dreinblickende Mann plötzlich einen Lachanfall und – flimmerte. Nach wenigen Sekunden löste sich die Illusion auf und der alte Magier wurde sichtbar, wie er sich japsend und kichernd den Bauch hielt.
Mit stoischer Miene und bebender Schwerthand wartete der Held ab. Mit größtem Nachdruck rief er sich ins Bewusstsein, dass der alte Witzbold ihm ja eigentlich kein Haar gekrümmt hatte. Es brodelte dennoch tief in ihm.
„Ach Junge, du hättest dein Gesicht sehen sollen!“, feixte der Magier schließlich und ließ sich schwer auf einen nahen Stuhl fallen. „Eigentlich fasele ich Abenteurern wie dir immer noch vor, dass die vielen Dimensionen wohl versehentlich die Raumzeit gekrümmt haben, aber…!“ Ein erneutes, haltloses Kichern erklärte, was ihn diesmal davon abgehalten hatte.
„Ich denke, du hattest auch so genügend Spaß“, stellte der Held mit bemüht ruhiger Stimme fest. Das Brodeln in seinem Inneren wurde heftiger.
„Wenn es… puh… wenn es dich beruhigt, du warst… hihi… nur ein paar Minuten im Irrgarten“, erklärte der alte Magier, als er sich soweit wieder unter Kontrolle hatte. „Gut…, was wolltet ihr von mir wissen?“, fragte er nun beinahe wieder geschäftsmännisch und schaute gezielt zwischen dem Schwert und dem Helden hin und her.
Ach was?, wunderte sich das Schwert und auch der Held konnte einen verdutzten Gesichtsausdruck nicht unterdrücken.
„Ach, nun gib schon her! Ich bin schon so lange in diesem Geschäft, da WEIß man manche Sachen einfach“, winkte der alte Magier ab. „Ich nehme an, es geht um die ursprüngliche Herkunft der Schwertseele?“
Dem Helden wurde bewusst, dass er vor einem fähigen Wahrsager stand und er nickte einfach stumm.
Jetzt mach endlich!, meckerte die Stimme hibbelig und endlich regte sich der Schwertarm.
Während der alte Magier das Schwert in den Händen wiegte, sah er erneut zu seinem geradezu erstarrten Gegenüber. „Ich hoffe, du nimmst mir meinen kleinen Spaß nicht übel. Die Wahrsagerei kann ziemlich langweilig und eintönig sein, weißt du? – Jetzt werd‘ mal nicht frech, sonst könnt ihr gleich wieder verschwinden!“, fuhr er plötzlich die Waffe an.
Ein kurzer Moment akustisch dichter Stille trat ein, welchem sich ein intensiver Informationsaustausch zwischen Magier und Schwert anschloss. Hinter den inzwischen geschlossenen Augenlidern des alten Mannes herrschte großer Aufruhr und eine kaum hörbare Beschwörung glitt geheimnisvoll von den betagten Lippen. Der Held konnte nicht zweifelsfrei erkennen, ob die Hände des Magiers bebten oder ob sein Schwert zitterte.
„Du führst eine machtvolle Waffe“, sagte der Magier unvermittelt und öffnete ruckartig die Augen. „Doch sie ist nichts im Vergleich zur einstigen Macht der ihr innewohnenden Präsenz.“ Er schien kurz zu überlegen und schüttelte den Kopf. „Sag, wie gut kennst du dich mit der Geschichte der Götter aus?“