Ihr Lieben!
Ich bin jetzt einfach mal mutig und wage es, den Beginn meines aktuellen Projektes zu posten. Freu mich über konstruktive Kritik & neugierige Fragen !
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Elemental
Der junge Mann drehte sich im Halbschlaf auf die Seite. Sein Arm fuhr träge über die kratzige Decke, abwesend tasteten seine Finger über den löchrigen Stoff, bis sie schließlich unangenehm über die Wand schrammten.
Alarmiert schlug er die Augen auf.
Die schmutzige Matratze neben ihm war leer, die ehemals khakigrüne, jetzt aber nahezu farblose fadenscheinige Decke beiläufig zurückgeschlagen und ausgekühlt.
Eine eiskalte Hand fasste sein Herz und drückte es fest zusammen.
“Ivy!”
Seine Stimme, noch heiser vom Schlaf, hallte durchs Zimmer, doch sein Ruf blieb unbeantwortet. Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, fuhren seine Füße aus dem Bett. Fiebrig huschte sein Blick durch den muffigen halbdunklen Raum, doch sie war nicht hier.
“Ivy!”
Er sprang auf, getrieben von unsäglicher Angst, und riss die Tür zum Wohnzimmer auf.
Rett, der auf dem Sofa genächtigt hatte, fuhr hoch. “Was zum - ”
“Ivy ist weg!”
Retts braune Augen, kaum erkennbar unter der wilden Haarmähne, wurden für einen Moment riesengroß, dann riss er sein schmuddeliges blaues Hemd von der Lehne des einzigen Stuhles und warf es sich über.
Er hämmerte inzwischen an Kays Tür.
“Kay! Kay, bitte sag mir, dass Ivy bei dir ist.”
Für einen bangen Moment herrschte Stille.
“Nein, Nate, leider nicht. Ich komme.”
Die letzten Worte der Frau gingen an Nate vorbei, denn mit Entsetzen war sein Blick an der offenen Wohnungstür hängengeblieben. Jetzt drang der Lärm des neuen Tages langsam in ihre Bleibe, wabernd wie der Staub, der im Licht der funzligen nackten Glühbirne im Flur tanzte. Auf dem Boden, im Schmutz des Vorabends, sah man deutlich die kleinen Kindertapsen, die aus der Wohnung hinaus führten.
“Ivy … nein!”
Er stürzte aus dem Haus und landete in der winzig kleinen Gasse, die sein Wohnviertel in The Downs bildete. Links und rechts erstreckte sich ein etwa zwei Meter breiter Weg aus undefinierbarem Matsch, der meist höllisch stank und in dem nicht selten Gegenstände lagen, die man besser nicht genauer betrachtete. Die Häuser, Wand an Wand, mehrere Stockwerke hoch und das meiste Tageslicht schluckend, waren angelaufen, schimmelig und fensterlos. Kabel zogen sich über den Köpfen der abgestumpft dreinschlurfenden Menschen dahin, tropfende Rohre, nicht selten defekte Leitungen, die bei dem häufigen Regen munter Funken sprühten.
Nate stand heftig atmend vor seiner Tür und versuchte zwischen den armseligen Gestalten, die grußlos vorüberzogen, Ivy zu entdecken. Wohin war sie nur verschwunden? Allein? Rechts? Links? Den Fußabdrücken von eben konnte er nicht mehr folgen, zu viele kaputte Schuhe und ausgeleierte Stiefel, dreimal geflickt, hatten jede Spur zunichte gemacht. Doch Nate wusste, wenn er eine falsche Richtung einschlug, würde das für Ivy fatale Folgen haben.
In diesem Moment sprang Rett an ihm vorbei, schlug ihm auf den Rücken und verschwand nach rechts in die Wohngasse. Auf den Freund war Verlass. Nate sah ihm noch einen Moment nach, wie dieser erhobenen Hauptes durch die grauen Massen hechtete. Dann wandte er sich nach links und rannte los.
Während er sich zwischen den Menschen und diversen Müllbergen hindurchschob und jeden kleinen Winkel nach Ivy absuchte, rasten seine Gedanken. Die Kleine war allein unterwegs. Allein. Wieso nur? Noch nie hatte sie die Wohnung allein verlassen. Sie konnte sich unmöglich zurechtfinden. Hier ging es hart zu. Jeder war sich selbst der Nächste. Niemand würde einer Vierjährigen helfen, im Gegenteil, das Risiko, hier einfach auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, war unheimlich hoch - schon allein wegen dem, was man am Leibe trug. Alles konnte auf dem Schwarzmarkt in Nahrung eingetauscht werden. Nahrung war das Einzige, was zählte. Und so ein hübsches kleines Mädchen wie Ivy -
Er brüllte wie ein verwundeter Stier. Erschrocken zuckten die Gestalten vor ihm zusammen und wichen an die Hauswände zurück. Seine Hand wanderte an seine Hose, während er weiter hastete. Im Gegensatz zu den meisten Menschen in The Downs trug er eine Waffe. Und er würde sie gegen jeden einsetzen, der Ivy anrührte.
Die anderen machten ihm Platz, zogen ihre kapuzenbedeckten Köpfe ein und ließen ihn passieren, nur um langsam und ziellos weiterzuziehen. Die meisten hatten keinen Ort, an den sie gehörten und keinen Ort, an den sie gehen mussten. Sie wandelten im Morast auf der ewigen Suche nach Essen, bis sie irgendwann kraftlos zusammensackten und sich zu den Müllbergen der Straßen gesellten ...
Er jedoch raste weiter, an drei, vier weiteren Gassen vorbei, immer gehetzt von Horrorvorstellungen, doch beim letzten Häuserspalt bremste er so heftig, dass er eine Spur tief in den Matsch zog und sich seine Hose bis zu den Knien ruinierte. Aber das war im Moment egal.