Die Legende vom Winterkönig (zum dritten...)

Es gibt 70 Antworten in diesem Thema, welches 13.067 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (15. Februar 2022 um 03:35) ist von Alraniss.

  • ( leise reinschleich ... Ich habe immer noch nicht aufgegeben! auch wenn die Fortführung der Geschichte gerade nicht in ihrer produktivsten Phase steckt. Dafür bitte ich um Verzeihung).

    Doch nicht die Treppen waren das Problem, wie sie eine ganze Weile später feststellen musste.

    Ihr Glöckchen blieb stumm.

    Sie wäre lieber tausend Mal die Stufen hoch und herunter gejagt, statt unter den heimlichen Blicken, dem abschätzigen Grinsen und dem leisen Getuschel der anderen starr auf ihrem Platz sitzen zu müssen.

    Dass der Hüter sehr bescheiden in seinen Ansprüchen gegenüber der Dienerschaft war, Pollok jedoch das genaue Gegenteil darstellte und sich gerne von vorne bis hinten bedienen ließ, war allgemein bekannt.

    Pollok war ein extremes Beispiel eines jüngeren Sohnes aus reichem Hause, der gegen ein hohes Entgelt die Schule der Feste auch ohne jegliche magische Begabung durchlaufen durfte, um später seinen Weg als Lehrkraft für ein auskömmliches Salär bei freier Unterkunft und Verpflegung fortzusetzen.

    Ehrgeizig und hochintelligent hatte sich Pollok aus dieser Position heraus den Titel des Gelehrten erarbeitet, der es ihm erlaubte, Verträge aufzusetzen und den Hüter bei diplomatischen Reisen und Verhandlungen beratend zu begleiten.

    Doch der zunehmend zweifelhafte Ruf seines wohl mächtigen Vaters ließ es ratsam werden, ihn von diesen Aufgaben zu entbinden. Entschädigt wurde er mit der Leitung der Bibliothek und ausreichend finanziellen Mitteln, um auf der ganzen Welt nach alten Schriften und wertvollen Dokumenten zu suchen, die ein wenig Licht in das Mysterium der alten Völker bringen konnten.

    Den Magiern, die rangmäßig allein wegen ihrer Fähigkeiten alle über ihm standen, trat er stets respektvoll gegenüber.

    Von allen anderen jedoch verlangte er Ehrerbietung wie ein König.

    Plötzlich fiel ihr ein Satz ein, den sie im Vorbeigehen von einer Unterhaltung aufgeschnappt hatte.

    Jemand sollte in Schande schwanger gewesen sein und deshalb die Feste verlassen haben.

    Ein ungeheurer Verdacht keimte in ihr auf.

    Yvette?

    Ob Pollok der Vater und ihre Ernennung eine Strafe dafür war?

    Man hatte ihm diesmal bei der Wahl seiner Dienerin kein Mitspracherecht gegeben, sondern ihm eine einfache Wäscherin zugeteilt, dazu noch eine, die er, seiner Musterung nach zu urteilen, äußerlich nicht ansprechend fand.

    Hatte der Hüter den Hausmarschall beauftragt, jemanden wie sie zu wählen? Eine unauffällige „Hilfskraft“?

    Und war das stille Glöckchen Polloks Reaktion darauf?

    Venia nagte an ihrer Unterlippe.

    Sie mochte es nicht, anderen als Spielfigur für Ränke zu dienen.

    Vielleicht hatte sie nur eine blühende Fantasie, vielleicht aber würde ihre Ernennung damit enden, dass Pollok irgendwann ausreichend Buße getan hatte und sie sich auf ihrem alten Posten wiederfand.

    Sie hatte nichts gegen Wäsche waschen oder Gemüse putzen, aber gegen das Stigma, hoch befördert und tief gefallen zu sein. Vorher hatte sie ihre Arbeit still und unauffällig verrichten können. Nun schien jeder ihr Gesicht zu kennen und auf ihren Fall zu warten.

    Endlich erlöste sie ein Bimmeln von ihren Gedanken. Der Hüter verlangte nach ihr. Erleichtert und befangen zugleich lief sie los.

    Als Venia nach kurzem Klopfen durch die Türe trat, war sie überrascht, eine Gruppe von mehr als einem Dutzend Männer dahinter anzutreffen, die gerade vom Hüter mit freundlichem Lächeln verabschiedet wurde.

    „Und vergesst bitte nicht, allen Herrschern meinen persönlichen Gruß zu überbringen“, sagte der Hüter, den Arm um die Schulter eines dicklichen, kleinen Mannes gelegt und diesen damit Richtung Türe schiebend. „Ich wünsche euch eine gute und sichere Reise, meine Brüder. Möge die Ewige mit euch sein!“

    Unsicher drückte sich Venia gegen die Wand.

    Die einfachen, ungefärbten Leinenkittel mit den gestickten Borten an den Säumen wiesen jeden dieser Männer als Magier aus.

    Sie verspürte einen Hauch von Ehrfurcht, der sie erschauern ließ.

    Diese Männer würden jetzt zum Erntesegen ausziehen, einer der wichtigsten Aufgaben ihrer Zunft.

    Venia senkte den Blick und versuchte, unsichtbar zu sein, bis sich die Türe hinter dem letzten Magier geschlossen hatte.

    Gleich darauf hörte sie Eliazar erleichtert aufseufzen.

    „Herr?“, fragte sie unsicher.

    „Zweifelsfrei sind Menschen mit magischer Begabung besonders von der Ewigen gesegnet“, sagte der Hüter. „Doch leider ist die seltene magische Fähigkeit nicht immer mit Intelligenz verbunden.“

    Für einen kurzen Moment spielte die Andeutung eines Lächelns um Venias Mundwinkel, doch dann hatte sie sich wieder im Griff. Es stand ihr als Dienerin nicht zu, auf solche Bemerkungen zu reagieren.

    „Was kann ich für dich tun, Herr?“, formulierte sie ihre Frage deutlicher.

    „Es wäre nett, wenn du das gebrauchte Geschirr abräumen könntest“, führte sie der Hüter in sein Schreibzimmer. „Wir waren erst im kleinen Versammlungssaal, solange der frei war, und haben später unseren Tee einfach mitgenommen. Ich hatte nicht erwartet, dass sich die Besprechung so lange hinzieht.“

    Auf dem langen Holztisch in der Mitte des Raumes standen nicht nur gebrauchte Tassen, sondern auch silberne Tabletts, auf denen sich die Reste kleiner Kuchen und erlesenen Konfekts befanden.

    „Aber erst solltest du davon essen, so viel zu kannst!“, forderte der Hüter sie mit einer Handbewegung auf die Köstlichkeiten auf.

    „Wer, ich?“, hauchte Venia erschrocken.

    Der Hüter nickte ihr aufmunternd zu.

    „Die Küche macht immer viel zu viel, und die Köche sind jedes Mal beleidigt, wenn etwas zurück kommt. Ich hoffe, du magst das?“ Venia spürte, wie die Hitze in ihr Gesicht stieg.

    „Ich habe so etwas noch nie gegessen, Herr“, gestand sie.

    „Na, dann wird es aber Zeit! Greif zu! Und was du nicht schaffst, kannst du später in ein Tuch einschlagen und für deine Freunde mitnehmen!“

    Venia lächelte schwach. Sie hatte keine Freunde.

    „Danke, Herr“, knickste sie und nahm sich vorsichtig ein Schokoladenkonfekt. Sie war gespannt, ob es genauso schmeckte, wie es bei der Herstellung in der Küche duftete, und sie wurde nicht enttäuscht.

    „Setz dich ruhig dabei und lass dir Zeit“, sagte der Hüter, der wieder an seinem Schreibpult Platz genommen hatte. „So, wie ich Pollok kenne, hat er dich heute ziemlich in Anspruch genommen. Lass dich davon aber nicht entmutigen. Das wird sich bessern. Wenn er von einer erfolglosen Reise heimkommt, ist er leider besonders schlimm, aber nach ein, zwei Tagen kriegt er sich wieder ein. Er bleibt nicht immer so anstrengend.“

    Erfolglose Reise?

    Überrascht sah Venia auf, doch Eliazar hatte ihr bereits wieder den Rücken zugewandt und öffnete eine Schriftrolle.

    Zögernd nahm Venia ein weiteres Konfekt.

    Offenbar hatte Pollok Geheimnisse vor dem Hüter.

    Unbehagen beschlich sie.

    Vielleicht bereitete der Bibliothekar auch nur eine Überraschung für Eliazar vor, dachte sie, doch das Unbehagen blieb und ließ sich nicht verscheuchen.

    Venia rief sich zur Ordnung.

    Das war ihr erster Tag in ihrer neuen Stellung. Sie würde nicht anfangen, zu tratschen. Aber sie würde Pollok im Auge behalten. So gut es ging jedenfalls. Sollte sie Belege dafür finden, dass etwas nicht stimmte, konnte sie Eliazar immer noch informieren.


    Missmutig starrte Gembries auf seine Ochsen. Auch das noch. Hinz begann auf der linken Hinterhand zu lahmen. Das war dieser verdammten Straße geschuldet.

    Er würde nie verstehen, wie man einen derartig mit Löchern verhunzten Weg in eine Landschaft knallen und ihn dann Straße nennen konnte. Eine Unverschämtheit war das.

    Hinz brauchte Ruhe. Ruhe, eine gute Massage und einen Bauch voll Gras.

    Der Boden war karg geworden. Der felsige Untergrund trat kurz vor der Hügelkuppe näher an die Oberfläche und die Erde bot den Wurzeln größerer Sträucher oder Bäume keinen Platz mehr, auch das Gras sah nicht besonders kräftig aus.

    Naja, die Jungs würden schon etwas zu fressen finden.

    Sanft zog er an den Zügeln, und das Klappern und Scheppern verstummte, als die Ochsen stehen blieben.

    „ So, Schluss für heute!“, sagte Gembries, sprang vom Kutschbock und begann sogleich, die Ochsen auszuschirren.

    Zögernd kam Alastair hinterher.

    „Kann ich dir helfen?“

    „Ja, in dem du mir nicht im Weg herumstehst.“

    Mit geübten Griffen befreite Gembries die Tiere. Kunz ließ sich nicht bitten und suchte sogleich die Wiese auf, Hinz jedoch blieb auf dem Weg stehen, drehte den Kopf und sah Gembries nach, der das Geschirr in den Wagen legte.

    „Muh!“, rief er seinem Herrn fordernd nach.

    „Jaja, ich komm ja gleich“, tönte es genervt aus dem Wagen. „Hetz´ mich nicht!“

    Hinz wedelte unbeeindruckt ein paar Fliegen mit dem Schwanz weg und muhte erneut zum Wagen hin, diesmal lauter.

    „Vorsicht, mor Dure“, sprang Gembries aus dem Wagen, „Ich habe gehört, Ochsenschwanzsuppe soll sehr lecker sein! Lege es nicht drauf an!“, sagte er warnend.

    Zu spät fiel ihm ein, dass er ja nicht mehr alleine unterwegs war. Hatte Alastair etwa gehört, wie er einen Ochsen sein Söhnchen nannte? Hatte er sich gerade zum Gespött gemacht?

    Misstrauisch sah er sich nach dem Jungen um.

    Der stand mit bedrückter Miene im Schatten des Wagens und zuckte unter dem Blick förmlich zusammen.

    „Es tut mir leid“, sagte er mit kläglicher Stimme.

    Gembries verharrte überrascht in der Bewegung. Er war doch wirklich nicht lange im Wagen gewesen?

    „Spuck´s schon aus, was hast du kaputt gemacht?“

    Verstört sah ihn der Junge an.

    „Nichts.“

    „Und was tut dir dann leid?“

    Alastair wich seinem Blick aus, hob unsicher die Schultern und wedelte mit seinen schmalen Händen in der Luft herum.

    „Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, aber ich merke, dass ich dich störe“, brachte er schließlich hervor. „Du hast in den letzten Stunden kein Wort mit mir gesprochen und hast jetzt schlechte Laune. Das tut mir wirklich sehr leid. Ich möchte dir nicht auf die Nerven gehen, aber ich weiß nicht, wie ich das ändern kann.“

    Gembries brauchte ein paar Sekunden, um seine Verblüffung in Worte zu fassen.

    „Spinnst du?“

    Die Unterlippe des Jungen begann zu zittern. Auch das noch! Innerlich seufzte Gembries tief auf. Alastair hatte offensichtlich nicht nur feine Gesichtszüge und eine zierliche Figur, er war auch noch empfindlich wie ein rohes Ei.

    „Ich will dich ja nicht kränken, Fröschlein, aber ich war einfach so tief in meine eigenen Gedanken versunken, dass ich dich darüber völlig vergessen habe. Kommt vor, ich reise normalerweise alleine und bin Schweigen gewohnt. Und ja, ich bin verärgert, aber nicht deinetwegen, sondern wegen dieser Scheiß Straße, deretwegen Hinz ein wenig lahmt. Und weil ich zur Hohen Feste muss, die Zeit war auf meiner Tour nicht eingeplant und kann mich Kunden kosten. Im Übrigen kannst du dich darauf verlassen, dass ich keinerlei Hemmungen haben werde, dir zu sagen, dass du mich nervst, wenn es so ist. Bist du jetzt zufrieden?“

    Er sah die Röte in Alastairs Gesicht schießen. Der Junge nickte stumm, den Blick auf den Boden gesenkt.

    Doch dann hob er hoffnungsvoll den Kopf.

    „Ich könnte Kräuter suchen und für Hinz eine Salbe machen, wenn du ein wenig Fett übrig hast“, sagte er eifrig. „Das würde seinem Bein helfen.“

    Gembries hörte den flehenden Unterton und verstand. Er zwang sich ein Lächeln ab.

    „Eine sehr gute Idee!“, lobte er. „Ich habe tatsächlich noch etwas Fett im Wagen.“

    Der Junge lief los wie erlöst. Gembries sah ihm mit einem bitteren Lächeln hinterher und erinnerte sich daran, wie viel Bestätigung er selbst damals von seinem Meister gebraucht hatte, um zu sich zu finden. Jedes Lob, jedes Vertrauen, dass ihm mit der Übertragung einer Aufgabe entgegengebracht wurde, hatte ihm erlaubt, sich ein Stück von der Last seines vorher lieblos verlaufenen Lebens zu lösen. Er seufzte und blickte in den Himmel.

    „Das nennt man wohl alte Schulden bezahlen“, murmelte er mit einem warmen Gedanken an seinen Meister.

    Es würde ihm nicht leichtfallen, Alastair für die kurze Zeit ihrer gemeinsamen Reise zu beschäftigen, und noch schwerer würde es ihm fallen, seine Aufgaben abzugeben und darauf zu vertrauen, dass der Junge sie vernünftig erledigen würde.

    Oder ruhig zu bleiben, wenn dem nicht so war.

    Gembries runzelte die Stirn. Er würde sich Mühe geben müssen.

    Ein Kopfstoß von Hinz riss ihn aus seinen Gedanken. Geistesabwesend tätschelte er dem Ochsen den Hals.

    „Na, dann wollen wir mal“, murmelte er und machte sich daran, Hinz´ Hinterbein abzutasten.

    Mist.

    Das Knie war geschwollen, die Muskeln bis in die Hüfte hart und verkrampft.

    Mit kräftigen Fingern begann Gembries, den Ochsen zu massieren.

    Die Schwellung des Knies machte ihm Sorgen. Es war nicht das erste Mal, dass Hinz darunter litt. Letzten Herbst hatte er seine Reise deshalb unterbrechen und Hinz in einem Mietstall einstellen müssen. Keine Bewegung, tägliche Massagen und bestes Futter. Eine Woche hatte es gedauert, bis er wieder fit war.

    „Mach keinen Ärger, Junge, du bist doch erst neun!“, murmelte Gembries bedrückt, während er die verkrampften Muskeln knetete. Neun Jahre waren doch kein Alter für einen kräftigen Ochsen wie Hinz. Sein altes Gespann, Rumpel und Pumpel, hatte er erst mit fünfzehn Jahren aufgeben und zu Garid in den Ruhestand schicken müssen, wo sie noch ganze sechs Jahre das Nichtstun auf fetten Weiden genießen konnten, bevor die Ewige sie holte.

    Völlig unbeeindruckt von den Sorgen seines Herrn hatte Hinz den Kopf gesenkt und genoss mit halb geschlossenen Augen die Massage.

    „Siehst du, alles wieder geschmeidig!“, rief Gembries Hinz nach einer Weile aufmunternd zu. „Jetzt sieh zu, dass du auch was in den Bauch bekommst, bevor der Herr Kunz dir den letzten Halm vor der Nase wegschnappt.“

    Mit einem Klaps auf den Hintern entließ er den mächtigen Ochsen, der sogleich hungrig auf die Wiese schritt.

    Normalerweise ging er schneller ans Fressen.

    Gembries blickte ihm stirnrunzelnd nach. Tatsächlich, Hinz schonte seine linke Hinterhand immer noch.

    „Ach Scheiße!“, murmelte Gembries enttäuscht. Eine mehrtägige Pause einlegen zu müssen war das Letzte, nachdem ihm der Sinn stand. Doch nur ein Idiot würde ein Gespann zu Schanden fahren, vor allem hier, am Arsch der Welt.

    Ein hohes Sirren an seinem Ohr machte ihn aufmerksam, wie nah sie den Sümpfen schon waren. Reflexartig schlug er mit der flachen Hand zu und warf einen finsteren Blick zur Hügelkuppe.

    Wahrscheinlich waren sie die ersten seit langem, die sich den Sümpfen näherten.

    Milliarden von Mücken konnten es sicher kaum abwarten, sie freudig zu begrüßen.

    Die Vorhut klebte hoffentlich zermatscht in seinen Haaren, aber er kannte die Biester. Wo eine war, waren die nächsten Tausend auch nicht weit. Warum musste Ruitgar auch ausgerechnet im Frühjahr den Löffel abgeben? Im Winter waren die Sümpfe deutlich angenehmer zu bereisen.

    Um das Maß aller Unannehmlichkeiten voll zu machen, tauchte der Junge wieder auf. Er hielt den Saum seines Hemdes hoch und hatte allerlei Grünzeug darin gesammelt, doch seine Miene kündete von tiefster Verlegenheit.

    „Die Kräuter habe ich zusammen“, sagte Alastair bedrückt, „Aber ich habe leider kein Holz gefunden. Ich müsste einen Sud kochen und diesen hinterher mit dem Fett vermischen, um eine Salbe herstellen zu können.“

    Dabei sah er Gembries an wie ein geprügelter Hund.

    Gembries seufzte schwer bei der Aussicht, mehrere Tage Rast in der Gesellschaft dieses fragilen Jünglings und lästigen Mücken verbringen zu müssen.

    „Alastair, ich bin Kesselflicker“ sagte er mit erzwungener Ruhe. „Als solcher pflege ich, metallene Gegenstände zu reparieren. Metall braucht zu seiner Verarbeitung immer Feuer. Und da ich nicht einen ganzen Baum ständig mit mir herumschleppen kann und will, habe ich zu diesem Zwecke immer Braunkohle im Wagen.“

    „Oh!“

    „Ja. Überraschend, nicht? Wenn du also den Sud vorbereitest und mir noch verrätst, wie lange der Sud kochen muss, werde ich dir ein entsprechendes Feuer machen. Kohle kriegt man nicht überall, und ich setze sie gerne sparsam ein. Kochgefäße hängen im Wagen, den Wasserschlauch kennst du, ich warte also, bis du soweit bist.“

    Der Junge wurde knallrot, senkte den Blick, murmelte „Natürlich!“ und eilte zum Wagen.

    Vielleicht sollte er sparsamer mit spitzen Bemerkungen werden, blickte Gembries ihm nachdenklich hinterher.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Es geht weiter!! :panik:

    Schön, liebe melli , ich befürchtete schon, dass du wieder steckenbleibst.

    Spoiler anzeigen

    Eliazar scheint ein Dienstherr von der netten Sorte zu sein. Und Pollok? Hm, der Typ ist mir suspekt. Hab das Gefühl, da ist was im Busch und Venia wird da hoffentlich nicht mit reingezogen. :/

    Die Küche, die Situation vor dem Mittagessen und die Aufteilung der Speiseräume und Mahlzeiten und auch die Zimmer hast du wundervoll beschrieben. Da lief das Kopfkino richtig gut mit.

    Ich habe nix gefunden, woran ich beim Lesen hängengeblieben wäre. Auch die Gembries/Alastair-Szene war wie aus einem Guss. Sehr schön! Einfach lesen und genießen. :thumbup:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Alastair war kurz vor Sonnenaufgang von Gembries´ Schnarchen wach geworden. Erst hatte er versucht, einfach nur still liegen zu bleiben, um den launischen Kesselflicker bloß nicht vorzeitig zu wecken, doch dann hatte sein Magen laut und vernehmlich zu knurren angefangen.

    Behutsam und so leise wie möglich hatte er sich von seinem Lager erhoben und war im fahlen Dunst des ersten Lichtes an den Rand der Kuppe geschlichen, um zu sehen, wohin sie der heutige Tag führen würde.

    Noch hüllte sich das Tal unter ihm in dichten Nebel, doch mit den ersten Sonnenstrahlen begann dieser in den Himmel zu tanzen und gab den Blick auf Baumkronen frei, deren grünes Laub silbrig blass im weißen Dunst zu schweben schien.

    Knorrige Äste trugen lange Bärte, deren Spitzen in den Halmen hohen Schilfes verschwanden, und an manchen Stellen glitzerte Wasser durch den morgendlichen Dunst.

    Ein Reiher zog majestätisch darüber hinweg.

    „Unberührtes Land, so still und schön, erquickest die Reise meiner Seele, in dir die Liebe und Macht der Ewigen, die mich begleitet“, schoss es Alastair durch den Kopf. Er lächelte. Es geschah selten, dass er so einen Augenblick für sich genießen konnte. Er legte die Hand auf sein Herz und senkte kurz den Kopf, um der Ewigen seinen tief empfundenen Dank auch rituell zum Ausdruck zu bringen. Dann versank er wieder in den Anblick, der sich seinen Augen bot, und empfand einfach nur eine tiefe Freude.

    Das Schnarchen verstummte.

    Alastair drehte sich zum Lagerplatz um und sah, wie Gembries sich aufsetzte, die Haare nach hinten strich und sich eine Stelle am Bartansatz kratzte.

    „Scheiß Mücken“, hörte er ihn leise fluchen.

    Alastair verbiss sich ein Kichern. Im Waisenhaus waren Fluchen und Schimpfworte streng verboten gewesen. Ihn amüsierte die Vorstellung, wie die Hausmutter wohl an seiner Stelle reagieren und vor allem, was Gembries ihr dann antworten würde. Leichtfüßig sprang der Junge auf.

    „Guten Morgen, Gembries!“, rief er auf den Lagerplatz zugehend.

    Doch Gembries drehte sich nicht nach ihm um, sondern schaute weiter über Alastairs leere Decken auf die Wiese.

    „Das glaub ich jetzt nicht!“, stieß der Kesselflicker aus.

    Alastair folgte seinem Blick und fand Hinz, der übermütig wie ein Kälbchen um Kunz herumsprang und diesen zum Spielen zu animieren versuchte. Die Bocksprünge des massigen Tieres sahen so lustig aus, dass Alastair laut auflachen musste.

    „Guten Morgen, Gembries!“, versuchte er es noch einmal.

    „Guten Morgen, Fröschlein!“, kam es überraschend gut gelaunt zurück. Gembries schälte sich aus seinen Decken. „Ich werde mir gleich mal das Knie von Hinz ansehen, deine Salbe scheint ja Wunder gewirkt zu haben!“

    Alastair hörte Begeisterung in seiner Stimme, und zum ersten Mal lag Respekt und Dankbarkeit im Blick seines Begleiters. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Das würde ein guter Tag werden. Ein sehr guter.


    Venia war nur noch wenige Schritte von ihrem Platz entfernt, als Pollok schon wieder klingelte. Ohne eine Miene zu verziehen, drehte sie sich auf dem Absatz um und eilte erneut nach oben. Wenn Pollok Besuch hatte, war es besonders schlimm.

    Eigentlich hätte sie zum Aufwarten ja gleich am Tisch bleiben können, aber das war den Herren nicht recht.

    Sie ließen sie stets eine „Runde“ machen, in der sie Getränke nachfüllte und Essen anbot oder Geschirr abräumte, dann wurde sie von Pollok mit einem hoheitsvollen Nicken für eine unbestimmte Zeit entlassen.

    Venia war sich nicht mehr sicher, ob das Schweigen in ihrer Anwesenheit in unlauteren, geheimnisvollen Gesprächsthemen begründet war oder einfach nur auf simpler Arroganz beruhte.

    Die Herren behandelten sie mit höflicher Herablassung und auch, wenn sie stets den Blick gesenkt hielt, entging ihr das amüsierte Grinsen nicht, das sie manchmal untereinander austauschten, wenn sie zugegen war. Damit konnte sie leben.

    Sie klopfte an, trat ein und knickste.

    Pollok winkte sie zum Tisch, und dort fiel ihr gleich die Bescherung ins Auge. Ein Weinglas war umgefallen und hatte seinen Inhalt auf das Tischtuch verteilt.

    Venia unterdrückte ein Seufzen. Sie würde das Tischtuch wechseln müssen.

    Hoffentlich war noch ein gleichwertiges in der Kammer, weiß, aus Seide mit aufwändigen Stickereien. Darin war Pollok nämlich eigen, wie ihr der Hausmarschall mehrfach eingeschärft hatte.

    Venia holte erst einen Beistellwagen, um den Tisch abdecken zu können. Dabei hielt sie sich streng an die Reihenfolge, wie sie es gelernt hatte, damit später auch jeder Gast sein eigenes Gedeck wieder bekam.

    Eine der silbernen Obstschalen aus der Mitte der Tafel fand keinen Platz mehr auf dem Wagen.

    Venia vergewisserte sich, dass ihr Boden sauber war und stellte sie auf den Schreibtisch. Dann nahm sie die schmutzige Decke herunter und eilte mit ihr in die Kammer.

    Es war bereits so dunkel geworden, dass sie dort eine Öllampe entzünden musste, um den Wäscheschrank zu inspizieren.

    Die Kammer sah furchtbar aus, selbst die Bettwäsche vom Morgen lag noch da. Venia fluchte innerlich auf den Hausdienst, der „die Neue“ auf die Probe zu stellen schien und seufzte erleichtert, als sie eine seidene Tischdecke fand.

    Hastig eilte sie mit dieser zurück, wischte den Tisch mit einem in Leinöl getränktem Tuch sauber und mit einem anderen trocken, brachte die neue Tischdecke auf und begann, den Beistellwagen wieder abzuräumen. Das alles geschah unter dem schweigenden Grinsen der sieben anwesenden Herren.

    Zum Schluss nahm Venia die Obstschale vom Schreibtisch.

    Dabei verrutschte ein Stapel Papier so weit, dass von einem unteren Blatt ein Stück sichtbar wurde.

    Es war nur ein Zeichen darauf abgebildet.

    Venia hatte schon oft Dokumente und Schriften herumliegen sehen. Da sie nicht lesen konnte, hatte sie ihnen nie eine Bedeutung beigemessen.

    Aber dieses eine Zeichen war anders. Es zog ihren Blick magisch an und gab ihr sofort das Gefühl, in einen Strudel gerissen zu werden, der in die Dunkelheit führt.

    Es war zutiefst erschreckend, ekelhaft, widerlich und böse.

    Hastig wandte sie ihren Blick ab, rückte die Papiere unauffällig ordnend zurecht, hoffte, dass niemand etwas bemerkt hatte, stellte die Obstschüssel zurück auf den Tisch und war froh, als Pollok sie nach einem fragenden Blick in die Runde mit einem Nicken entließ.

    Wie betäubt kehrte sie in die Küche zu ihrem Platz zurück.

    Was um alles in der Welt hatte sie da nur gesehen?

    Um sie herum tobte die übliche Geschäftigkeit.

    Nichts, absolut nichts spiegelte ihr Empfinden einer drohenden Gefahr wieder, und doch kam sie nicht gegen die Panik an.

    Unter den Duft von Gewürzen, Speisen und Putzmitteln mischte sich bereits der Geruch von Feuer und verbranntem Fleisch.

    Venia atmete tief durch und versuchte, ihre Gedanken auf andere Wege zu zwingen, um einen hysterischen Anfall zu vermeiden.

    Wie ein Kaleidoskop blitzte ihr alltägliches Leben kurz auf, um unbeachtet in der Versenkung zu verschwinden und sie ratlos zurückzulassen.

    Zurück blieb der unbezwingbare Drang, den Hüter zu warnen.

    Denk nach!

    Sie hatte Polloks Aussage, dass er auf seiner Suche nach irgendwelchen Schriften endlich Erfolg hatte und die Aussage des Hüters, dass Polloks Reise nicht von Erfolg gekrönt war.

    Sie hatte das Gefühl, dass Pollok und seine Besucher möglichst vermieden, sie Zeugin von Gesprächen werden zu lassen.

    Und da war noch der eine Morgen, wo sie kurz die Schmutzwäsche in die Kammer gebracht hatte. Pollok war eindeutig alleine in seinen Räumen gewesen, und Venia ganz alleine auf dem Flur. Doch als sie wenige Sekunden später ins Zimmer zurückkam, war ein Scholar bei Pollok gewesen, dessen Anwesenheit sie sich nicht erklären konnte.

    Und jetzt wollte sie ein „böses Zeichen“ auf einem Stück Papier erkannt haben, dass sich in Polloks Besitz befand, obwohl sie des Lesens nicht kundig war.

    Das war schwach. Ganz schwach.

    Vielleicht machte sich hier ja auch nur eine Überforderung mit ihrer neuen Stellung bemerkbar, die sie sich nie im Leben hätte eingestehen wollen.

    Ihre Angst, zu versagen und gedemütigt zu werden, einen erneuten Beweis ihrer Wertlosigkeit zu erhalten.

    Die Panik ließ nach, der Geruch nach Feuer und verbranntem Fleisch wurde schwächer und verlor schließlich gegen den Duft frisch gekochter Erdbeermarmelade.

    Venia fand zurück ins hier und jetzt.

    Wie eine Rüstung legte sich wohltuende Gleichgültigkeit um ihre Seele.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

    2 Mal editiert, zuletzt von melli (27. Juni 2021 um 23:02)

  • Hey melli , das geht ja spannend weiter. ^^

    Spoiler anzeigen

    Hinz geht's gut, na ein Glück. Und Alastair ist im Moment rundum zufrieden. Das ist auch schön. Sogar Gembries scheint an dem Morgen seine Brummigkeit abgelegt zu haben.

    Aber dann Venia ... :/ Hoffentlich erfährt Pollok nicht, dass sie eine ganze Menge mitbekommen hat von etwas, was wohl niemand anders erfahren soll.

    Zurück blieb der unbezwingbare Drang, den Hüter zu warnen.

    Na dann geh, Mädel! Muss denn erst was Schlimmes passieren. Eliaszar ist doch ein netter Kerl, er reißt dir sicher nicht den Kopf ab.

    Wie eine Rüstung legte sich wohltuende Gleichgültigkeit um ihre Seele.

    Oh nein, das ist schlecht. Das ist ganz schlecht ... X/

    Zwei Sachen sind mir noch aufgefallen.

    „Guten Morgen, Fröschlein!“, schälte sich Gembries aus seinen Decken.

    Hier würde ich vom Bauchgefühl her ein "Mit einem grummeligen/mürrischen" vor das "Guten Morgen, Fröschlein" setzen (Komma vor "schälte" dann weglassen). Denn das Wort "Schälen" ist kein Synonym für" sagen/sprechen", was ja eigentlich im Begleitsatz enthalten sein muss. Eine Möglichkeit wäre auch "..., sagte Gembries und schälte sich aus seinen Decken".

    oder einfach nur auf simpler Arroganz beruhte

    Hm. Venia ist eine Wäscherin und Küchenhilfe. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass sie das Wort Arroganz und seine Bedeutung kennt. Und das wird mir suggeriert, weil es in ihren Gedanken vorkommt. Oder habe ich das falsch interpretiert?

    Nächster Teil bitte. :thumbsup:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Hi Tariq,

    freut mich, dass es dir gefällt. Ja, ich plane Übles :D , aber ich will das nicht so platt machen wie in meiner ersten Version. In der hatte Venia (damals hieß sie Nisha) nämlich "alle finsteren Pläne" zuuufällig belauscht :patsch:. Auch in Folge kränkelte die Geschichte daran, dass ich "das Böse" ziemlich klischeehaft und ohne großen Hintergrund geschrieben habe. Darüber hab ich viel nachgedacht und einige Ideen gefunden, wie ich das ändern könnte. Ich hoffe, das gelingt mir. :saint:

    Spoiler anzeigen

    die Stelle mit Gembries hab ich verbessert. Bei Venia denke ich aber, dass sie das Wort Arroganz inklusive Bedeutung beim "Personal" aufgeschnappt haben kann? Ein möglicher anderer Begriff wäre "Hochmut", aber ich finde, der trifft die Situation nicht so ganz....

    LG

    melli


    Langsam wurde es ruhiger in der Küche, die Gespräche leiser, die ersten Bediensteten waren schon in ihre Schlafkammern gegangen.

    Venia hatte sich die ganze Zeit nicht bewegt und ausdruckslos auf ihrem Platz ins Leere gestarrt. Ihr entgingen die Blicke, die sich andere deswegen heimlich zuwarfen.

    Als Pollok klingelte, erhob sie sich wie eine Marionette und eilte hinauf.

    Klopfen, eintreten, knicksen.

    Sein Besuch war weg.

    „Du kannst jetzt hier aufräumen“, sagte Pollok gnädig, „Und vergiss die heißen Steine für mein Bett nicht, es ist kühl geworden. Trotzdem möchte ich, dass dieses Zimmer hier gelüftet wird. Ich werde noch etwas in der Bibliothek verweilen, ich glaube nicht, dass ich dich später noch brauchen werde.“

    „Ja, Herr. Danke Herr. Gute Nacht, Herr“, knickste Venia erneut, bemüht, sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen.

    Pollok suchte abends häufig die Bibliothek auf, um sich mit Rotwein die nötige Bettschwere zu verschaffen. Sie würde ihn nicht vermissen.

    Kaum hörte sie die Türe klappen, atmete sie auf.

    Vielleicht sollte sie das Papier mit dem Zeichen an sich nehmen und zu Eliazar bringen?

    Sofort beschleunigte sich ihr Herzschlag.

    Doch als ihr Blick auf den Schreibtisch fiel, lagen dort keine Papiere mehr. Der ganze Stapel war verschwunden.

    Verstört blickte sie auf die leere Stelle.

    Sie konnte sich noch nicht einmal sicher sein, dass diese Papiere überhaupt Pollok gehörten. Vielleicht hatte einer seiner Gäste sie mitgebracht und für die Dauer seines Besuches dort abgelegt.

    Venia nagte an ihrer Lippe, während die das Geschirr zusammenstellte.

    Vielleicht … sie versuchte, sich genau an das Zeichen zu erinnern, aber es gelang ihr nicht. Es waren vier schwarze Linien gewesen, die ein offenes Viereck bildeten, aber keine der Linien war gerade verlaufen, jede hatte ihre eigenen Wellen und Schnörkel gehabt und daneben waren auch ein paar Punkte gewesen.

    Normalerweise hatte sie ein gutes Gedächtnis, vor allem für Dinge, die sie gesehen hatte, aber jetzt war es ihr, als entzöge sich das Zeichen ihrem Zugriff.

    Allein bei dem Versuch, sich seine Linien genau vor Augen zu rufen, wurde ihr schwindelig. So sehr, dass sie bei einem halbvollen Glas roten Weins daneben griff.

    Es fiel um und versaute die zweite Decke. Frustriert stöhnte Venia auf.

    Nein, sie würde es nicht schaffen, dieses Ding aus dem Gedächtnis heraus nachzumalen. Und ein Gefühl sagte ihr, dass es auch gut so war. Es gab Dinge, von denen man die Finger lassen sollte. Dieses Zeichen gehörte ganz sicher dazu.

    Venia riss die Flügel des Fensters auf und sog die frische, kühle Luft in tiefen Zügen ein. Ihr Schwindel ließ nach.

    Es wurde Zeit, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, wenn sie schnell fertig werden wollte. Sie hatte die Steine noch gar nicht ins Feuer gelegt, die könnten doch schon heiß werden, während sie sich um den Tisch kümmerte.

    In Gedanken ordnete Venia die Arbeitsabläufe und legte los. Erst, als sie fertig war, kehrte ihre Beklemmung zurück. Ein letzter kritischer Blick in alle Räume verschaffte ihr die Zeit, sich innerlich für den nächsten Schritt zu wappnen.

    Sie würde den Hüter aufsuchen.

    Zwar war es schon spät, aber Eliazar würde sicher noch wach sein.

    Genau, sie würde ihn auch gar nicht erst fragen, ob er noch etwas wünsche, denn dann würde er daraus schließen, dass sie zu Bett gehen wollte und verneinen, sondern sie würde das Kaminfeuer kontrollieren.

    Noch bevor sie der Mut verlassen konnte, klopfte sie an seiner Türe an und trat ein.

    Der Hüter saß wie erwartet noch arbeitend an seinem Schreibtisch und drehte sich kurz um, um den späten Gast in Augenschein zu nehmen.

    „Oh, hallo Venia“, sagte er beiläufig und fuhr dann fort, auf ein Papier zu schreiben.

    „Ich wollte nach dem Feuer sehen, Herr, es ist kalt geworden!“, begründete sie ihr Auftauchen.

    „Danke, das ist lieb“, erwiderte er, ohne das Schreiben zu unterbrechen.

    Venia ging zum Kamin, stocherte mit dem Schürhaken ein wenig in den Flammen herum und legte ein paar Scheite dazu. Ihre Hände zitterten leicht. Sollte sie jetzt einfach plump ihr Anliegen vortragen und riskieren, dass er ihr vielleicht gar nicht richtig zuhörte, oder sollte sie auf einen günstigeren Zeitpunkt warten? Auf einen Moment, wo der Hüter nicht so beschäftigt und zum Plaudern aufgelegt war?

    Ratlos starrte sie ins Feuer.

    Bring es endlich hinter dich! Venia holte tief Luft und drehte sich noch in der Hocke um.

    In genau diesem Moment flog die Türe auf und ein fremder Mann stürmte herein. Seine gute Kleidung war verschmutzt, sein Gesicht das eines Getriebenen. Eliazar fuhr herum und runzelte in Erwartung schlechter Nachrichten die Stirn. Der Fremde hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. „Es bahnt sich eine Katastrophe an“, eröffnete er formlos das Gespräch. „Alasthorn hat Jondaril erschlagen. Jiron sinnt auf Blutrache!“

    Venia kannte keinen der Namen, aber das Entsetzen auf den Zügen des Hüters ließ sie ihr Anliegen sofort zurückstellen. Morgen war auch noch ein Tag.

    Eliazar nickte ihr dankend zu, als er den Boten bat, sich zu setzen. Sie war entlassen.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

    2 Mal editiert, zuletzt von melli (16. September 2021 um 15:16) aus folgendem Grund: Ein Beitrag von melli mit diesem Beitrag zusammengefügt.

  • Ach so ein Mist. Da hatte sie sich endlich durchgerungen und dann so was! X/

    Naja, vielleicht ergibt sich später nochmal eine Möglichkeit. Ich finde es jedenfalls gut, dass sie schon mal den Entschluss gefasst hat.

    Und was mag diese unerwartete Nachricht bedeuten?

    Ich finde das sehr gut, dass du den Leser hier genauso mit Worten und Fakten und Namen bombardierst wie Venia. Zurück bleiben nur Fragezeichen. Gefällt mir. Teasert mich mächtig an!!

    Kann weitergehen! :thumbup:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Hallo melli ,

    habe hier schon länger nicht mehr kommentiert oder mitgelesen, aber hab das jetzt endlich mal nachgeholt und bin auf dem aktuellen Stand :D

    Ich mag die beiden Handlungsstränge, sie sind sehr verschiedenen, auch was die Interaktionen zwischen den jeweils handelnden Personen betrifft, aber sehr spannend und interessant geschrieben. Alastair scheint auch gut Fähigkeiten zu haben, die Gembries sehr nützlich sein könnten, auch im weiteren Verlauf der Geschichte.

    Eliazar und Venia sind mir sehr sympathisch. Nur bei Pollok weiß ich noch nicht so recht, er wird ja eher als der schlechte Gegensatz dargestellt, aber so richtig kam das für mich noch nicht so rüber. Naja so wirklich viel Handlung hatte er ja auch noch nicht, wo sein Charakter richtig gezeichnet werden konnte, wird sich also noch entwickeln, vermute ich mal.

  • Spoiler anzeigen

    So langsam könnte ich "Alle Jahre wieder" trällern, wenn ich etwas poste. Schande über mich. :blush: Aber nein, ich hab es nicht drangegeben. Meine Schreiberei hat sich verändert. "Früher" bin ich munter aufs Eis, mit Tempo durch die Geschichte gerutscht und irgendwann auf die Schnauze geflogen. Jetzt bin ich zum "Grübler" geworden. Wie eine Kuh käue ich die Geschichte geistig wieder und wieder durch, suche nach Szenen, die mir deutlich machen, wie ich meine Charaktere haben will, wie sich die Geschichte entwickeln soll, wie ich das alles verbinden kann, blablabla. Es ist nicht leicht für eine angegraute Hobby Schreiberin wie mich, im do-it-yourself - Verfahren eine komplexe Idee so zu Papier zu bringen, dass ich hinterher das Gefühl habe, das wirklich Optimale aus meiner Idee/ meinen Hirngespinsten heraus geholt zu haben. Und tatsächlich fallen mir immer neue Dinge ein, die der Geschichte einen Weg geben - natürlich viel schneller, als ich sie aufschreiben kann (wer kennt das nicht). Diese Ideen rieseln wie Mehl und ich siebe und siebe und versuche, daraus einen Kuchen zu backen. Insgesamt sind meine Ideen soweit gediehen, dass ich mal wieder ein kleines Stückchen auf dem Eis zurücklegen werde. Ich hoffe, es rutscht noch jemand mit. :D

    Nach einer unruhigen Nacht mit viel zu wenig Schlaf und schlechten Träumen begann Venias Tag ganz anders, als sie es erwartet hatte. Pollok klingelte noch vor Sonnenaufgang und tat ihr kund, dass er für ein paar Tage verreisen wolle.

    „Ich habe hier eine Liste der Roben gemacht, die ich mitnehmen möchte – ach, ich vergaß, du kannst ja nicht lesen?“

    Verärgert sah er auf sie herunter.

    „Nein, Herr“, murmelte Venia errötend. „Wenn du sie mir bitte vorlesen würdest?“

    Wütend schnaubend schritt Pollok in seine Ankleide und begann, Roben und Wäsche unsanft von den Bügeln zu zerren und aus den Fächern zu reißen. Dann warf er den Haufen auf das Bett.

    „Das werde ich alles mitnehmen. Nach dem Mittagessen breche ich auf, ich erwarte, dass ich mich auf dich verlassen kann.“

    „Ja, Herr“, murmelte Venia und senkte den Blick, um ihre jäh aufflammende Abneigung zu verbergen.

    Pollok zog sich an seinen Schreibtisch zurück, wo er verschiedene Papiere überflog und sortierte, während Venia mit einem leisen Seufzen den Berg von Wäsche in Augenschein nahm, den er ihr hingeworfen hatte.

    Für ein paar Tage?

    Es gab sicher Könige, die weniger Kleidung besaßen als das, was sich nun ungeordnet auf der Bettdecke türmte. Und wie sie schon befürchtet hatte, war durch Polloks grobes Raffen alle Kleidung aus Seide und feiner Baumwolle zerdrückt und zerknittert.

    Venia biss sich auf die Lippe.

    Entschlossen holte sie einen Korb aus der Kammer und sortierte die Wäsche danach, was erneut gebügelt werden musste und was nicht.

    Wenigstens würde sie in den nächsten Tagen Ruhe vor ihm haben, tröstete sie sich. Prüfend glitt ihr Blick über ein seidenes Nachthemd. Nein, das musste auch mit. Sie legte es so glatt wie möglich zusammen und in den Korb, dann eilte sie mit der Wäsche die Treppen herunter.

    Auch in Polloks Abwesenheit würde sie seine Räume aufsuchen müssen, um Staub zu wischen, zu lüften und um Feuer im Kamin zu machen, wenn es kalt und feucht wurde.

    Das wäre für sie doch die Gelegenheit, nach den Schriften mit den hässlichen Zeichen zu suchen. Da er ja wusste, dass sie des Lesens unkundig war und als einzige seine Räume betreten würde, hatte er sich vielleicht nicht sonderlich Mühe gemacht, sie zu verbergen. Und wenn sie so eine Schrift fand, könnte sie dem Hüter etwas Konkretes zur Beurteilung vorlegen.

    Ihr Plan ließ sie Aufregung und Erleichterung zugleich verspüren.

    Ja, so würde sie es machen.

    Aufrecht und entschlossen rauschte Venia in die Küche hinein, wo die Köchin und der Hausmarschall gerade das Personal einteilten. Venias Stellung erlaubte ihr, Weisungen zu geben. Bisher hatte sie davon nie Gebrauch gemacht, umso verblüffender war ihre Ruhe, als sie dem Hausmarschall den Korb in die Hände drückte.

    „Bitte sorge dafür, dass diese Wäsche so schnell wie möglich gebügelt wird“, sagte sie mit fester Stimme. „ Der Bibliothekar möchte sie heute Mittag mitnehmen, wenn er zu einer Reise aufbricht.“

    Sie spürte die Welle der Feindseligkeit, die ihr die Menge des Personals stumm entgegenbrachte.

    Ohne auf eine Erwiderung zu warten, drehte sie sich unangenehm berührt um und eilte zurück, um im oberen Abstellraum nach Polloks Reisetruhen zu suchen. Sie fand sie auf Anhieb.

    Zusätzlich zum Emblem der Hohen Feste, den sieben Türmen auf weißem Grund, hatte Pollok sein Familienwappen darauf prägen lassen, gekreuzte schwarze Schwerter auf einem blutroten Eichenblatt.

    Das Wappen war Venia vertraut, es zierte als Stickerei seine Bettvorhänge, prangte auf einem Schild an der Wand, auf einem Siegelring und kennzeichnete gestickt die Säume seine Kleidung.

    Der Bibliothekar besaß mehrere Reisetruhen. Venia nahm sich die Größte, fand sie überraschend leicht und brachte sie nach kurzem Anklopfen in seine Räume.

    Er war nicht mehr da, stellte sie erleichtert fest.

    Ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass der Himmel bereits heller wurde.

    Normalerweise richtete sie bei Tagesanbruch erst die Räume des Hüters. Heute würde sie aber eine Ausnahme machen. Eliazar hatte gestern einen späten Gast gehabt und würde vielleicht etwas länger schlafen wollen. Zudem, dachte sie mit einem warmen Gefühl, würde er sich sicher nicht beschweren, wenn er mal an zweiter Stelle käme.

    Der angehende Tag erweckte die Hohe Feste zu neuem Leben. Venia öffnete einen Fensterflügel und ließ die frische, kühle Luft herein. Vielstimmer Vogelgesang begrüßte den jungen Morgen, in den Fluren hörte sie die Schritte der Diener und das Klappen der Türen. Bald würde Frühstück im oberen Saal serviert werden.

    Nachdenklich legte Venia die letzte Robe zusammen, die noch in diese Truhe passte. Sie würde eine zweite brauchen. Auf dem Weg zur Abstellkammer könnte sie kurz einen Blick in die Räume des Hüters werfen und gleich Holz in seinem Kamin nachlegen. Eliazar hatte noch nie ein Frühstück im Saal verpasst, und er sollte wenigstens nicht frieren müssen, wenn er sein Bett verließ.

    Doch kaum hatte sie diesen Gedanken gefasst, kehrte Pollok mit vier Männern zurück.

    Sie setzten sich plaudernd und lachend an den großen Tisch.

    „Venia, ich werde zum Abschied heute mit meinen Freunden hier frühstücken. Sei so gut, decke den Tisch ein und serviere.“

    Venia knickste und machte sich mit einem Gefühl der Resignation an die Arbeit. Der Hüter würde noch warten müssen.

    Zwei der Gäste trugen die Gewänder der Scholare. Da die magisch begabten Schüler ihren Meistern zum Erntesegen gefolgt waren, mussten diese beiden für die Allgemeinbildung zuständig sein. Venia hoffte, dass der Unterricht für die zahlende Schülerschar bald begann.

    Die beiden anderen Gäste trugen die Uniform der Burgwache, allerdings in einer so prunkvollen Version, dass sie dort wohl höhere Positionen bekleideten. Trotzdem zeigten sie Pollok gegenüber äußersten Respekt, ja, geradezu Unterwürfigkeit, genau wie die Scholare.

    Dem Bibliothekaren schien dies zu gefallen, er war ganz in seinem Element, gab kleine Reiseanekdoten zum Besten und dirigierte nebenbei Venia mit kleinen Handbewegungen zu leeren Bechern oder Tellern. Die Scholare verließen endlich unter vielen guten Wünschen für eine erfolgreiche Reise die Tafel, als es Zeit für den Unterricht war, doch die Wachen bewiesen Sitzfleisch.

    Längst war das Frühstück in der großen Halle abgeräumt, jeder in der Hohen Feste ging seinen Aufgaben nach, nur die beiden saßen immer noch völlig entspannt auf ihren Stühlen und tauschten mit Pollok amüsante Nichtigkeiten aus.

    Venia spürte ihre wachsende Nervosität.

    Es ärgerte sie, dass Pollok sie immer noch nicht entlassen hatte und sie nun ihre Zeit damit vertrödeln musste, in der Ecke zu stehen, nur, um nach einer gefühlten Ewigkeit eine Teetasse neu zu füllen oder die Platte mit Konfekt nochmal zu reichen. Sie hatte zu tun! Nicht nur, dass sie sich noch um die gebügelten Sachen, das weitere Packen und Polloks Räume zu kümmern hatte, sie konnte auch unmöglich den Räumen des Hüters ganz fernbleiben.

    Schon läutete die Glocke im kleinen Turm zur ersten Pause, demnach war es elf Uhr.

    „Oh, schon so spät?“, bemerkte Pollok überrascht.

    Venia vermied es, sich auf die Lippe zu beißen. Für sie klang die Glocke nach ihrem persönlichen Untergang.

    „Wir möchten dich auch nicht länger aufhalten“, erwiderte eine der Wachen beflissen, und endlich, der Ewigen sei Dank, erhoben sich die beiden Figuren und Pollok entließ noch vor deren blumigen Abschiedsworten Venia mit einem Nicken.

    Erleichtert ging sie, bevor ihm etwas weiteres einfallen konnte, was sie bitte jetzt sofort zu erledigen habe.

    Als erstes würde sie … irritiert brachen Venias Gedanken ab.

    Es war normal, dass sich die Gelehrten der Feste zur Pause in den kleinen Teesaal begaben.

    Aber es war nicht normal, dass alle auf eine Dienerin guckten, sobald sie sich blicken ließ.

    Tatsächlich schien sie in dem Moment, indem sie vor die Türe trat, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Irritiert sah sie sich um. Die meisten wandten sofort ihren Blick ab und setzten ihren Weg fort.

    Doch ein älterer, kleiner Mann kam mit besorgtem Stirnrunzeln auf sie zu und sprach sie an.

    „Sag, ist dem Hüter nicht wohl heute?“

    Oh, nein! Der Hüter war ein alter Mann und sie hatte heute noch nicht nach ihm gesehen!

    Eine entsetzliche Vorahnung hinderte sie an einer Antwort.

    Venia starrte den Mann nur zutiefst erschrocken an und eilte in der nächsten Sekunde davon.

    Als sie nach kurzem Klopfen die Räume des Hüters betrat, traf deren Dunkelheit und Kälte ihren Magen wie eine eisige Faust.

    Die Vorhänge waren nicht zurückgezogen und Eliazar hatte keinen Scheit selbst in den Kamin gelegt.

    Er hatte noch nie so lange geschlafen.

    Panische Angst vor dem, was sie gleich entdecken könnte, ließ sie zittern.

    „Hüter?“

    Ihre Frage klang wie ein Flehen, welches nicht erhört wurde. Es blieb still. Mit unsicheren Schritten und wild klopfendem Herzen suchte Venia sein Schlafgemach auf. Auch hier waren die schweren Vorhänge noch zugezogen, doch durch die Ritzen fiel genug Licht, dass sie die Umrisse eines Körpers unter den weißen Laken erkennen konnte. Ihre Hoffnung, Eliazar sei mit dem Boten der letzten Nacht aufgebrochen, zerfiel zu Staub.

    Venia hielt den Atem an. Es blieb totenstill.

    „Hüter?“, wimmerte sie.

    Gefangen in einem Albtraum ging Venia zum Fenster und zog die Vorhänge zurück.

    Sie wusste schon vorher, dass sie gar nicht sehen wollte, was das Tageslicht ihr offenbaren würde.

    Sie wollte nicht hier sein.

    Sie wollte nicht diejenige sein, die ihn findet.

    Und doch zögerte sie nur eine Sekunde, bevor sie sich umdrehte.

    Eliazar lag weiß wie seine Laken und vollkommen starr auf dem Rücken, die rechte Hand auf seinem Herzen.

    Sein schmales Gesicht mit der langen Nase, den hohen Wangenknochen und den leicht hervorstehenden Augen zeigte die friedliche, hoheitsvolle Würde, die ihn im Leben ausgezeichnet hatte.

    Und doch war an dem Bild, dass sich ihren Augen bot, etwas falsch.

    Zitternd streckten sich ihre Finger nach seinen Haaren aus, die genauso starr wirkten wie der Hüter selbst.

    Und trafen auf Stein.

    Ganz kurz blitzten in ihrem Hinterkopf all die Geschichten auf, die sie je über Zwergenflüche gehört hatte, dann zog sie ein jäher Schwindel in einen Abgrund. Es roch stark nach Feuer und verbranntem Fleisch, sie konnte die Schreie wieder hören, bis ihr eigener Schrei alles übertönte.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Ich bin noch dabei, liebe melli , und es ist schön, wieder einen neuen Part lesen zu können. :)

    Spoiler anzeigen


    Mich wundert es schon, dass ein simpler Bibliothekar eine derart hohen Rang bekleidet, dass das Kammermädchen wegen seiner Wünsche ihre Aufgaben beim Hüter vernachlässigen bzw. zurückstellen muss. Zumindest ist das so bei mir angekommen. Oder traut sich Venia nur nicht, Pollok eine Abfuhr zu geben und erstmal nach Eliazars Wünschen zu fragen? Wenn ja, könnte man das vielleicht etwas deutlicher machen. Auf mich wirkt es - wie gesagt - so, dass Pollok rangmäßig über Eliazar steht und deshalb seine Wünsche Vorrang haben.

    Venias Gefühlsleben hast du hier super beschrieben, man kann prima mit ihr mitleiden. Nicht nur die herablassende Art von Pollok, sondern auch das angefeindet werden vom Personal macht ihr zu schaffen. Trotzdem bleibt sie stark.

    Tja, bis zu dem Moment, in dem sie Eliazar findet. Ich als Leser kann ihr Entsetzen förmlich fühlen, als sie merkt, dass er tot ist. Und dann noch die Berührung von Stein. Klingt, als sei hier Magie am Werk gewesen. Woher der Geruch kommt, kann ich im Moment noch nicht einschätzen, aber ich vermute mal, da wird eine Erklärung kommen.

    Außerdem bin ich gespannt, ob sie die Schriften mit dem Zeichen nochmal findet. :newspaper:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Danke, das freut mich :love: .

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    "Mich wundert es schon, dass ein simpler Bibliothekar eine derart hohen Rang bekleidet, dass das Kammermädchen wegen seiner Wünsche ihre Aufgaben beim Hüter vernachlässigen bzw. zurückstellen muss. "

    Ich hab es bisher im Text nur angerissen, weil ich den "Erklärbär" nicht überstrapazieren wollte. Eliazar stammt aus sehr einfachen Verhältnissen, ist bescheiden geblieben und hat "Dienerschaft" mehr pro Forma, weil es sich so gehört - aber er macht auch noch vieles selbst, wenn Venia gerade nicht da ist.

    Pollok ist ein jüngerer Königssohn und mit Pracht und Prunk aufgewachsen, es gehört zu seinem Selbstverständnis, von vorne bis hinten bedient zu werden. Nur eine Dienerin zu haben und die auch noch teilen zu müssen, ist ihm viel zu wenig. Sein "Dienerin völlig für sich beanspruchen" ist seine kleine, persönliche Revolte gegen die erzwungene Bescheidenheit.

    Als Bibliothekar bekleidet er das höchste nichtmagische Amt der Hohen Feste.

    Ich wusste nicht, wie ich diese Infos beiläufig in Venias Gedankengänge bringen konnte. Aber vielleicht ergibt sich später die Möglichkeit, diese Aspekte noch einzuflechten.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • melli

    Ich hab es bisher im Text nur angerissen, weil ich den "Erklärbär" nicht überstrapazieren wollte.

    Ich wusste nicht, wie ich diese Infos beiläufig in Venias Gedankengänge bringen konnte. Aber vielleicht ergibt sich später die Möglichkeit, diese Aspekte noch einzuflechten.

    Das ist nachvollziehbar. Deine Erklärung beantwortet meine Frage.

    Vielleicht könntest du sie ein wenig verstecken? Da Venia bislang eine Wäscherin war, wäre es vielleicht möglich, dass sie sich selbst darüber wundert und vielleicht sogar jemanden (den Haushofmeister?) fragt, was sie tun soll, weil sie nicht weiß, wessen Wünsche sie vorrangig zu erfüllen hat. (Hilfe, was für ein Schachtelsatz ...) Ich könnte ihr Dilemma verstehen, denn als neues Hausmädchen würde ich auch nichts falsch machen wollen.

    Ansonsten - es kann gerne weitergehen. Vielleicht bis du ja mit Mehlsieben inzwischen fertig und schon fleißig am Teigkneten :D

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Die Luft war kühl und feucht und roch intensiv nach altem Grün. Noch hatte die blasse Morgensonne den Boden nicht erreicht. Dichter Nebel lag zwischen den bemoosten Stämmen großer Bäume, stieg mit den ersten wärmenden Strahlen des flirrenden Lichtes in ihre gewaltigen Kronen auf, umspielte die filigranen Strukturen der langen Flechten und schmückte sie mit kleinen glitzernden Wassertröpfchen.

    Es gab keine scharfen Konturen und die Stille dieses Ortes war so beherrschend, dass selbst das Klappern des Wagens nahezu verstummt war.

    Außer einem leisen, rhythmischen Knarren, dem stumpfen Stampfen der Ochsen und dem Summen der zwei Fliegen, die Gembries´ Bart umkreisten, war nichts zu hören.

    Alastair erschauerte.

    Nie zuvor hatte er an einem Ort die geheimnisvolle Macht der Alten so deutlich gespürt wie an diesem. Zum ersten Mal fragte er sich, ob sie wirklich alle mit den Bann verschwunden waren, oder ob der Bann nur ein Zauber war, der sie vor den Augen der Menschen verbarg.

    Er dachte an die Geschichten von den Wildwäldern, die an den Feuern erzählt wurden, über die Menschen, die darin auf immer verschwanden oder die jung hinein gingen und kurze Zeit später alt wieder herauskamen und nicht sagen konnten, was ihnen widerfahren war.

    An das Zwergenreich, das all die Menschen, die es erforschen wollten, für immer verschluckt hatte. Es waren nicht wenige gewesen, die, verleitet vom sagenhaften Reichtum der Zwerge, in deren Reich vorzudringen versucht hatten.

    Und er dachte an die Geschichten über die alten Sümpfe, in denen Nachts seltsame Lichter tanzten und in denen ein Mensch schneller versank als ein Stein im Wasser.

    Bestimmt war das hier so ein alter Sumpf.

    Alastair fragte sich, ob die Baumriesen noch die Alten selbst gesehen hatten, die Gnome, die in den Sümpfen lebten, die Feen, Elben und Zwerge, die sie um Heilung ersuchten. Und die Schatten, die versucht hatten, diese Welt zu erobern, bis der Bann sie vertrieb.

    Waren sie stumme Zeitzeugen, Hüter eines Wissens, dass den Menschen verloren gegangen war, Wächter der Toten und vielleicht auch Tore zu einer verborgenen Welt?

    Erneut erschauerte der Junge.

    „Nimm dir doch eine Decke, wenn dir kalt ist“, riss Gembries ihn aus seinen Gedanken.

    „Danke, aber mir ist gar nicht wirklich kalt. Es ist nur – findest du diese Gegend nicht auch ein wenig unheimlich? Als wären die Alten noch hier?“

    Gembries zog die Augenbrauen hoch und warf ihm einen kurzen Blick von der Seite zu.

    „Falls du dir Sorgen machst, dass gleich ein Gnom hinter einem Baum hervor springt, kann ich dich beruhigen“, sagte er. „Mir ist noch keiner begegnet, und ich bin wahrlich nicht zum ersten Mal in dieser Scheißgegend.“

    Alastair wurde rot.

    „Also ich finde es eigentlich sonst sehr schön hier“, murmelte er verlegen. „Sieh doch nur, wie der Tau in den langen Bärten der Bäume funkelt. Und es ist so ruhig und still. Wie eine eigene, verwunschene Welt.“

    Gembries schnaubte.

    „Genieße die Ruhe. Wenn die Frösche erst mal wach werden, ist es vorbei damit. Die quaken dir die Ohren ab, besonders um diese Jahreszeit.“

    „Glaubst du, hier haben früher Gnome gelebt?“

    „Das glaub ich nicht nur, das weiß ich sogar. Das hier sind die Sümpfe von Alryss. Nirgendwo gab es mehr Gnome als hier. Man sagt sogar, Alryss hätte sie geboren.“

    Alastair klappte die Kinnlade herunter. Ehrfurcht mischte sich in den Blick, mit dem er die Bäume erneut betrachtete.

    Die sagenhaften Sümpfe von Alryss. Nie hätte er geglaubt, sie zu Gesicht zu bekommen.

    Kein Wunder, dass ihm die Gegend so mystisch erschien.

    „Ich wünschte, Muma wäre hier und könnte das sehen“, seufzte er. „Sie hat die Gnome sehr verehrt. Nicht nur, weil sie die besten Heiler waren, sondern auch wegen ihrer Friedfertigkeit. Wusstest du, dass die Gnome jedem Leben mit Respekt entgegentraten? Sie haben nie getötet, noch nicht mal Tiere. Muma sagte immer, demütiger könnte man nicht seine Verehrung für die Ewige zum Ausdruck bringen. Alles, was sie erschaffen hat, war den Gnomen heilig. Eine sehr beeindruckende Philosophie, findest du nicht?“

    Alastair hatte nicht verhindern können, dass man seiner Stimme die Begeisterung anhörte. Zu spät fiel ihm ein, dass er sein Leben dem Umstand verdankte, dass Gembries kein Problem mit dem Töten hatte.

    Erschrocken hielt er inne und spürte Scham.

    Keinesfalls hatte es in seiner Absicht gelegen, undankbar zu wirken.

    „Nicht nur die Geschöpfe der Ewigen waren ihnen heilig, sie haben auch die Schatten nicht angerührt“, knurrte Gembries nach einem peinlichen Moment der Stille. „Eine Philosophie zu haben ist ja gut und schön , aber man muss sich schon wehren können. Und das konnten die Gnome nicht.“

    „Da hast du natürlich vollkommen recht“, pflichtete Alastair ihm hastig bei, um dann nach kurzer Pause nachzufragen „Aber warum konnten sie sich nicht wehren? Sie hatten doch Magie!“

    „Sie waren wohl der Meinung, ihre Heilermagie nicht mit Gewalt beschmutzen zu dürfen oder so. Genaueres können dir die Gelehrten dazu sagen. Ich weiß nur, dass man in den Schänken bis heute noch Witze über die Gnome reißt. Wie den hier: Woran erkennst du, dass deine Faust einen Gnom erwischt hat? Sobald er wieder wach ist, wird er nach deiner Hand sehen wollen.“

    Der Witz kam nicht an.

    „Heißt das, all die Gnome die hier lebten, haben sich einfach von den Schatten umbringen lassen?“, fragte Alastair verstört.

    „Woher soll ich das denn wissen, war ich dabei?“

    Alastair senkte den Blick und schüttelte den Kopf.

    „Nein, natürlich nicht“, murmelte er leise. „Entschuldige, das war eine dumme Frage.“

    Gembries seufzte.

    „Dumm waren weder deine Frage noch die Heiler, dumm bin höchstens ich, weil ich es nicht weiß und nur vermuten kann. Ist dir die Straße schon aufgefallen? Auch wenn jede Menge altes Laub auf ihr liegt, muss dir doch aufgefallen sein, wie ruhig der Wagen ist und wie wenig er wackelt.“

    „Ja.“

    „Diese Straße wurde von Zwergen gemacht. Und sie führt direkt von Alryss zur Hohen Feste, aber täusche dich jetzt nicht, der Weg ist noch weit. Trotzdem, dass die Zwerge extra eine Straße hierhin gemacht haben, zeigt ja, dass sie die Gnome geschätzt haben. Deswegen könnte ich mir vorstellen, dass sie die Heiler entweder verteidigt haben oder sie rechtzeitig in die Hohe Feste brachten. Denn in die Berge haben sich die Schatten nicht getraut.“

    Alastair sah ihn mit großen Augen an und saugte jedes Wort auf.

    „Wirklich nicht? Warum nicht?“

    Gembries zuckte die Schultern.

    „So heißt es zumindest in den Schänken und an den Feuern. Die Zwerge hatten nach den Feen die mächtigste Magie unter den alten Völkern, und sie sollen schrecklich gute Kämpfer gewesen sein. Auf ihrem ureigensten Terrain galten sie als unbesiegbar.“

    „Obwohl sie so klein waren?“

    Gembries lachte auf.

    „So klein, wie du sie dir vorstellst, waren die wohl gar nicht, Fröschlein. Die Hohe Feste war zum Ende der Kriege, kurz vor dem Bann, ein Zufluchtsort für alle Völker. Nach dem Bann blieb viel Kleidung zurück. Anhand der Sachen, die für Erwachsene gemacht waren, hat man dann festgestellt, dass es wohl besonders lange, aber nicht außergewöhnlich kleine Figuren unter den Alten gab. Allerdings gibt es auch ein Gerücht, dass nur ein einziger Zwerg die hohe Feste bewachte und schützte, und der wird wohl kaum nackt von dieser Welt gegangen sein. Vielleicht war also kein Zwergenwams dabei.“

    Alastairs Wangen glühten vor Aufregung. Solche Geschichten hatte Mumas alter Nachbar nicht gekannt.

    „Nur ein einziger Zwerg? Du meinst, weil die Schatten sich nicht in die Berge trauten?“

    „Ja, wahrscheinlich. Vielleicht war er aber auch als einziger draußen und der Rest in den geheimen Gängen unter der Burg, allzeit bereit. Die Zwerge waren sehr eigen, die haben nie jemanden in ihr Reich gelassen. Selbst die Feen durften nicht rein. Deswegen ja die Zwergenburgen. Dort trafen sie sich mit den anderen, wenn es etwas zu besprechen gab.“

    „Sie dienten nicht der Verteidigung?“

    „Wozu sollten sich die Zwerge in einer Burg verteidigen müssen? Die gingen IN ihre Berge und weg waren sie. Man hat nie einen Zugang gefunden, den sie benutzten. Und damals wie heute ist es auch nie jemandem gelungen, ins Innere der Berge vorzudringen.“

    „Und wie haben dann Menschen nach dem Bann darin verschwinden können?“

    Gembries nickte anerkennend. Der Junge war nicht dumm.

    „Sie haben es über die Keller der Burgen versucht. Die Keller führen immer tiefer in den Berg hinein. Inzwischen hat man die Zugänge aber zugemauert, soweit ich weiß.“

    Alastair träumte den Worten nach.

    „Ich hätte gerne in der alten Zeit gelebt“, seufzte er schließlich. „Bevor die Schatten kamen, natürlich. Die alten Völker, ihre Magie, ihre Eigenarten, ihre Lebensweisen... das war Yaras, wie die Ewige es ursprünglich erschaffen hatte. Voller Magie, Wunder und Kraft. Der Bann hat uns viel von dem genommen, was diese Welt einst ausgemacht hat.“

    „Ich glaube, der Bann hat uns nur Vorteile gebracht“, sagte Gembries. „Zwar ist viel Wissen um die alten Tage verloren gegangen, aber ab und zu finden die Gelehrten Schriften, die Hinweise darauf geben, wie sich das Leben in dieser Vielfalt damals wirklich abgespielt hat, und das scheint bei Weitem nicht so friedlich gewesen zu sein, wie wir uns das heute vorstellen.“

    „Nicht?“

    „Nein“, bestätigte Gembries. „Was aber nicht an uns lag, sondern an den Feen. Sie mochten uns nicht. Und da die Feen für alle anderen das hohe Volk und damit so gut wie heilig waren, hatten wir Menschen stets schlechte Karten.“

    „Die Feen?“

    Davon hörte Alastair zum ersten Mal. Den Feen sagte man von allen alten Völkern die größten Kräfte nach. Es hieß, sie seien die Kinder der Ewigen selbst gewesen.

    Ausgerechnet die.

    Die Vorstellung, dass sie den Menschen feindlich gesinnt gewesen sein sollten, hatte für ihn etwas sehr Befremdliches.

    Sie verdarb ihm alle romantischen Träume, die er sich von der alten Zeit gemacht hatte.

    „Aber warum? Es muss doch einen Grund gegeben haben, warum sie uns nicht mochten.“

    Gembries zuckte mit den Schultern.

    „Tja, wenn man das gewusst hätte. Fakt war, dass sie uns Menschen mieden und überall Leute starben, wo sie auch nur in der Nähe waren. Die Menschen gingen abends kerngesund ins Bett und wachten am nächsten Morgen einfach nicht mehr auf, selbst Kinder waren davon betroffen. Die Münder der Toten waren zu einem „o“ geformt und die Körper vergreist, so, als hätte ihnen jemand sämtliche Lebenskraft herausgesaugt. Da fragt man sich doch, warum die Feen so mächtig waren und wieso sie so unglaublich alt wurden, ne?“

    Alastair erschauerte.

    „Das ist gruselig“, gab er zu. „Mir ist nie in den Sinn gekommen, dass die Ewige böse Kreaturen geschaffen haben könnte.“

    Gembries warf ihm einen spöttischen Blick zu.

    „Bist du bisher blind durch die Natur gegangen? Denke doch nur an Flöhe, Läuse, Zecken und Wanzen. Die sind nur da, um uns zu ärgern. Auch diese lästigen, völlig überflüssigen Mücken entspringen ihrer Schöpfung, genauso wie dieser erbärmlich stinkende Pilz, aus dem du mir die Paste gemacht hast, die sie abhalten sollen. Du hättest übrigens auch davon nehmen sollen, ich hab dich gewarnt, dass die Mücken in den Sümpfen durstiger sind als anderswo.“

    Gembries deutete mit einem leichten Kopfnicken auf Alastairs Hand, die der Junge auf dem Schenkel liegen hatte.

    Alastair folgte seinem Blick und zuckte angeekelt zusammen, als er gleich vier Mücken darauf entdeckte, die gerade sein Blut tranken. Hastig wischte er sie weg und starrte noch angeekelter auf das Blut, dass ihre zerdrückten Körper auf seinem Handrücken hinterließen.

    „Igitt!“, entfuhr es ihm, „Hast du noch etwas von der Paste übrig?“, fragte er kleinlaut.

    „Nein“, sagte Gembries. „Nachdem du so überzeugend erklärt hast, dass die Mücken dich nicht mögen, habe ich was übrig war auf Hinz und Kunz verteilt.“

    Er nahm die Zügel hoch und die beiden Ochsen hielten an.

    „Vielleicht guckst du nach Resten, ich war nicht sparsam.“

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

    Einmal editiert, zuletzt von melli (28. Januar 2022 um 20:37)

  • Aww, das war ein wirklich wunderbarer Teil, melli .

    Spoiler anzeigen

    Ein geschickt in einen Dialog verpacktes Info-Paket! Ich glaub, da mache ich mir ein Lesezeichen ran. ich hab so das Gefühl, dass ich da bei Gelegenheit nochmal nachschlagen muss, wenn es um die Zeit vor dem Bann geht.

    Aber nicht nur die Info war hier gut verpackt, besonders genossen hab ich - wie immer eigentlich - deine Beschreibungen. Schon die ersten Sätze, einfach toll ... *ist neidisch*

    Falls da irgendwas war, was mir hätte auffallen müssen, dann ist es mir durchgerutscht. Hab alles in einem Fluss gelesen mich trotz der fast 2000 Worte zu keinem Zeitpunkt gelangweilt, weil die Sümpfe mich vollkommen in ihren Bann geschlagen hatten.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Als Kind war sie mal mit offenen Augen unter Wasser getaucht.

    Ihr Bruder hatte neben ihr gestanden und etwas gerufen. Seine Stimme war verzerrt zu ihr gedrungen, ein Geräusch, dem sie keine Worte entnehmen konnte.

    Alles war anders und so weit weg gewesen.

    Das Wasser hatte sie von der ganzen Welt isoliert, eine Distanz geschaffen. Und Ruhe.

    Frieden.

    Ihr eigener Schrei hatte sie jetzt unter Wasser gezogen.

    Alles war weit entfernt.

    Sie konnte sehen, wie Männer, allen voran Pollok, ins Zimmer stürzten, wie sie aufgeregt den versteinerten Eliazar betasteten, untersuchten, wie sie sprachen, aber sie nahm den Sinn der vielen Worte nicht auf.

    Sie waren nur Geräusche.

    Irgendwann stand Pollok vor ihr, sein Blick bohrte sich in ihre Augen und er sprach mit gerunzelter Stirn auf sie ein.

    Venia nahm es gleichgültig zur Kenntnis.

    „Nicht jetzt. Später“, antwortete sie ihm in Gedanken.

    Sie brauchte die Ruhe. Und den Frieden. Dringend!

    Ihr Blick ging ins Leere.

    Bewegung um sie herum, jemand fasste sie am Oberarm und führte sie weg, fort aus dieser Kammer des Schreckens.

    Es war ihr egal.

    Willenlos ließ sie sich führen, vorbei an Gestalten mit gaffenden Gesichtern, die sich auf dem oberen Flur eingefunden hatten und hastig eine Gasse bildeten, um sie und ihren Begleiter durchzulassen. Die Treppe herunter, deren Stufen ihren Füßen so vertraut waren, den Gang entlang, der an den Schulräumen vorbei führte, dann wurde sie in den Karzer geschubst, einen kleinen, leeren Raum mit einem winzigen Fenster weit oben in der Wand, der sonst dazu diente, freche Schüler zu sanktionieren.

    Die schwere Holztüre fiel hinter ihr ins Schloss, der Riegel wurde vorgeschoben.

    Erleichtert ließ sich Venia mit dem Rücken an der Wand heruntergleiten, bis sie auf dem kalten Boden saß. Sie zog die Beine an, umarmte ihre Knie und ließ den Kopf darauf sinken, dankbar, allein sein zu dürfen, bis sie sich gefasst hatte.

    Sie seufzte.

    Das Leben war beschissen, gemein und hinterhältig.

    Sie fühlte dem Gedanken einen Moment hinterher.

    Die Kunst bestand wohl darin, sich nicht unterkriegen zu lassen. Aber welchen Sinn machte das alles? Wahrscheinlich keinen.

    Es war ja nicht das erste Mal, dass sie in ihrer direkten Umgebung seltsame Todesfälle miterleben musste.

    An die ersten konnte sie sich nicht bewusst erinnern.

    Ihre Familie war verbrannt. In ihrem Haus. Mitten im Winter, bei Eis und Schnee.

    Laut Aussagen der Dorfbewohner hatte das Haus binnen Sekunden komplett in Flammen gestanden.

    Und Venia davor.

    Sie wurde zu dem Unglück befragt. Und konnte keine einzige Antwort geben. Sie wusste nicht, warum sie dort stand, was vorher gewesen war, konnte sich an den gesamten Tag nicht mehr erinnern.

    Alles war ausgelöscht.

    Nur, wenn sie stark unter Druck stand, vermeinte sie, Feuer und brennendes Fleisch zu riechen und Schreie zu hören.

    Aber selbst da konnte sie sich nicht sicher sein, ob das wirklich ihrem Erlebten oder ihrer Fantasie entsprang.

    In den Blicken der Dorfbewohner hatte etwas gelegen, ein Misstrauen, eine Skepsis, die bewirkte, dass sie sich verurteilt fühlte.

    Das war das Schlimmste gewesen.

    Niemand konnte sich erklären, wie ein Haus in so kurzer Zeit zu Asche verbrennen konnte, es gab kein Gewitter, keinen Blitz, nichts, was ein Haus vom Boden bis zum Dach mit einem Knall entzünden konnte.

    Und sie konnte nichts dazu sagen.

    Man verdächtigte sie offenbar, zu dem Unglück beigetragen zu haben.

    Sie hatte ihre Familie geliebt. Sie hatte alles, was ihr Leben schön machte, was ihr Halt gab, an einem Tag verloren.

    Und niemand war da, um sie zu trösten, niemand wollte sie aufnehmen. Die Nachbarn, mit denen sie groß geworden war, die sie von Kindesbeinen an kannten, hatten sie plötzlich gemieden, waren ihr ausgewichen, mit Unbehagen im Blick.

    Und so war sie gegangen.

    Hatte sich allein auf den Weg gemacht, mit ihren vierzehn Lenzen.

    Um nicht in Gefahr zu geraten, hatte sie sich weit abseits der Menschen gehalten.

    Ihre Eltern waren nie reich gewesen, und ihre Mutter hatte sie von klein auf gelehrt, Nahrung in der Natur zu finden.

    Venia war überrascht, wie gut sie zurecht kam. Pilze und Nüsse, Moose und Algen, Eier aus den ersten Nestern, Erdbeeren, sie hatte nicht hungern brauchen. Wenn ihr kalt war, schmiegte sie sich in die Wurzeln der Bäume und bedeckte sich mit ihrem Laub.

    Es war die Einsamkeit, die ihr zu schaffen machte.

    Sie war damals zu jung, um diese Einsamkeit zu ertragen.

    Sie sehnte sich nach einem Gefühl der Zugehörigkeit, nach einem Platz, der ihr Aufgaben gab, wo ihr Leben einen Sinn machte.

    Die ersten Menschen, denen sie nach Wochen begegnete, waren eine junge Witwe und ihre zwei Kinder, die in einem kleinen Bauernkotten am Waldrand lebten, zusammen mit einer Ziege und ein paar Hühnern.

    Sie hatte der Frau im Garten geholfen, die Hühner versorgt, mit der Familie zu Abend gegessen und später im Stall bei der Ziege schlafen dürfen.

    Venia wurde am nächsten Morgen von den Tieren geweckt.

    Obwohl die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel stand, blieb es im Haus ganz still. Venia fand die Familie im Bett. Alle drei lagen regungslos dort, die Münder offen, die Haare weiß und die Gesichter voller Falten, sie waren tot. Venia war es kalt über den Rücken gelaufen, als ihr klar wurde, dass sie nur noch lebte, weil sie abseits im Stall geschlafen hatte. Das war der Moment, in dem sie beschloss, zur Hohen Feste zu gehen und dort eine Anstellung zu suchen.

    Die Hohe Feste schien ihr ein Ort zu sein, wo man vor seltsamen Feuern und üblem Zauber sicher war, da die Kräfte dort von kundigen Magiern kontrolliert wurden, ein Ort, der Schutz und Geborgenheit versprach und ein Ort, an dem sie sich nützlich machen konnte.

    Nach zehn langen Jahren war dieser Traum nun heute geplatzt.

    Dumpf starrte sie auf den Boden.

    Sie hatte den Hüter gemocht, er hatte sie mit seiner freundlichen Art, seiner Bescheidenheit und seiner Einfühlsamkeit sehr beeindruckt.

    Vielleicht wäre er nicht gestorben, wenn er sie nicht kennen gelernt hätte.

    Der Ewigen schien es zu gefallen, die Menschen, die sie mochte, vorzeitig abzurufen.

    Eliazar war der erste nach der jungen Witwe, der ein, wenn auch zaghaftes, Gefühl der Zuneigung in ihr auszulösen vermochte. Und selbst er, der mächtigste Magier der Welt, lag nun tot in seinem Bett.

    Mit einem bitteren Lächeln rief sich Venia zur Ordnung.

    Sie sollte sich nicht für so wichtig halten.

    Sie war ein Niemand, eine kleine Dienerin, die heute sicher noch zu ihren letzten Momenten mit dem Hüter befragt werden würde. Doch diesmal konnte sie sich erinnern. An alles, was sie seid gestern getan hatte.

    Resigniert kauerte sie sich weiter zusammen.

    Wahrscheinlich würde es ihr nicht helfen.

    Sie hatte ihn gefunden. Und obwohl sie keinerlei Magie beherrschte und ihm nichts getan haben konnte, würde ihr Name und ihr Gesicht für immer mit seinem Tod in Verbindung gebracht werden.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

    • Offizieller Beitrag

    Gnihihihi, hier geht es auch weiter.

    Ich hatte ja zuvor eher stumm mitgelesen und hoffe, ich bekomm nach und nach alles auf die Kette. Mein Hirn muss die alten Versionen immer mal neu überschreiben, aber kein Thema, bekomm ich schon hin :rofl:

    Ich hab dann mal rückwirkend auch den vorletzten Teil kommentiert.

    Spoiler anzeigen

    mit kleinen, glitzernden Wassertröpfchen.

    Ich glaube, das Komma muss weg, da es sich komisch "anfühlt", wenn man das Komma durch ein "und/oder/sowie" ersetzt. :D

    Es gab keine scharfen Konturen,? und die Stille dieses Ortes war so beherrschend, dass selbst das Klappern des Wagens nahezu verstummt war.

    Bezug ändert sich?

    Er nahm die Zügel hoch und die beiden Ochsen hielten an.

    „Vielleicht guckst du nach Resten, ich war nicht sparsam.“

    Yummi xD

    „Falls du dir Sorgen machst, dass gleich ein Gnom hinter einem Baum hervor springt, kann ich dich beruhigen“, sagte er. „Mir ist noch keiner begegnet, und ich bin wahrlich nicht zum ersten Mal in dieser Scheißgegend.“

    Was habe ich ihn vermisst :rofl:

    Venia kann einem leidtun. So viel Pech hat man auch selten. Da hat sich wohl irgendwas an ihre Fersen geheftet?! :sarcastic:

    Aber klar, die anderen werden sie sicherlich erstmal befragen und nicht sicher sein, ob sie nicht doch etwas mit dem Ableben von Eliazar zu tun hat.

  • Moin Jen,

    Mein Hirn muss die alten Versionen immer mal neu überschreiben, aber kein Thema, bekomm ich schon hin :rofl:

    Geht mir ja genauso :rofl:

    Spoiler anzeigen

    Jetzt krieg ich das mit dem Zitieren mal wieder nicht hin....*grummel*.....

    Zitat
    Zitat von melli mit kleinen, glitzernden Wassertröpfchen.

    Ich glaube, das Komma muss weg, da es sich komisch "anfühlt", wenn man das Komma durch ein "und/oder/sowie" ersetzt.

    Sicher? Es ist eine Aufzählung.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

    • Offizieller Beitrag

    Sicher? Es ist eine Aufzählung.

    Nicht jede Aufzählung ist eine. Wenn sich die Wörter gegenseitig stützen und nicht gleichwertig sind, wird kein Komma gesetzt. Kommata werden nur bei gleichrangigen Adjektiven gesetzt. Edit: in diesem Beispiel kann ich mich natürlich irren, diese Regel musste ich auch erstmal hinbekommen. 🤣 Aber uns wurden auch alle Kommata gestrichen, die mit "Ihr braunes langes Haar" oder "Ihr langer schwarzer Rock" zu tun hatten. 🙄

    "Die Wassertropfen sind klein und glitzern." :hmm:

  • Ich misch mich mal kurz ein. :)

    Die Regel hat mir auch oft Kopfzerbrechen beschert, aber ich hab mir immer selbst bei der Entscheidung geholfen, indem ich die Aussage hinterfragt habe. In mellis Fall wäre das "Gibt es auch größere Wassertropfen, die glitzern?"

    Ja, die gibt es. Also ist das "klein" nur eine genauere Beschreibung von den "glitzernden Wassertropfen" und (in meinen Augen) kein Bestandteil einer Aufzählung.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Okay, ich versuche es mal nochmal direkten Textbeispiel, um das es geht. ^^

    Ich misch mich mal kurz ein. :)

    Die Regel hat mir auch oft Kopfzerbrechen beschert, aber ich hab mir immer selbst bei der Entscheidung geholfen, indem ich die Aussage hinterfragt habe. In mellis Fall wäre das "Gibt es auch größere Wassertropfen, die glitzern?"

    Ja, die gibt es. Also ist das "klein" nur eine genauere Beschreibung von den "glitzernden Wassertropfen" und (in meinen Augen) kein Bestandteil einer Aufzählung.

    Ist es nicht genau anders herum? Wenn es größere Wassertropfen gibt, die auch glitzern, dann hat die Größe nichts mit dem glitzern zu tun, also beschreibt "klein" nur "Wassertropfen", nicht die "glitzernden Wassertropfen", und damit wird ein Komma benötigt. :hmm:

    Edit:

    Diese Website hier macht das schön anschaulich:

    Häupter auf meine Asche!

    • Offizieller Beitrag

    kalkwiese

    Du kannst gerne dazu einen Beitrag in den Kommaregeln erstellen ^^ Aber bitte sieh davon ab, hier eine Diskussion über Kommaregeln zu entfachen. Das gehört nicht unter mellis Geschichte. Tariq s Kommentar habe ich stehen lassen, da sie äußerst sicher in Rechtschreibung und Grammatik und zudem Leserin in mellis Geschichte ist. ☺️