Es gibt 144 Antworten in diesem Thema, welches 13.741 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (7. Februar 2024 um 19:35) ist von Kirisha.

  • Hi liebe Tariq

    Das Tempo ist gut so. Ich bin ja inzwischen so gefesselt von deinen Geschichten, dass ich einfach alles von dir gerne lese. Manchmal weiß ich gar nicht mehr zu sagen als dass es mir gefällt.

    Wie es aussieht, will Hannche jetzt mal eine anzügliche Geschichte auspacken. Na, na, sowas hätte ich ihr gar nicht zugetraut!

    (Ich frag mich ja auch immer, wie das wohl meine nunmehr fast 80jährige Mutter hält. von der ich mir einbilde, sie würde seit dem Tod meines Vaters vor 16 Jahren wie eine Nonne leben. Ich bin ja so eine feige Socke, dass ich solche Themen nicht anspreche.)

    (Der Ring gefällt mir übrigens auch immer besser. Ich bin ja bei deiner älteren Version irgendwie ausgestiegen, vermutlich mehr aus Mangel an Zeit als aus anderen Gründen, aber jetzt nimmt es mich richtig gefangen.

    Frida finde ich ganz super!!! So erstaunlich, vielschichtig und gleichzeitig glaubhaft dargestellt.)

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Heyho Tariq

    Habe mich jetzt mal wieder getraut und bin bis hier eingestiegen.

    Das ist wirklich schön zu lesen. Und es würde mich wundern, wenn "Hannche" fiktiv wäre.

    Auf eine gewisse Weise sicherlich.

    Aber das meiste ist wohl eher die Quintessenz aus vielen. So kommt's mir beim lesen zumindest vor.

    Da kommen mir so viele Gesichter wieder zurück...starker Stoff!

    Ist wert, ein Buch zu werden...

    <3

  • Herzlichen Dank euch beiden, Kirisha und Der Wanderer , ich freu mich, dass ihr dabeibleibt! :danke:

    Antwortbox

    Ist wert, ein Buch zu werden...

    Danke, das freut mich zu hören. :) Da hab ich sogar schon drüber nachgedacht. Zumal auch meine Mutter meine "gestapelten Erinnerungen" sehr gern liest und schon gefragt hat, ob ich das veröffentlichen will.

    Und es würde mich wundern, wenn "Hannche" fiktiv wäre.

    Hannche ist definitiv fiktiv. Aber andere vorkommende Personen verdanken ihren Platz in der Geschichte der Erinnerung an reale Personen. Beate, Hannches Tochter, zum Beispiel. Auch Frau Kehrer, die Reinemachfrau, und auch Frau Herzel, die Bettnachbarin. :D

    Voriger Teil

    Ich hörte die RT schon von weitem. Gerade war ich mit meinen beiden älteren Kolleginnen aus dem schmiedeeisernen Tor der Pretzberger Strumpffabrik getreten und hatte ihnen zum Abschied zugewinkt. An ihrem vielsagenden Lächeln sah ich, dass sie das Motorrad auch gehört hatten.
    Die Zweiräder gehörten längst zum Stadtbild, man drehte sich auch nicht mehr nach ihnen um. Allerdings blieben die Strumpf-wirkerinnen stehen, die hinter mir aus dem Tor kamen und sich eigentlich auf den Heimweg machen wollten, denn dass der Fahrer, der nun nähergekommen war, vor mir anhielt, war ungewöhnlich. Und als er den Motor abschaltete, die Schutzbrille hochschob und den Helm abnahm, staunten manche von ihnen nicht schlecht, denn darunter kam das lachende Gesicht eines jungen Blondschopfs zum Vorschein.
    Ich weiß noch, dass ich flammend rot wurde. Genau das hatte ich befürchtet, als er gestern angekündigt hatte, mich von der Fabrik abzuholen! Und genau deshalb hatte ich so vehement widersprochen. Seine Antwort war nur ein Lachen gewesen. Dieses unwiderstehliche Lächeln, das mir den Kopf verdreht hatte.
    Nur meine beiden Kolleginnen wussten von Wolfgang. Wenn man verliebt ist, muss man das einfach irgendjemandem anvertrauen, sonst platzt man. Meine Mutter war nicht die Richtige dafür und meine Schwestern erst recht nicht. Aber zu den zwei Frauen, die neben mir die Maschinen bedienten, hatte ich schon am ersten Tag meiner Lehre Vertrauen gefasst. Und nur ihnen erzählte ich von der Begegnung mit dem zwei Jahre älteren Sohn des Bürgermeisters vor zwei Monaten und unseren heimlichen Treffen danach.
    Die Zeit der Heimlichkeiten war vorbei. Heute, jetzt, in diesem Moment, erfuhr die halbe Belegschaft, dass ich als Siebzehnjährige schon einen Freund hatte. Nicht nur das, sondern auch dass er ein Motorrad fuhr. Ich konnte die Gedanken hinter den gerunzelten Stirnen förmlich hören und in den Mienen lesen, als ich mich verstohlen nach den anderen Arbeiterinnen umsah. Hatte er es geklaut oder – was fast noch schlimmer zu sein schien – unerlaubt die Maschine seines Vaters genommen? Oh, diese Blicke! Sie ist noch ein Lehrling, schienen sie zu sagen, wissen ihre Eltern eigentlich, was sie so treibt?
    Wolfgang, mein Schatz, schien davon nichts mitzubekommen. Er nestelte einen zweiten Helm vom Gepäckträger und reichte ihn mir. Das Ding war etwas zu groß und schlackerte auf meinem Kopf herum, aber trotzig zog ich den Kinnriemen fest an. Meinen Ärger über das unverhohlene Glotzen der Strumpfwirkerinnen legte ich in den Ruck und zuckte zusammen, als ich mir die Haut dabei in der Schnalle einklemmte. Dann stieg ich auf den Sozius und verkündete Wolfgang mit einem kurzen Klopfen auf seine Schulter, dass ich bereit war. Er setzte seinen Helm wieder auf, schob die Brille herunter und fuhr los. Wohin es ging? Das war mir damals schnurzegal. Zumindest erst einmal weg von diesen schamlosen Gaffern. Und am Ende der Fahrt erwartete den Fahrer eine geharnischte Strafpredigt dafür, dass er meine Ablehnung ignoriert und mich so in Verlegenheit gebracht hatte.

    Die Sache mit Wolfgang hat nicht lange gehalten. Sein Lebensstil ist nicht der meine gewesen. Er wollte an jedem Wochenende tanzen gehen und lud mich sogar während der Woche ins Kino ein. Ein, zwei Male bin ich mitgegangen, aber ich musste im Gegensatz zu ihm morgens früh raus und als ich dann einmal am Vormittag während der Arbeit beinahe im Stehen eingeschlafen bin, habe ich die folgenden Einladungen abgelehnt. Auch seine Kumpels sind in meinen Augen keine Freunde gewesen, sondern Leute, die ihn auf einen schlechten Weg brachten. Er trank viel, wenn er mit ihnen zusammen war, und als er einmal aufs Motorrad gestiegen ist, obwohl er getrunken hatte, hat sich der zarte Riss, der durch meine Glückseligkeit ging, schlagartig in einen unüberbrückbaren Abgrund verwandelt. Zwei Wochen später habe ich mit ihm Schluss gemacht und mich dann in Getruds tröstlicher Umarmung ausgeheult. Ich glaube fast, meine Eltern haben nie etwas von Wolfgang erfahren, es sei denn, eine meiner beiden älteren Schwestern hat gepetzt.
    Siegfried hat die Erinnerung an Wolfgang weggewischt wie ein nasser Schwamm die Kreide an der Schultafel. Er überstrahlte ihn einfach, weil er genau so war, wie ich mir meinen Mann vorstellte. Bei Siegfried wusste ich vom ersten Augenblick an, dass ich ihn heiraten, mit ihm Kinder haben und alt werden wollte.
    Verrückt, was man für Pläne hat, wenn man jung ist. Es ist leider nichts draus geworden. Zumindest nicht aus dem letzten Teil des Planes.
    Während ich meinen Erinnerungen nachgehangen habe, hat Karl mich durch die Speisesaaltür geschoben. „Möchten Sie vorgestellt werden?“, flüstert er neben meinem Ohr.
    Hektisch schüttle ich den Kopf, als ich sehe, wie die Leute, die unmittelbar neben der doppelflügeligen Eingangstür ihren Platz haben, neugierig den Kopf wenden bei unserem Auftauchen. Das sind schon zu viele für mein angeschlagenes Selbstbewusstsein und es gibt sieben, acht oder noch mehr Tische, an denen Bewohner sitzen. Undenkbar, dass sich alle, die hier auf ihr Frühstück warten, umdrehen und mich anglotzen wie ein Kalb mit zwei Köpfen, wenn Karl mich vorstellt. Eine Neue muss ausgiebig begutachtet werden, das ist mir schon klar, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass der Tag hier angefüllt ist mit Abwechslung und Kurzweil. Nein, ich wäre das Tagesgespräch, noch dazu weil ich mit Sicherheit kein „Guten Morgen“ herausbekommen würde. Wenn es darauf ankommt, funktioniert das Sprechen ja nur im Ofenrohr-Modus und das fehlt mir jetzt gerade noch.
    Ich nicke denen, die mich anschauen, freundlich zu und zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht, obwohl ich am liebsten davongerannt wäre.

    Gerannt ...

    Tja, das war einmal, Hannche, spottet die gemeine Stimme in meinem Kopf.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Weil ich morgen nicht zu Hause bin, serviere ich heute schon mal den neuen Teil.

    Kirisha

    Liebe Kirisha , Dir wieder herzlichen Dank für deine netten Worte.

    Hallo Tariq

    vieles ist es wert, ein Buch zu werden, deine Geschichten (denen ich folge) sind es alle drei ganz besonders. Aber nicht jede gute Geschichte wird auch ein Erfolg, denn dazu braucht es viele Faktoren.

    Mit Hannche rechne ich dir jedoch auch einen großen Publikumserfolg aus. Weil: Die meisten Leute lieber Geschichten aus dem wahren Leben lesen als Fantasy, Tiergeschichten oder SciFi (ich lese "normalerweise" lieber Fantasy, und ich liebe Tiergeschichten, bin aber wohl eine Ausnahme), und Hannche ist da ja ganz aktuell, wenn man bedenkt, wie hier überall die Altersheime wie Pilze aus dem Boden sprießen. Eine Bekannte von mir hat großen Erfolg mit einer Serie mit Protagonisten Ü80, die sich tapfer durchs Leben schlagen mit den Hindernissen, die es halt in dem Alter so gibt. Ich würde deshalb an deiner Stelle da durchaus an eine Veröffentlichung denken und in dem Fall auch aktiv Werbung machen, mit Bloggern und so. Du würdest da ganz sicher auf eine Marktlücke und entsprechende Nachfrage treffen (mal so ganz platt kaufmännisch gedacht). Das würden ja nicht nur die Alten selber lesen, sondern auch die betreuenden Kinder und evtl. Enkel. Besonders da du das Thema auf eine Art behandelst, die mal ungewöhnlich und voller echt wirkender Erinnerungen ist, die sicher viele Leser auf einer persönlichen Ebene anspricht.

    Auch der neue Teil ist wieder sehr ansprechend und den habe ich gerne gelesen!

    Ich bin nicht sicher, ob ich der Typ bin, der sein Buch so aktiv vermarkten kann. Ich denke eher nicht, weil mir das mit der "Guardians"-Trilogie schon so schwerfällt. Natürlich möchte ich "Hannche" veröffentlichen, aber vielleicht eher die Schiene "Mundpropaganda" fahren. Ich denke an einen Auszug von Hannche in unserer Heimzeitung, also dem Journal, das unser Träger in all seinen fünf großen Pflegeheimen auslegt und das begeistert gelesen wird. Über Freunde und Bekannte hoffe ich das Büchlein auch weiter verbreiten zu können. Viele von ihnen arbeiten in der Pflege.

    Aber Bloggen ist so gar nicht meins. Das sieht man ja an meinem verstaubten Insta-Account. X/ Mal sehen, was daraus wird. Dir auf jeden Fall ein dickes :danke: für deine anspornenden und mutmachenden Worte!! :friends:

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    Karl hat mein Kopfschütteln widerspruchslos akzeptiert und bugsiert meinen Mercedes an einen Tisch in der Nähe, an dem nur Rollstühle stehen. Der Gute, er scheint zu erkennen, dass mir das hilft.

    „Guten Morgen, die Damen. Ich bringe Ihnen eine neue Tischnachbarin, die Frau Benedikt. Das hier links ist Frau Morgner, ihr gegenüber sitzt Frau Walther und daneben unsere Waltraud.“
    Die drei Frauen, zwei von ihnen wesentlich älter als ich und eine etwa in meinem Alter, mustern mich, nicht unverschämt, aber auch nicht verstohlen. Und wieder lächle ich, während ich auch ihnen zunicke. Meine Wangenmuskeln beklagen sich schon über dieses Dauer-Grinsen.
    „Willkommen“, meint Frau Morgner, die ich als Jüngste des Trios einschätze. „Seit wann sind Sie da?“
    Himmel, ich muss sprechen! Peinlich berührt senke ich den Kopf. Prompt läuft mir Speichel aus dem Mund und tropft auf den Latz. Im Stillen danke ich Karl für das himmelblaue Teil und wische mir mit dem Taschentuch über den Mund. „Zwei Wochen“, murmele ich dann und weiß nicht, ob ich verstanden worden bin.
    „Die erste Zeit ist die schwerste“, kräht Frau Walther. Sie sitzt mir schräg gegenüber, ist ein hutzeliges Weiblein, das in seinem Rollstuhl fast verloren wirkt. Doch das hält die Frau nicht davon ab, mir ein mutmachendes, breites Lächeln zu schenken.
    „Wer ist schwer?“
    Das ist von der dritten Frau gekommen. Waltraud, mein Gegenüber. Ihren Familiennamen hat Karl nicht genannt. Sie starrt Frau Morgner an und erwartet eine Antwort.
    „Niemand, Wally“, beschwichtigt Frau Morgner und winkt ab. „Trink deinen Kaffee.“ Zu mir gewandt raunt sie: „Sie hat Demenz.“
    Ich kann nicht anders: Während ich fast mechanisch nicke, muss ich Waltraud verstohlen mustern. Demenz, die Geißel des Alters. Man sieht es ihr nicht an. Die stockdünne, hochgewachsene Frau mit den senfgelben Haaren und der braunen Kunststoffbrille rührt gedankenverloren in ihrer Tasse und scheint noch immer darüber zu grübeln, wer schwer ist.
    Demenz ...
    Ich habe lange keinen Besuch mehr bei Gudrun gemacht. Bei den letzten beiden hat mich meine Schwester mich nicht erkannt. Nicht mehr. Ich werde nie ihren verwirrten Blick vergessen, als ich in ihr Zimmer gekommen bin.

    Bei ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag war es erstmals aufgefallen. Sie hatte Probleme, sich an die Namen ihrer Gäste zu erinnern. Ihre beiden Töchter schrieben es der Aufregung zu. Doch es lag nicht daran. Gudruns Gedächtnis verschlechterte sich rapide. Sie vergaß Dinge beim Einkauf, Termine, Schlüssel. Irgendwann ließ es sich nicht mehr ignorieren und ihre Älteste fuhr mit ihr zu einer Ärztin.
    Die Diagnose lautete Demenz. Genauer gesagt: Alzheimer. Die schlimme Form, bei der der geistige Verfall in erschreckendem Tempo voranstürmt und den Angehörigen keine Zeit lässt, mit der Situation klarzukommen. Eine Krankheit, die ihnen einen lieben Menschen nimmt, obwohl er noch bei ihnen ist, obwohl sie ihn sehen, ihn berühren und mit ihm sprechen können.
    Gudruns Töchter mussten sich schweren Herzens durchringen, ihre Mutter bereits ein halbes Jahr später in ein Heim zu geben, in dem man sich auf die Pflege Demenzkranker spezialisiert hatte. Natürlich war es in der Nähe ihrer Wohnorte und Gudruns kleine Wohnung wurde aufgelöst. Sie hatten mich dazu geholt. Schließlich war ich Gudruns einzige noch lebende Schwester.
    Gemeinsam räumten wir ihre Habseligkeiten in Kartons, nahmen uns die Zeit, Erinnerungen aufleben zu lassen und Fotos zu betrachten. Wir tranken Kaffee, lachten viel zusammen und vergossen auch ein paar Tränen. Nicht viel wurde aufgehoben. Meine Nichten hatten nur Interesse an ein paar persönlichen Dingen und ich durfte mir einige Bilder aussuchen. Möbel und Kleider gingen an den Sozialmarkt, nicht mehr Verwendbares fand sich als Sperrmüll neben der Haustür wieder. Ich weiß noch, dass ich unwillkürlich schauderte, als ich an dem aufgetürmten Berg neben der Hauswand vorbei und zur Bushaltestelle ging. Da lag Gudruns Leben. Quasi am Straßenrand ...
    Gudrun bekam nur ein Foto von ihrer Familie. Ihre Mädchen waren zum Zeitpunkt der Aufnahme fünfzehn und dreizehn gewesen. Traute Viersamkeit. Sie selbst im Arm ihres Mannes und jeder eine Tochter vor sich.
    Meine Nichten hatten sich die Mühe gemacht, herauszufinden, wen ihre Mutter auf Bildern noch erkannte. Diese Aufnahme war die letzte gewesen, auf der Gudrun ihre Töchter gesehen hatte. Später geschossene Fotos lösten bei ihr nur ein Stirnrunzeln oder ein hilfloses Schulterzucken aus, wenn sie nach den Personen darauf gefragt wurde. Ihr Gedächtnis schien neunzehnhunderteinundsiebzig stehengeblieben zu sein. Was danach kam, war ausgelöscht.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Heyho Tariq

    Ich weiß noch, dass ich unwillkürlich schauderte, als ich an dem aufgetürmten Berg neben der Hauswand vorbei und zur Bushaltestelle ging. Da lag Gudruns Leben. Quasi am Straßenrand ...

    Gerade Gänsehaut. Pur.

  • Der Wanderer

    Das ist toll, Der Wanderer . So war's gedacht! :thumbup: Danke für's Dranbleiben.

    Ein leises Klirren reißt mich aus meinen Erinnerungen. Waltraud hat ihre Kaffeetasse abgestellt. Ihre Linke greift nach der Brötchenhälfte auf ihrem Teller.
    „Ich mag dieses süße ... diese ... das Rote da“, verkündet sie und ihr Zeigefinger deutet auf die Kirschmarmelade darauf.
    „Konfitüre, Wally“, hilft Frau Morgner, „aus Kirschen.“
    „Ja.“ Waltraud nickt versonnen und beißt ab. „Kirschen“, bestätigt sie kauend und ein paar Krümel aus ihrem Mund landen danach auf ihrem und sogar auf meinem Teller.
    Angeekelt verziehe ich das Gesicht. Sie hat gespuckt! Mit vollem Mund spricht man nicht. Demenz hin oder her!
    Gleich darauf schäme ich mich. Ich sabbere. Das ist keinen Deut besser. Und beide können wir nichts dafür.
    Langsam zupfe ich eine Papierserviette aus dem Spender in der Tischmitte und wische damit kurz über meinen Teller. Egal. Es ist alles Natur und Wally hat mit Sicherheit keine ansteckende Krankheit. Als ich den Kopf hebe, begegne ich ihrem seligen Blick und erkenne: Sie ist glücklich. Über Kirschmarmelade. Und plötzlich beneide ich sie.
    „Sie hat heute einen guten Tag“, murmelt Frau Morgner neben meinem Ohr. „Es gibt auch andere, dann versucht sie dreimal in fünf Minuten vom Tisch aufzustehen, vergisst aber dabei, dass sie nicht mehr stehen kann und deshalb im Rollstuhl sitzt. Gestern erst ist sie gestürzt und hat sich den Ellenbogen an ihrem Stuhl aufgeschlagen.“ Ihr Blick huscht zu Wally hinüber und ein leises Seufzen entschlüpft ihr, bevor sie sich wieder ihrem Frühstücksei zuwendet.
    Wie kann man vergessen, dass man im Rollstuhl sitzt, grüble ich, während mein Blick den schmalen Verband an Waltrauds Armbeuge mustert. Das merke ich doch!
    Genauso wie man vergisst, wie das rote Zeug auf dem Brötchen heißt, beantworte ich mir meine Frage selbst. Die Vergangenheit ist weg. Größtenteils. Oder nur bis zu einem bestimmten Punkt noch abrufbar, wie bei meiner Schwester.

    „Wer sind Sie?“
    Das war Gudruns Frage, als ich sie das letzte Mal besucht hatte und in ihr Zimmer kam.
    Meinen Namen murmelnd, während ich meine Jacke über das Fußende ihres Bettes legte, versuchte ich den Schock zu überwinden und für meine Schwester eine Erklärung zu finden, wieso eine wildfremde Frau namens Hannah zu Besuch kommt. Ich weiß noch, dass ich die Jacke sorgfältig zusammengelegt und dann den Blumenstrauß ausgewickelt habe, krampfhaft bemüht, Gudrun dabei nicht anzusehen. Sie hätte den Grund für meine Tränen nicht verstanden.

    „Herzhaft oder süß?“
    Was? Verwirrt drehe ich mich nach der Sprecherin um.
    Ein junges Mädchen, noch keine zwanzig, lächelt mich an, offen und ehrlich. Kein aufgesetztes ‚Ich muss freundlich rüberkommen‘-Lächeln. Sie meint, was sie ausstrahlt.
    Ich starre sie wohl etwas dümmlich an und eine Antwort bekommt sie auch nicht, also wiederholt sie ihre Frage.
    „Süß“, quetsche ich heraus, in Gedanken noch immer bei der Kirschmarmelade.
    „Kaffee? Weiß und mit Zucker? Brötchen? Aufschneiden? Streichen? Joghurt? Pudding?“
    Die Fragen kommen wie ein Bombardement. Ich nicke nach jeder einzelnen und nur Sekunden später stellt sie ein Frühstück vor mich hin, das sich dieser Bezeichnung nicht zu schämen braucht. Wann hat sie das Brötchen gestrichen? Kann sie hexen?
    Ich starre sie immer noch an und bemerke jetzt erst die typische Physiognomie. Das Mädchen hat das Down-Syndrom. Ein Mongo, hätte man früher gesagt. Heute ist das ein Schimpfwort, damals war es die medizinische Bezeichnung für diesen Gendefekt.
    Sie hat ihren Wagen längst weitergeschoben und lässt ihr „Herzhaft oder süß?“ am nächsten Tisch erklingen. Mein unverhohlenes Anstarren hat sie ignoriert oder gar nicht bemerkt.
    „Emily, hast du noch Kaffee?“, kräht Frau Walther. Offensichtlich hört auch sie nicht mehr so gut, sonst würde sie nicht den ganzen Speisesaal beschallen.
    „Emily ist unsere Frühstücks-Hostess“, erklärt Frau Morgner. „Sie besorgt uns so gut wie alles. Man muss es ihr nur am Tag vorher mitteilen. Ihr Gedächtnis ist phänomenal. Ob Sie Ihren Kaffee weiß und mit Zucker trinken, fragt sie nur beim ersten Tag im Speisesaal. Danach bekommen Sie nur etwas anderes, wenn Sie es verlangen.“
    Ich kann nicht anders, ich staune. Leute mit Down-Syndrom galten für mich immer als geistig behindert. Und dieses Mädchen soll sich die Wünsche aller Bewohner hier im Saal merken können?
    Frau Morgner muss meine Verwunderung erkennen, denn sie nickt bekräftigend. „Warten Sie ab, Sie werden es erleben“, meint sie und lacht.
    Der Morgen erschlägt mich mit neuen Eindrücken. Während ich mein Brötchen esse und den Kaffee schlürfe – weiß und mit Zucker – versuche ich sie zu verarbeiten. Fast sehne ich mich nach meinem Zimmer zurück, wo ich allein gefrühstückt habe. Aber da hat niemand nach meinen Wünschen gefragt. Wenn Ella die Mahlzeiten brachte, hieß es essen oder stehen lassen. Es hat mich nicht gestört, ich dachte, das ist eben so hier im Heim.
    Jetzt komme ich mir fast vor wie in einem Hotel. Servietten auf den Tischen, Kaffeetassen mit Untertasse, Tischdecken, Kellnerinnen ...
    Getarnt durch meine angehobene Tasse lasse ich den Blick durch den großen Raum schweifen. Er ist in warmen Farben gehalten, alles wirkt gemütlich und gleichzeitig auch zweckmäßig. Die ockerfarbenen Vorhänge, die sich schließen lassen, um die für manche Bewohner blendende Morgensonne auszusperren, die Stühle mit Armlehnen, die Menschen mit Schmerzen in den Knien oder zu wenig Kraft in den Beinen das Aufstützen beim Aufstehen erlauben und so auf besagte Beine helfen, die cremefarbene Wand-verkleidung, die ich erst als Tapete gesehen, beim näheren Hinschauen aber als Kunststoff erkannt habe. Abwischbar, wie praktisch ...
    Meine Augen setzen ihre Entdeckungsreise fort. Ich sehe Frau Herzel, sie sitzt drei Tische weiter mit zwei anderen Frauen, die teilnahmslos vor sich hinstarren und stumm kauen. Sie scheinen von der Vitalität bestens zu meiner Zimmergenossin zu passen. Die pure Lebensfreude!
    Mein Blick bleibt an einem Tisch in einer der Ecken hängen. Vier Herren, die sich angeregt unterhalten. Erst jetzt fällt mir auf, dass die meisten Bewohner Frauen sind. Es gibt nur zwei Männertische und der zweite ist nur halb besetzt.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Vom ersten klingt herzhaftes Lachen herüber und holt mein Interesse erneut dorthin. Karls Aufzählung fällt mir wieder ein. Manni, Eberhard und Fred. Wer wohl wer ist?
    Ich beobachte das Quartett eine Weile und glaube bald, Eberhard erkannt zu haben. Der ein wenig streng dreinblickende Weißhaarige im weißen Hemd mit Strickweste darüber – das muss er sein, der Gentleman. Und der mit den grauen Haaren und dem Rauschebart, der am lautesten lacht. mit dröhnendem Bass redet und der kleinen Emily in diesem Moment ein verschwörerisches Zwinkern geschenkt hat – das ist dann wohl Manni, dieser Casanova-Typ. Die beiden anderen verlangen eine genauere Betrachtung. Welcher von ihnen ist Fred, der Dritte im Bund und die optimale Mischung aus den anderen beiden?
    Der, der dem vermeintlichen Manni gegenübersitzt, beteiligt sich nicht an der Unterhaltung, hört aber aufmerksam zu, während er in seiner Kaffeetasse rührt. Er hebt mit der Linken den Deckel der Zuckerdose, nimmt ein Stückchen, gibt es in die Tasse und legt den Deckel zurück. In dem Augenblick fällt sein Blick auf mich.
    Unwillkürlich wende ich mich ab, so hastig, als hätte man mich beim Spannen erwischt. Himmel, wie albern ist das denn! Ich merke, dass ich rot werde wie ein Backfisch, obwohl er doch gar nichts getan hat. Es war ja nur ein kurzer Blick.
    Aber ich habe deutlich die Überraschung darin erkennen können. Ich verstehe es und wieder kommt mir in den Sinn, was ich mir schon beim Eintreffen am Speisesaal selbst erklärt habe: Es gibt hier sicher nicht viel Aufregendes zu erleben, da ist eine Neue willkommen. Eine Neue mit einem schicken, himmelblauen Sabberlatz.
    Meine Hand zittert, als ich meine Kaffeetasse greifen will, und ich lasse es besser sein und nehme stattdessen eine Brötchenhälfte.
    Es dauert eine Weile, bis ich mich wieder getraue, zum Männertisch hinüberzusehen. Unauffällig beobachte ich die vier und werde immer sicherer, dass ich mit Manni und Eberhard richtig getippt habe. Aber der Dritte, der mich angesehen hat – keine Ahnung, ob das Fred ist. Ich nehme es mal an, weil der Vierte im Bunde geschätzte hundert Jahre alt ist, in seinem Rollstuhl mehr hängt als sitzt und dem Samy eben sein Frühstück füttert. Den kann Karl unmöglich als Gesellschaft für mich vorgeschlagen haben.
    „Wohnen Sie allein?“, fragt Frau Morgner in dem Moment und reißt mich aus meinen Beobachtungen.
    Ich schüttle den Kopf und bin froh, dass ich den Mund voll habe und nicht antworten kann.
    „Ich auch nicht. Aber Hertha und ich sind ein gutes Duo und wir haben uns zusammengerauft. Nicht wahr, Hertha?“ Sie schaut Frau Walther an und schmunzelt.
    Ah, die beiden wohnen zusammen und können sogar während der Mahlzeiten gemeinsam am Tisch sitzen.
    Frau Walther hebt den Daumen und nickt. „Es war nicht leicht am Anfang. Marianne will immer ganz früh zu Bett und ich schaue so gern abends Fernsehen. Am liebsten Krimis.“
    Sie lacht keckernd und Frau Morgner winkt ab. „Du bist dafür ein Langschläfer und meckerst mich an, wenn ich früh aus dem Bett will. Aber wir haben eine Übereinkunft gefunden. Das Zauberwort heißt Kopfhörer.“
    Sie schaut mich ernsthaft nickend an und hofft wahrscheinlich, dass ich sofort begreife.

    Kopfhörer? Damit die eine das Schimpfen der anderen nicht hören muss?
    Meine Ratlosigkeit muss wohl an meinem Gesicht ablesbar sein, denn Frau Morgner erbarmt sich. „Sie schaut abends ihre Krimis mit den Dingern, damit ich schlafen kann, und ich höre morgens meine geliebte Klassik mit ihnen, um sie nicht zu früh zu wecken.“
    Ich bin überrascht. Eine so einfache Lösung, das ist ja noch besser als eine schwerhörige Mitbewohnerin!
    Frau Walther wischt Frau Morgners Erklärungen mit einer Handbewegung beiseite. „Das Zauberwort heißt nicht Kopfhörer, sondern Toleranz, Marianne“, verkündet sie und hebt dabei den Zeigefinger wie ein deklamierender Lehrer. „Man muss dem anderen seine Lebensweise zugestehen und ein Mittel finden, damit klarzukommen. Und das wurde uns beiden durch die Kopfhörer ermöglicht. Naja, eigentlich durch deinen Enkel, der sie besorgt hat.“
    Sie lachen beide.
    Ich mustere meine Nachbarin. Wie alt mag sie sein? Wie ich? Und ihr Enkel ist sicher dann auch in einem ähnlichen Alter wie meine.

    „Mama, du wirst Oma.“
    Das war alles, was Joachim am Telefon von sich aus verkündete. Den Rest musste ich ihm förmlich aus der Nase ziehen. Wann es so weit war, wie es meiner Schwiegertochter Viola ging, ob sie noch arbeitete, ob es Violas Eltern schon wussten ...
    Er beantwortete meine Fragen, doch mir fehlte etwas: Die überschwängliche Freude eines jungen, zukünftigen Vaters. Als ich den Hörer auflegte, versuchte ich eine leise Sorge in mir zu beschwichtigen, indem ich mir einredete, dass die erste Aufregung sicher schon abgeklungen war. Sie wussten es ja nicht erst seit drei Minuten.
    Viola war also schwanger. Ich musste an Mutter denken. Schade, dass sie das nicht mehr erleben konnte. Sie hatte sich nach dem kleinen Sohn von Gudruns Ältester immer noch mehr Urenkel gewünscht. Schließlich hatte sie selbst sechs Kinder geboren und an Möglichkeiten mangelte es deshalb wahrhaft nicht. Aber Martins missratener Sohn war in die USA ausgewandert, Erna hatte nie Kinder, Ursel lebte im Westen, Herbert war bei der Armee. Ja, Mutter hätte sich gefreut.

    „Möchten Sie noch austrinken?“
    Ich schrecke zusammen, weil mich die Stimme hinter mir aus meinen Erinnerungen reißt. Verwirrt wende ich den Kopf.
    Emily steht neben mir mit einem Servierwagen voller schmutzigem Geschirr. Sie möchte offensichtlich abräumen. Hastig nicke ich und leere meine Kaffeetasse. Beim Absetzen sehe ich, dass alles andere schon verschwunden ist. Ich lächle verlegen und Emily grinst zurück, während sie mit einem karierten Lappen den Tisch abwischt.
    „Was machen Sie jetzt?“, will Frau Morgner wissen.
    Ich wende den Blick von Wally ab, die unermüdlich versucht, ihren Rollstuhl selbst anzuschieben, und nicht bemerkt, dass die Bremse festgestellt wurde. Etwas ratlos schaue ich Frau Morgner an, dann hebe ich die Schultern.
    Sie mustert mich prüfend. Nicht nur mein Gesicht, nein, ihr Blick gleitet über meinen Körper. „Haben Sie Lust auf Sport?“, höre ich sie gleich darauf fragen.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Sport? Spinnt sie jetzt? Sollte sie tatsächlich nicht bemerkt haben, dass nicht nur ich im Rollstuhl sitze, sondern auch sie selbst? Ich sehe mich schon Hanteln stemmen und Kniebeuge machen ...
    Sie wartet meine Antwort nicht ab. „Mittwochs ist immer Sport, nicht wahr, Hertha?“
    Die kleine Frau Walther nickt begeistert, ballt die Hände zu Fäusten und imitiert eifrig Bizepstraining. Okay, noch eine, die spinnt.
    Meine Miene muss wohl sehr skeptisch aussehen, denn Frau Morgner tätschelt mir das Knie.
    „Keine Sorge, niemand wird Ihnen Klimmzüge abverlangen. Sie können ja beim ersten Mal einfach nur zuschauen. Und“, sie tauscht einen kurzen Blick mit ihrer Zimmergenossin, „ich fände es schön, wenn wir uns duzen. Du auch, nicht wahr, Hertha? Ich bin Marianne.“ Sie schaut mich erwartungsvoll an.
    Himmel, ich soll sprechen! Verlegen wische ich mir den Speichel vom Kinn. „Hannah“, quetsche ich heraus. Hat sogar halbwegs passabel geklungen.
    „Hannah. Schön. Also Hannah, wir warten hier, bis die Physiotherapeutin kommt. Der Saal hier wird ein bisschen umgeräumt, damit wir Platz haben.
    Ich nicke mechanisch. Eine zaghafte Stimme in meinem Kopf bettelt leise darum, wieder aufs Zimmer gebracht zu werden. Mir schwirrt der Kopf. Erst das Schaulaufen, nein, das Schaufahren, mit dem ich in den Speisesaal bugsiert worden bin, wo alle mich angestarrt haben, dann Wally mit ihrer Demenz, diese verflixte Sache mit dem Männertisch, Kopfhörer, Gudruns Wohnungsauflösung und jetzt Sport.
    Ich seufze und ergebe mich in mein Schicksal. Gut, dann tun wir jetzt etwas für die längst den Bach runtergegangene Kondition. Während wir warten und Karl und Emily zuschauen, die Tische an die Wand schieben und Stühle in einem Kreis anordnen, gehen meine Gedanken schon wieder spazieren.

    Nach Joachims Freudenbotschaft, dass ich Oma werde, war ich unsagbar melancholisch geworden. Mit Tränen der Freude oder der Rührung oder der was auch immer in den Augen hatte ich aus dem untersten Fach des großen Wohnzimmerschrankes unser Familienfotoalbum herausgeholt. Ein schweres Monstrum, denn es barg unzählige Fotos. Siegfried war ein begeisterter Fotograf gewesen und unsere Kinder seine mehr oder weniger willigen Motive.
    Auf dem Sofa sitzend nahm ich das Album auf den Schoß und schlug es auf.
    Bilder von Schmutz, alten Brettern und Schuttbergen, von verdreckten, aber strahlenden Männern, Arm in Arm mit einer Bierflasche in der Hand. Unser Haus hatte sich in eine Baustelle verwandelt. Vier Wochen vor unserer Hochzeit zogen meine Eltern nach oben. Seit Großmutter bei unserer Tante wohnte, hatten die Zimmer im ersten Stock leer gestanden. Ich weiß noch, dass Martin extra für diesen Umbau für zwei Wochen von Kiel heruntergekommen war und seine wenig begeisterte Frau Jutta und den knapp einjährigen Peter dort zurückgelassen hatte. Er, Siegfried und Vater bauten Großmutters Zimmer und eines der Kinderschlafzimmer in eine kleine Wohnung um. Die Zeiten, in denen sich das Leben der gesamten Familie im Erdgeschoss abspielte und die Räume oben nur zum Schlafen genutzt wurden, waren vorbei. Das junge Paar sollte etwas Eigenes haben, das hatte Vater mehrmals betont.
    Meine Hand blätterte die Seite um und das mit Spinnennetz-Muster überzogene Pergaminpapier der Zwischenseiten raschelte leise. Es war ein wenig vergilbt und der unverwechselbare Geruch von alten Dingen drang mir in die Nase. Ich hatte eindeutig zu lange nicht mehr in das Album
    hineingeschaut.
    Unsere Hochzeit. Neunzehnhundertfünfundfünzig. Ein Jahr nach meiner Schwester Gudrun. Sie und ihr Mann standen beim Gruppenfoto hinter uns. Ein schwer verliebtes Pärchen damals noch, und Gudrun war bereits schwanger. Ihre Älteste, Susanne, wurde im Frühsommer darauf geboren.
    Im Oktober dann unsere verspätete Hochzeitsreise, der Urlaub in Zinnowitz. Die Ostsee bei Herbststurm. Und ich an der Promenade, mit zerzauster Frisur und schwanger mit Beate. Genau wie bei Gudrun hatte es auch bei uns im ersten Ehejahr schon geklappt.
    Meine Hände wendeten die Seiten um. Jede von ihnen zeigt die festgehaltenen Erinnerungen unserer Ehe und die ersten Jahre mit den Kindern. Beate als stolze große Schwester mit dem zwei Wochen alten Joachim im Arm, die Großeltern bei der Kirschenernte, das Baby auf der Decke daneben munter strampelnd. Heuernte, Dorffest, Schlittenfahrten, staunende Kinderaugen an Weihnachten, Beates Einschulung neunzehnhundertdreiundsechzig, Joachims zwei Jahre später.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Hey Tariq

    Ich habe hier jetzt auch wieder aufgeholt und was soll ich sagen?

    Hannche ist einfach Zucker :love:

    Die Geschichte ist toll zu lesen. Herzerwärmend, berührend, lustig, manchmal melancholisch und auch traurig. Es liest sich einfach schön, weil es so nah am echten Leben ist.

    Die Charaktere sind mir auch allesamt ans Herz gewachsen. Sogar die Frau Herzel xD

    Also ich lese hier weiter sehr gerne und ich bin schon neugierig, was Hannche noch zu berichten hat! :)

    LG :)

  • Spoiler anzeigen

    So, nachdem ich eine Pause bei Hannche einlegen musste, weil ich mich voll und ganz meiner Hauptgeschichte widmen musste und dafür meine Konzentration gebraucht habe, will ich mal weitermachen. Danke, liebe LadyK , für deine Aufholjagd und deine netten Worte. Und auch für eure Likes, Lady und Kirisha !

    „Es geht los!“
    Frau Morgners, ach nein, Mariannes Hand stupst mich an die Schulter und ich hebe den Kopf. Der Stuhlkreis ist fertig, aber nur zu drei Vierteln. Die noch freie Fläche hat man für uns Rollstuhlfahrer vorgesehen. Auch der uralte Mann wird mit dazugestellt, obwohl er fest schläft.
    Karl lacht nur, als ich mit dem Finger auf den Alten deute und ihn fragend ansehe. „Der Heinz macht nach dem Frühstück immer ein kurzes Schläfchen“, verrät er schmunzelnd, „aber wir lassen ihn trotzdem mit hier, damit er nicht allein im Zimmer rumsitzt.“
    Der Heinz also. Zu Fred, Manni und Eberhard kommt nun der vierte Name hinzu. Dazu die drei Frauen von meinem Tisch. Mein Gehirn hat ganz schön zu tun, sich alles zu merken. Und es weiß immer noch nicht, wer Fred ist.
    Eine schlanke, junge Frau mit himmelblauem Poloshirt kommt in den Saal und klatscht in die Hände.
    „Guten Morgen!“, ruft sie fröhlich. „Kann’s losgehen?“
    Sie verzaubert die Anwesenden. Auf den Gesichtern sehe ich ein Aufleuchten und ihr Gruß hat sogar den schlafenden Heinz geweckt. Ich sehe staunend, wie er versucht, sich gerade hinzusetzen.
    „Das ist Kerstin“, erklärt Marianne, „die Physiotherapeutin. Ihre Sportstunde macht nicht nur Spaß, sondern auch müde Männer munter.“ Ihr Kinn ruckt vielsagend zu dem fast kahlen Heinz hinüber, der in seinem Rollstuhl ähnlich verloren wirkt wie Hertha. Doch er strahlt wie ein Kind am Weihnachtsmorgen. Auch die anderen Männer, die – wie ich jetzt erst sehe – mit in der Runde sitzen, verfolgen jeden Schritt der Therapeutin mit den Augen.
    Mir gegenüber sitzt ein fünfter Mann. Er schaut nicht auf Kerstin. Sein Blick ruht auf mir. Als er sieht, dass ich es bemerkt habe, nickt er mir lächelnd zu.
    Ich werde schon wieder rot. Wie vorhin. Eigentlich dachte ich, aus dem Alter raus zu sein. Aber diesmal sehe ich nicht weg, sondern erwidere das Nicken und lächle zurück.
    Er ist schlank, hat nicht so einen Bauch wie Manni. Auch fehlt ihm Mannis Rauschebart. Sein Haar ist weiß wie das von Heinz und auf seinem Kopf ist oben eine kleine kahle Platte. Er trägt eine Brille, aber keine Jogginghose mit Hosenträgern wie Fred, sondern eine Jeans mit einem bordeauxfarbenen Poloshirt.
    Wie alt er wohl sein mag? Das weiße Haar lässt ihn sicher älter erscheinen, aber die siebzig hat er definitiv überschritten.
    Das himmelblaue Shirt der Physiotherapeutin schiebt sich zwischen ihn und mich. Die junge Frau lacht mich an. „Ein neues Gesicht? Guten Morgen. Mein Name ist Kerstin. Und Sie sind ...?“
    Warum will jeder, dass ich spreche! Wenn ich Frau Benedikt sage, sind das vier Silben. Vier zu viel.
    „Hannah“, antworte ich deshalb und bin zufrieden damit, obwohl mir diese Stimme immer noch fremd ist.
    Sie nimmt es kommentarlos hin, dass ich nur den Vornamen genannt habe, und hält mir zwei Hanteln unter die Nase. „Willkommen in unserer Sportgruppe, schön, dass Sie dabei sind.“
    Überrumpelt greife ich mit beiden Händen zu und prompt poltert die für meine Rechte bestimmte zu Boden. Beschämt lege ich die zweite auf den Schoß und will mich bücken, doch Kerstin hat sie schon aufgehoben.
    „Missgeschick oder Greifschwäche?“, forscht sie interessiert.
    Schon wieder soll ich sprechen! Ich merke, wie ich zornig werde, obwohl die Therapeutin doch noch gar nichts über mich wissen kann.
    „Rechtsseitige schlaffe Hemiplegie mit Dysarthrophonie nach Apoplex“, antwortet jemand an meiner Stelle und als ich aufschaue, steht Karl neben mir.
    Dankbar lächle ich ihm zu. So, bitte, Kerstin. Jetzt weißt du, warum ich die Hantel fallen ließ. Ich hoffe, einer der vielen Fachbegriffe erklärt dir, dass ich nicht sprechen will. Weil ich es nicht kann. Noch nicht.
    Doch anstatt verständnisvoll zu nicken, geht sie zu ihrer Truhe hinüber legt die aufgehobene Hantel hinein und nimmt eine andere heraus, an deren Griff ein Klettband befestigt ist.
    Bevor ich weiß, wie mir geschieht, hat sie die Hantel damit an meiner rechten Hand befestigt. Überrumpelt von ihrem Pragmatismus versuche ich den Arm zu heben. Das kurze Zucken, das er schafft, reicht Kerstin, um zu zeigen, dass die Vorrichtung hält. Sie nickt zufrieden und klatscht in die Hände.
    „So, dann beginnen wir mit unseren kleinen Aufwärmübungen“, verkündet sie, während sie sich in die Mitte des Kreises stellt.

    Eine Stunde später fühle ich mich, als hätte mich ein Güterzug überrollt. Nicht nur mein gelähmter rechter, sondern auch mein linker Arm verweigert mir weiteres Hochheben und protestiert schon, als ich nur meine Tasse zum Mund führen will. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so gefordert worden bin. Ähnlich kraftlos habe ich mich nur gefühlt, wenn ich im Garten gearbeitet habe oder wenn unsere Kohlen geliefert wurden und in den Keller gebracht werden mussten.

    Die Kohlen kamen mit dem Pferdefuhrwerk aus Pretzberg. Der alte Kohlen-Alfred holte sie dort am Bahnhof ab und brachte sie nach Ellerbach. Er fuhr die Strecke in die Stadt und zurück an jedem Tag. Das Kohleliefern war sein Einkommen und so sah man ihn auch im schlimmsten Regen oder Sturm mit der Pfeife im Mund und in sein Ölzeug gehüllt auf dem Kutschbock hocken, während seine Pferde, die ihren Weg kannten, stoisch vor sich hin trotteten. Er gehörte zum Bild von Ellerbach wie die Linde am Wirtshaus, die Schule, die Milchrampe und die Bank an der Buswendeschleife.
    Alfreds Pferde waren langmütige und freundliche Kaltblüter, die vorsichtig mit ihren samtweichen Lippen die von uns Kindern hingehaltenen Mohrrüben entgegennahmen.
    Erst wenn Alfred mit seinem Fuhrwerk verschwunden war, wurden die Kohlen in den Keller gebracht. Alle mussten mithelfen, auch wir Kinder. Wir füllten die Eimer, die Mutter und Großmutter in den Keller trugen. Eine langweilige Arbeit, die sich nur ertragen ließ, weil wir einen Wettbewerb daraus machten, wer die meisten Eimer gefüllt hatte, wenn endlich alle Kohlen in der für sie vorgesehenen Kellerecke angekommen waren. Und weil es am Abend eine große Schüssel voll Schokoladenpudding für die fleißigen Helfer gab.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Oho - Ohhhooooo! Hat sich die gute Hannche etwa gerade in jemanden verguckt!

    Na mal schauen :)

    Das war wieder sehr schön Tariq :blush:

    „Rechtsseitige schlaffe Hemiplegie mit Dysarthrophonie nach Apoplex“

    Gesundheit!

    Leider kann man immer nicht viel sagen. Die kleinen Parts sind immer ein nettes Häppchen für Nebenbei :)

    LG :)

  • Oh ja, mir gefällt es auch sehr. Ich kann es immer nicht glauben, dass du diese eigentlich doch eher traurige Situation so lebendig und auch so spannend erzählen kannst. Zusammen mit den Erinnerungen, die ich ebenfalls richtig spannend finde, gibt es ein tiefes Bild und wirkt unglaublich echt.

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Lieben Dank, LadyK und Kirisha , ich freu mich, dass ihr nach wie vor dabei seid und eure Gedanken mit mir teilt. :danke:


    Während meine Gedanken durch meine Kindheit gestromert sind, habe ich im Wintergarten gesessen. Sammy hat meinen Rollstuhl hergefahren und hier warte ich nun auf das Mittagessen. Gerade hat die Kirchenuhr elfmal geschlagen.
    Wenn ich daran denke, dass man mich nachher wieder in den Speisesaal bringt, schlägt mein Herz schneller. Ich mag Marianne und auch Hertha ist ein Unikum. Aber ich bin schrecklich befangen im Umgang mit Waltraud. Sie hat bis jetzt außer ein paar zusammenhanglosen Fragen und der vergessenen Kirschmarmelade nichts erkennen lassen, was auf die Demenz schließen lässt, die ich aus den Medien kenne. Ich habe zwei Filme darüber gesehen. In dem einen ist die Demenzkranke ständig weggerannt auf der Suche nach jemandem, dessen Namen sie nicht nennen konnte. Ihre Familie musste sie zwangsweise in ein Heim geben, nachdem die Verwirrte im Winter von einer dieser Suchtouren nicht zurückkam und im Wald fast erfror. Und der zweite Film hat mich schlichtweg erschüttert. Er zeigte, wie die Krankheit eine Person verändern kann. Der Mann, eine Seele von Mensch und seiner Ehefrau in herzlicher Liebe zugetan, entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem gefühl- und gewissenlosen Monster, das seine Frau schlug und jedem nur die niedrigsten Absichten wie Diebstahl, Betrug und sogar Mord unterstellte. Auch er landete am Ende des Films im Heim, wo er einging wie eine Pflanze ohne Licht und nach wenigen Wochen starb.
    Ich schaudere heute noch, wenn ich daran denke, wie ich auf den Abspann gestarrt habe und dann mit wackligen Knien aufgestanden bin, um den Fernseher auszuschalten. Die Angst, selbst einmal so zu enden, hat damals ihre Krallen in mich geschlagen und obwohl es schon spät war, habe ich Getrud angerufen. Sie hat sich Zeit genommen, sich meine Befürchtungen angehört und dann gesagt, dass sie mich am nächsten Tag besuchen wird. Gertrud ist eine wahre Freundin gewesen.
    Ob Wally ein ähnliches Schicksal bevorsteht? Was mache ich, wenn sie irgendwann einmal anfängt mich oder Marianne zu schlagen? Oder wenn sie das Essen von meinem Teller nimmt? Ich könnte es ihr nicht einmal verbieten mit meinem armseligen Gestammel.

    Eine Dreiviertelstunde später sitze ich wieder neben Marianne am Tisch. Auf dem Teller vor mir entdecke ich ein weiß-gelbliches, undefinierbares Gemisch und Wally, mir gegenüber, senkt eben ihren Löffel in die gleiche Masse. Was um alles in der Welt ist das? Erst als ich einen genaueren Blick auf Mariannes Teller werfe, erkenne ich Kochfisch und Salzkartoffeln. Bei ihr ist es nämlich noch getrennt voneinander.
    Mein Blick kehrt zu meiner Portion zurück. Kochfisch und Salzkartoffeln. Zermatscht.
    Sieht nur anders aus, aber das hast du immer gern gegessen, Hannche, rede ich mir gut zu. Als ich mit der Linken zum Löffel greife, registriere ich, dass man mir weder Gabel noch Messer hingelegt hat. Okay, brauche ich auch nicht, denke ich trotzig, zumindest nicht das Messer. Aber es versetzt mir einen Stich. Ich habe plötzlich das Gefühl, in der sozialen Ordnung irgendwie eine Stufe abgestiegen zu sein. Meine Linke hält den Löffel, belädt ihn mit Pampe und verharrt schließlich vor meinem Mund. Es ist, als ob jemand anderes die Hand führt und mich füttert.
    „Magst du zerlassene Butter drüber?“
    Mariannes Ellenbogen stupst mich an und der Pamps rutscht vom Löffel, ignoriert, dass er am himmelblauen Latz hängenbleiben soll und landet auf meiner grauen Jogginghose.
    Ich bin ihm mit den Blicken gefolgt. Jetzt hebe ich den Kopf und schaue meine Nachbarin unglücklich an, die mit dem erhobenen Butter-Kännchen in der Hand noch immer auf meine Antwort wartet. Sie bemerkt, was passiert ist.
    „Oh, entschuldige, das war keine Absicht. Emily?“
    Die blonde Hostess, die auch beim Mittagessen wieder durch den Speisesaal wuselt, lässt von irgendwo ein „Ja?“ hören.
    „Bring mal bitte einen Lappen, Hannah hat gekleckert.“
    Mir schießt die Röte ins Gesicht. Das hätte sie sich wirklich verkneifen können! Mich so bloßzustellen vor der versammelten Mannschaft ...
    Meine Wangen brennen, ich starre auf meinen Schoß und ich wage nicht den Kopf zu heben, während Emily mit ein paar flinken Handgriffen das Malheur beseitigt. Ein winziger Fleck bleibt auf der Jogginghose zurück. Danke, du wundervoller himmelblauer Latz, knurre ich in Gedanken. Jetzt bin ich im freien Fall wohl gleich mehrere Stockwerke in der sozialen Ordnung abgestürzt.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Heyho Tariq

    Als ich mit der Linken zum Löffel greife, registriere ich, dass man mir weder Gabel noch Messer hingelegt hat.

    „Bring mal bitte einen Lappen, Hannah hat gekleckert.“

    Beides unbewußte Respektlosigkeiten, trotzdem mit nichts entschuldbar.

  • Der Wanderer

    Nur ganz kurz dazu: Das mit dem Besteck ist so üblich. Zumindest kenne ich es nicht anders. Aber ich wurde von einer Bewohnerin mal gefragt, warum man ihr (versehentlich) Messer und Gabel hingelegt habe, wo doch jeder wüsste, dass sie es nicht festhalten, geschweige denn benutzen konnte. Sie war der Meinung, man würde den Tisch einfach zack zack decken und keinen Gedanken daran verschwenden, ob derjenige, dem man das Messer hinlegte, es auch handhaben konnte. Hier war also das Gegenteil der Fall.

    Heute nur ein kurzer Post, weil ich den folgenden nicht trennen möchte:

    Als ich endlich wieder aufschaue, bemerke ich erstaunt, dass mich niemand anstarrt. Keiner schenkt unserem Tisch einen Blick, jeder widmet sich allein seinem Essen. Erst jetzt erkenne ich, dass mehrere Bewohner einen Latz tragen. Wally hat einen cremefarbenen und wischt gerade einen Klecks Soße darauf breit, bevor sie die beschmierten Finger an der Tischdecke zu säubern beginnt.
    „Wally, lass das“, ermahnt Hertha, ohne hinzusehen, so, als sei ihre Sitznachbarin ihr Kind.
    Die gehorcht und greift wieder nach dem Löffel. Erneut landen Senfsoße-Tropfen auf ihrem Latz. Diesmal ignoriert sie es.
    Marianne hat das Butterkännchen inzwischen abgesetzt. Sie muss meine Betroffenheit bemerkt haben. „Mach dir nichts draus“, tröstet sie und streicht mir über den Arm. „Wir haben alle schon gekleckert, das ist nichts Ungewöhnliches hier. Hast du nicht gemerkt, dass sich keiner dafür interessiert hat?“
    Ich nicke. Doch, das habe ich. Aber ich war der Meinung, dass es aus Höflichkeit geschehen ist.
    „Das passiert andauernd irgendjemandem. Kein Malheur. Umgeschmissene Tassen oder fallengelassenes Besteck, abgestürzte Brote – alles ganz normal. Du wirst dich dran gewöhnen, glaub mir.“
    Ich zweifle daran. Zeit meines Lebens habe ich auf Tischmanieren geachtet. Selbst nachdem die Kinder ausgezogen waren, lag bei mir eine Serviette zum Essen bereit. An den Sonntagen gab es ein weißes Tischtuch und eine Kerze. Das ist mir wichtig gewesen. Ich habe auch nie mein Essen schnell mal im Stehen verschlungen.
    Und hier? Nicht nur dass ich ständig den Sabber vom Kinn wischen muss, was mich entsetzlich beschämt, nein, ich kleckere mich voll beim Essen wie ein Kleinkind.

    Was habe ich erwartet, als ich hier gelandet bin? Dass mein Leben so weitergeht wie vor dem Schlaganfall? Nur ein paar Tage ausruhen, dann ist alles wie vorher?
    Mit Mühe unterdrücke ich ein Schluchzen. Nein, nein, ich habe es schon ganz genau gewusst, was es bedeutet, in ein Pflegeheim zu kommen. Man kann sein Leben nicht mehr allein bewältigen und ist auf Hilfe angewiesen. Oder sogar noch schlimmer: man ist völlig hilflos. Ja, so wie ein Kleinkind. Aber etwas zu wissen und dann selbst zu erleben sind zwei verschiedene Dinge.
    Tränen steigen mir in die Augen, während ich im Selbstmitleid versinke. Ich hebe die Hand nicht, um sie wegzuwischen. Nein, sie dürfen rinnen. Niemand sieht sie.
    Marianne hat sich wieder ihrem Teller zugewendet. Der ist bereits halb geleert, im Gegensatz zu meinem, dem nur eine Löffelportion fehlt, nämlich die, die auf meiner Hose gelandet ist.
    Marianne bemerkt es. „Iss!“, fordert sie mich auf. „Es wird doch alles kalt. Soll Emily es nochmal in die Mikrowelle schieben?“
    Ich schüttle den Kopf. Mein Löffel senkt sich in die weiß-gelbe Pampe und erreicht dann ohne neue Zwischenfälle den Mund, der sich diesmal auch öffnet.
    Kalt. Marianne hat recht, es ist nicht mal mehr lauwarm. Doch das stört mich nicht. Ich konzentriere mich darauf, nicht noch einmal zu kleckern, und beende meine Mittagsmahlzeit. Und es schmeckt wirklich gut! Als ich den Löffel endlich auf den leeren Teller lege, habe ich mein selbst gestecktes Ziel erreicht und feiere, indem ich still vor mich hinlächle. Eine armselige Herausforderung ist das gewesen, aber wir lassen es langsam angehen. Bäume können wir morgen wieder ausreißen. Oder nächste Woche ... nächstes Jahr.

    Die Mittagsruhe verbringe ich im Liegen. Genauso problemlos, wie er mich in den Rollstuhl gesetzt hat, hat Karl mich auch wieder ins Bett verfrachtet.
    Während ich den Wasserfleck an der Decke betrachte und Frau Herzels Schnarchen lausche, gehe ich mit mir ins Gericht. Ich verabscheue die Hannche, die im Speisesaal geflennt hat. Das bin nicht ich gewesen. Das war ein von neuen Eindrücken überrumpeltes Weiblein, das zwischen dem Wundern über Blicke fremder Männer und der Scham über verkleckertes Essen den Blick für die Realität verloren hat.
    Aber nur kurz, korrigiere ich mich selbst, das war nur ein Moment der Schwäche. Ich bin stark und ich werde mich – wie von Marianne prophezeit – an alles hier gewöhnen. An wirklich alles.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Ich roch es beim Sortieren der Schmutzwäsche. Rauch. Zigarettenrauch.

    Schnüffelnd presste ich Kleidungsstücke an die Nase, bis ich die Quelle gefunden hatte: Beates Jacke. Noch mehr, ihre Hose und auch ihre Bluse.
    Mein Herz schlug schneller. Es war nicht Zorn, es war Angst.
    Beate entglitt mir. Mit ihren sechzehn Jahren sperrte meine Tochter mich aus ihrem Leben aus. Es war Frühsommer, die Abschlussprüfungen standen an. Aber Beate lernte nicht. Sie kam aus der Schule, warf ihre Schultasche in die Ecke in ihrem Zimmer und verschwand wieder. Wohin sie ging, wusste ich nicht. Joachim erzählte mir einmal, dass Jungen mit Mopeds zu unserem Haus kamen und sie abholten. Irgendwann abends brachten sie sie zurück. Beate verschwand erneut in ihrem Zimmer unter dem Dach und gleich darauf dröhnte Musik herunter.
    Ein, zwei Versuche hatte ich unternommen, mit ihr zu reden. Ich wollte von meiner Sorge sprechen, wollte sie bitten, mir doch Bescheid zu geben, wenn sie das Haus verließ, und mir auch zu sagen, wohin sie ging.
    „Mama, du bist nicht da, wenn ich aus der Schule komme, und wir machen unsere Pläne für Nachmittag und Abend immer kurzfristig. Die Jungs gehen in meine Klasse und es sind auch immer noch mehr Mädels dabei. Also mach dir keine Sorgen, wir tun nichts Verbotenes.“
    Ich hatte mich beschwichtigen lassen. Doch nun roch ich den Zigarettenrauch. Haftete er nur an ihrer Kleidung, weil man in ihrem Umfeld geraucht hatte, oder war sie selbst ...
    Nein, das tat sie nicht. Sie würde wissen, dass ich das nicht billigte, und nicht gegen meine Anordnungen –
    Siedend heiß fiel mir ein, dass wir darüber nie gesprochen hatten. Es gab kein Verbot, die sie übertreten würde.
    Beim Abendessen sprach ich das Thema an. Joachim würde zuhören und gleich wissen, was ihm bevorstand, sollte er je mit sechzehn rauchen.
    „Ich habe Zigarettenrauch an deinen Kleidern gerochen“, verkündete ich und sah Beate aufmerksam an.
    „Ja, Olli hat mir eine spendiert“, gab sie lapidar zurück. „Meine waren alle und Taschengeld habe ich keins mehr.“
    Um meine Frage möglichst unverfänglich klingen zu lassen, hatte ich die Tasse danach an die Lippen gehoben, um zu trinken. Jetzt verschluckte ich mich. Heißer Tee schwappte mir über die Hand und ich stieß zwischen krächzendem Husten erst einen erschrockenen Ruf und dann ein schmerzerfülltes Zischen aus.
    „Deine?!“, japste ich, als ich wieder Luft bekam.
    Meine Tochter sah mich fast mitleidig an. „Ich rauche seit einem halben Jahr“, erklärte sie schulterzuckend. „Gestern hab ich das erste Mal hier vor dem Haus eine angezündet. Wahrscheinlich hast du deshalb den Rauch gerochen. Sonst wurde der immer vom Fahrtwind auf der Heimfahrt beseitigt.“ Sie griff nach einer Scheibe Brot und ließ sich von Joachim die Butter reichen.
    Ich saß wie erstarrt. Seit einem halben Jahr? Meine Tochter hatte mit fünfzehn begonnen zu rauchen? Und ich hatte nichts gemerkt? Und nun rauchte sie vor dem Haus! Was sollten die Leute denken? Ellerbach war klein, so was sprach sich herum. Beate fiel eh schon auf. Ihre Röcke waren immer etwas kürzer als die der anderen Mädchen, weil sie den Bund einmal umschlug. Sie half nur äußerst ungern im Haushalt, man sah sie nie Wäsche aufhängen oder welche von der Leine nehmen. Und dann diese Moped-Jungs. Erika Schneider, meine Apfelkorn-Nachbarin, hatte mich schon gefragt, welcher von denen wohl Beates Freund sei. Ihr Freund! Das Mädel war sechzehn! Da hatte man noch keinen ...
    An der Stelle war meine Antwort abgebrochen, weil meine Gedanken zum Stillstand kamen.

    Ein Freund.

    War Beate vielleicht längst schon mit einem Jungen zusammen? Brachte sie mir nächstes Jahr ein uneheliches Kind an, damit ich es aufzog, während sie noch ihre Ausbildung fertig machen musste?
    Ich weiß noch, dass ich auf Beates Antwort auf meine Frage nach der Herkunft des Zigarettenrauchs lediglich ein „Muss das sein? In deinem Alter?“ herausbrachte. Sie sah mich nur verständnislos an und rollte dann genervt mit den Augen. In dem Moment erkannte ich, dass meine Tochter an ihrem Verhalten nichts Falsches sah. Und ich wusste auch den Grund dafür.
    Meine älteste Schwester war Beates leuchtendes Vorbild. Ernas Art zu gehen, zu lachen, sich zu bewegen war von meiner Großen schon ziemlich früh eifrig nachgeahmt worden. Genauer seit Mutters fünfundsechzigstem Geburtstag, an dem Erna das erste Mal seit dem Mauerbau zu Besuch kam. Beate war damals mit vierzehn im besten Backfischalter gewesen und hatte mit weit geöffneten Augen an Ernas Lippen gehangen, als diese uns wie eine Dame von Welt Einblick in die Berliner Lebensweise gewährte. Erna hatte dies natürlich bemerkt und schürte das kleine Feuer in ihrer Nichte auf ihre ganz eigene Weise, indem sie ihr immer wieder Päckchen mit Strumpfhosen, Haargummis und in letzter Zeit sogar Makeup schickte.

    Ich sah das mit Stirnrunzeln, denn Beate hatte ihren Schulabschluss vor sich und sollte dann eine gute Ausbildung beginnen. Doch der Schaden war angerichtet. Von diesem Tage an entfernte sich Beate von mir.

    Mein Blick sucht das Bild meiner Tochter auf dem Wandbord. Dieser knappe Bikini ist so typisch für sie. Im Herbst nach den Abschlussprüfungen ist sie mit dem noch tintenfeuchtem Schulabschlusszeugnis als Siebzehnjährige allein nach Berlin gereist, um bei Erna zu wohnen und eine Lehre als Drogistin zu machen.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Meine Augen wandern weiter zu dem Bild, das fünf von uns sechs Geschwistern unter unserem Kirschbaum zeigt. Wir vier Schwestern sitzen, Martin, der einzige Bruder, steht hinter uns. Alle lächeln in die Kamera, obwohl die Aufnahme am Tag von Mutters Beerdigung gemacht worden ist und wir kurz vorher noch bedauert hatten, dass Herbert nicht bei uns war.

    Erna als Älteste von uns war damals fünfundfünfzig gewesen, ich als Jüngste gerade sechsundvierzig. Es war ein besonderes Ereignis und wir hatten beschlossen, dass es unbedingt auf einem Bild festgehalten werden musste. Keiner von uns konnte sagen, wann wir fünf wieder zusammenkommen würden. Schließlich wohnte Martin in Kiel, Ursel in Düsseldorf und Erna in Westberlin. Ihre Einreise in die DDR war nur bei familiären Ereignissen möglich und auch dann die Bewilligung des Antrages immer eine Zitterpartie. Mutter als Oberhaupt der großen Familie war jetzt nicht mehr da. Welcher Anlass würde wohl wichtig genug sein, um ein Wiedersehen zu ermöglichen?
    Die Frage hatte sich sieben Jahre später erledigt, nachdem Ursel auf dem Heimweg von einem Spaziergang von der Straßenbahn erfasst und überfahren worden war. Obwohl wir uns keine Hoffnungen machten, beantragten Gudrun und ich eine Reiseerlaubnis, um zur Beerdigung unserer Schwester fahren zu können. Das war ein halbes Jahr vor der Öffnung der innerdeutschen Grenze noch eine komplizierte Angelegenheit. Ursels Mann musste uns einladen und außerdem eine Kopie der Sterbeurkunde schicken. Da wir beide noch berufstätig waren, benötigten wir außerdem einen Persilschein von unserer Arbeitsstelle.
    Man ließ uns warten, natürlich ohne Gründe zu nennen, und aus der Fahrt zu Ursels Beerdigung wurde eine zu ihrer Urnenbeisetzung. Aber immerhin durften wir fahren. Wahrscheinlich vermutete man bei zwei Frauen in den Fünfzigern keine Fluchtgefahr. Ich werde den Tag dieser Reise nie vergessen. Zu groß war die Aufregung gewesen, die Angst, dass man uns an der Grenze zurückschickte oder – noch schlimmer – verhaftete. Man konnte nie wissen, was in den Köpfen der Zoll- und Grenzbeamten vor sich ging und es kursierten die tollsten Geschichten über Reisende, die nur Verwandte besuchen wollten und sich plötzlich in einem Knast der Stasi wiederfanden. Manchmal wurden auch gemeinsam gestellte Anträge nur für eine Person bewilligt oder eine bereits erteilte Erlaubnis ohne Begründung zurückgezogen.
    Wir stiegen in Magdeburg in den Interzonenzug. So nannte man die Züge, die zwischen Ost und West verkehrten. Ohne Zwischenhalt an kleineren Bahnhöfen ging es durch bis Marienborn, den Grenzbahnhof der DDR. Die Passkontrolle verlief reibungslos. Man fragte nur nach dem Ziel der Reise und wollte die dafür benötigten Papiere sehen, dann gingen die Beamten weiter zum nächsten Reisenden.
    Ob sie wussten, wie atemlos die kontrollierten Personen auf dieses Weitergehen warteten? Wie sie das Studieren der Unterlagen als ewig andauernd empfanden? Wie sie die Beamten beobachteten, auf ihre Waffen schielten und sich bemühten, unauffällig zu wirken?
    Als die Kontrolle vorbei war, rollte der Zug über die Grenze. Wir starrten stumm und mit klopfendem Herzen aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Stacheldrahtzäune und den sogenannten Todesstreifen, die Wachtürme und die Hunde. In Helmstedt, dem ersten Bahnhof auf bundesdeutschem Gebiet, wurde die Lok gewechselt, dann ging die Reise durch bis Düsseldorf. Wir waren bei der Ankunft so erschöpft, dass unsere Beine beim Aussteigen zitterten und Ursels Mann uns zu Hause erst einmal einen großen Cognac vorsetzte.

    Ich muss wohl ein bisschen gedöst haben, denn plötzlich steht Karl an meinem Bett.
    „Nochmal in den Rollstuhl?“, fragt er. „Im Speisesaal duftet es nach Kaffee.“
    Ich hebe den Kopf. Frau Herzels Bett ist leer, also hat sie sich wahrscheinlich schon auf den Weg gemacht. Ich bin wohl wirklich eingeschlafen, denn ich habe nichts davon bemerkt.
    Mit einem Ruck schlage ich die Wolldecke zurück, die Karl vorhin über meine Beine gebreitet hat. Das ist meine Antwort auf seine Frage und ha, ich habe dafür nicht einmal sprechen müssen.
    Als ich kurz darauf neben Marianne am Tisch sitze, fühle ich mich schon nicht mehr so unwohl wie noch heute Morgen. Ich gehöre dazu, bin eine von denen, die hier essen, trinken, kleckern und miteinander reden. Eine von vielen. Wie Hertha, Wally, Frau Herzel, die Männer am Männertisch und –
    Mein Blick, der ziellos durch den in warmen Farben leuchtenden Raum wandert, bleibt an einem Rollstuhl zwei Tische weiter hängen. Diese silberweißen Löckchen ...
    Es ist die Neue, deren Ankunft ich gestern miterlebt habe, als ich im Rollstuhl im Wintergarten saß. Sie bietet denselben Anblick wie am Vortag: verlassen, verstört, verzagt. Ich sehe, dass sie sich trotz des munteren Schwatzens ihrer beiden Tischnachbarinnen wie auf einer Insel der Stille befindet. Sie hat sich abgekapselt, eine Schutzwand um sich herum hochgezogen und die nervös das Taschentuch knetenden Finger verraten, dass sie überall lieber wäre als hier.
    Mich erfasst erneut Mitleid mit ihr. Schon gestern hätte ich sie am liebsten tröstend in den Arm genommen, ohne dabei daran zu denken, dass ich in einer ähnlichen Situation wie sie gewesen bin und – bei näherer Betrachtung – selbst Trost nötig hatte.
    Aber nicht so wie sie. Dieses kleine Frauchen wird zerbrechen hier. Die Umgebung macht sie fertig. Ist sie freiwillig im Heim? Mit Sicherheit nicht. Und im Speisesaal? Wahrscheinlich auch nicht. Hat man sie gegen ihren Willen hergebracht oder ist sie nur zu schüchtern gewesen zu widersprechen?
    Ich sehe mich um. Irgendwo muss Karl doch sein. Er hat sie bestimmt hergebracht.
    Während ich ihn suche, fällt mir ein, dass ich ihn nicht fragen kann. Es wären mit Sicherheit mehr als zwei Worte nötig. Aber die Entscheidung wird mir abgenommen, denn Karl ist nicht da. Stattdessen tritt eine blonde Schwester an den Tisch der Neuen. Sie greift nach der Kuchengabel, zerteilt das Stückchen Eierschecke auf deren Teller und nickt der kleinen Frau aufmunternd zu.
    Doch die schüttelt den Kopf und starrt mit gesenktem Kopf auf das zerknautschte Taschentuch in ihrem Schoß. Obwohl die Schwester sich herabbeugt, ihr die Hand auf die Schulter legt und leise auf sie einredet, bleibt der Kuchen unberührt. Als am Tisch am Fenster jemand „Karola!“ ruft, hebt die Blonde den Kopf und geht hinüber.
    „Sie ist neu“, raunt Hertha über den Tisch. Aber wenn Hertha raunt, hört es der ganze Speisesaal.
    „Ssssch!“, zischt Marianne. Genau wie ihre Zimmer-genossin muss sie erkannt haben, wohin ich die ganze Zeit geschaut habe. „Lass sie. Sie wird sich einleben. Ich sagte ja schon, am Anfang ist es immer am schwersten, stimmt’s, Hannah?“
    Ich nicke und greife zur Kaffeetasse. Natürlich, Marianne, denke ich säuerlich, ich muss das wissen, weil ich ja nach erst vier Wochen den Anfang so gut mit der Zeit, die danach kommt, vergleichen kann.
    Doch meine Befremdung über Mariannes Bemerkung verschwindet so schnell, wie mein Kaffee kalt geworden ist. Der Gedanke, die Neue zu besuchen, verdrängt sie. Und nein, nicht nur besuchen will ich sie, ich will mich um sie kümmern. Wenn sie es zulässt. Uns beiden wäre damit geholfen. Ich bekomme eine Aufgabe und einen neuen Grund, meine Sprechübungen zu forcieren. Außerdem bringt so etwas Abwechslung in die eintönigen Tage, auch wenn mittwochs Sport gemacht wird. Und sie kann Fuß fassen, sich ihren Kummer von der Seele reden, über die Kinder schimpfen, die sie hierher gebracht haben – was auch immer.
    Der Plan gewinnt Gestalt in meinem Kopf. Ich muss ihn mit Karl und Sammy besprechen. Quatsch, ich kann nichts besprechen. Aber ich kann aufschreiben. Okay, wenn ich mit links schreibe, sieht es aus, als wäre ein flüchtendes Huhn über das Blatt gerannt. Aber das kann man üben. Und ich werde heute noch anfangen.
    Ich brauche Papier und Stift.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Wieder ein sehr schöner und spannender Abschnitt! Ich drücke Hannah und der Neuen die Daumen, dass die Annäherung klappt!

    als wäre ein flüchtendes Huhn über das Blatt gerannt.

    herrlich!

    DDR

    Diese DDR-Erinnerungen haben mir auch sehr gefallen! Ich kenne das Gefühl des Grenzübergangs damals auch noch, nur andersrum West-nach-Ost, war aber genauso schweißtreibend. (Ich fuhr zur Hochzeit meiner Großkusine und hatte ein verbotenes Bravo-Heft im Koffer versteckt, das ihr Bruder sich gewünscht hat. Hab Blut und Wasser geschwitzt, sie könnten es entdecken und mich verhaften - ich war damals 17. Die Grenzkontrolle im Zug verlief in einem Ton, als würden Häftlinge aus der Schwerverbrecheranstalt von Wächtern vernommen. Ich glaube, da haben alle gezittert, jawohl auch die Wessies. Mich hat das damals echt vom Hocker gehauen, diese Atmosphäre, mit der ich nicht gerechnet hatte. Als ich das Bravo-Heft einpackte, hatte ich noch drüber gelacht, dass unsere Verwandten sagten, so ein dummes Jugendheft - das ich langweilig fand - könnte Stress machen).

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Kirisha

    Vielen Dank! :)

    Hier bei dieser Zugfahrt sind die Erinnerungen meiner Mutter zu Wort gekommen, die in den Westen reisen durfte, um ihren herzkranken Vater zu besuchen. Wie die Reise von West nach Ost erlebt wird, war aber auch mal spannend zu erfahren :D

    So, dann mal weiter mit der Neuen :thumbsup:

    Drei Tage später ist mein Plan gestorben. Die Neue sitzt am Frühstückstisch und weint. Es herrscht eine eigenartig bedrückte Stimmung im Speisesaal. Ich sehe, wie Emily nach dem Streichen den Brötchenhälften den Teller vor ihr abstellt, dann einige Worte mit ihr wechselt und sie schließlich ein wenig unbeholfen umarmt. Auch Monika, die Stationsschwester, kommt, spricht mit ihr und streicht ihr dann über die Schulter. Eine irgendwie hilflos wirkende Geste.
    Die Neue rührt ihr Frühstück nicht an, trinkt nicht einmal den Kaffee. Wie ein Häufchen Unglück hockt sie in dem Rollstuhl und wischt sich in regelmäßigen Abständen mit einem weißen Batisttaschentuch über die rotgeweinten Augen. Irgendwann versiegen die Tränen und sie starrt nur noch mit leerem Blick auf den Tisch. Als Schwester Monika mit dem Verteilen der Medikamente fertig ist, geht sie erneut zu ihr und redet auf sie ein. Ich sehe nur das angedeutete Schütteln des silberweißen Lockenkopfes, dann ergreift Monika den Rollstuhl und bugsiert ihn durch die Tische hindurch nach draußen. Weg ist die Neue.
    Die beklemmende Atmosphäre im Speisesaal löst sich nur zögernd. Marianne winkt Emily zu und hält ihre Kaffeetasse hoch.
    Das Mädchen kommt mit der Kanne an den Tisch.
    „Was war denn mit ihr?“, raunt Marianne und ruckt mit dem Kinn zum Tisch mit der Neuen.
    Emily wirft einen scheuen Blick hinüber. „Ihr Mann ist gestern Abend gestorben. Monika hat es ihr vorhin gesagt.“
    Während Marianne mitfühlend nickt, schnürt sich meine Kehle zu.
    Ihr Mann ist tot.
    Ob er im Krankenhaus gelegen hat? Wahrscheinlich hat er sich zu Hause um seine Frau gekümmert. Dann ist er wohl krank geworden und musste in die Klinik. Und sie deswegen ins Heim ...
    Könnte ich laufen, würde ich zu ihr gehen und sie mal in die Arme schließen. Ob Monika sich die Zeit nimmt, ein wenig bei ihr zu bleiben und sie zu trösten? Oder hat niemand Zeit dafür? Vielleicht ist die Frau auf ihr Zimmer zu bringen und dort allein zu lassen die einzige Lösung, die man hier für solche Fälle hat? Möglich wäre auch, dass man einfach den Schmerz eines anderen nicht zu nahe an sich heranlassen will ...
    Mir schmeckt mein Frühstück nicht mehr. Jeder Bissen fühlt sich im Mund an wie aufgequollene Watte und der Kaffee ist bitter und halb kalt. Ich kann meinen Blick nicht von dem nun verwaisten Platz der Neuen wenden und mein Gehirn wiederholt in einem immer wiederkehrenden Mantra: Ihr Mann ist gestorben.
    Ich kenne den Schmerz. Und das Gefühl, dass die Welt aufhört sich zu drehen. Nicht jede Todesnachricht löst diese Empfindungen aus. Es tut nicht immer gleich weh. Mancher Abschied berührt einen kaum, ein anderer zwingt einen in die Knie.

    Erna starb vier Jahre nach Ursel. Ihr Tod ging mir nicht nahe. Sie war sowieso immer eine reservierte und unnahbare Person gewesen. Seit sie damals mit neunzehn bei Doktors in Pretzberg in Stellung gegangen war, konnte man förmlich spüren, dass sie sich für etwas Besseres hielt. Manchmal dachten wir jüngeren Geschwister sogar, dass sie sich für uns schämte. Sie kleidete sich mit einer Sorgfalt, die sogar Mutter Hochachtung abnötigte, und sie achtete auf ihre Wortwahl. Die meisten unserer Familienprobleme waren ihr einfach zu profan, sie strebte nach Höherem. Erna hatte auch nie geheiratet, lebte in ihrer hübschen Puppenstubenwohnung, seit sie neunzehnhunderteinundsechzig den Doktors in deren neue Bleibe nach Westberlin folgte.
    Der Kontakt zu meiner ältesten Schwester war mehr als lose. Wir verloren uns fast ganz aus den Augen. Bei Siegfrieds Beerdigung, dem ersten Wiedersehen drei Jahre nach ihrem Weggang, war sie uns so fremd geworden, dass sich der Umgang und die Unterhaltungen mit ihr einfach nur steif und förmlich anfühlten.
    Neunzehnhundertsiebzig sahen wir sie erst wieder, da kam sie zu Besuch am Arm eines gutaussehenden Mannes. Seinen Namen vergaß ich bald wieder. Es schien sowieso keine besonders enge Beziehung gewesen zu sein. Nur wenige Wochen danach war der gutaussehende Begleiter schon Geschichte.


    Ich winke Karl. Er nickt mir zu als Zeichen, dass er es bemerkt hat. Drei Minuten später steht er am Tisch.
    „Was gibt’s?“, fragt er und stellt mein benutztes Geschirr mit dem von Marianne zusammen. Das Abräumen der Tische ist Emilys Aufgabe.
    „Die Neue, wo wohnt sie?“, möchte ich wissen.
    Er sieht mich aufmerksam an. Wahrscheinlich hat ihn diese förmliche Flut an Wörtern aus meinem Mund überrascht.

    „Möchten Sie sie besuchen?“, fragt er.
    Ich nicke entschlossen.
    „Das ist kein Problem. Ich brauche noch zehn Minuten, um dem Heinz sein Frühstück zu geben.“ Sein Kinn ruckt kurz zu dem uralten Mann am Männertisch hinüber, dessen Kopf auf die Brust gesunken ist und der seelenruhig schläft. „Dann komme ich.“

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Er hält Wort. Zehn Minuten später schiebt er meinen Rollstuhl den Gang entlang in Richtung Wintergarten, hält aber vorher an der Tür, hinter der die Neue wohnt.
    ‚Gertrud Weiß‘ entziffere ich, als mein Blick das Namensschild daneben streift.
    Gertrud, wie meine Freundin.

    Ich wünschte du wärest jetzt hier, Trudi, denke ich. Dir würde es nicht schwerfallen, diese trauernde Witwe zu trösten. Du hattest für alles und für jeden immer die richtigen Worte und dein Herz war stets größer als das meine und voller Mitgefühl.
    Karl klopft. Obwohl keine Antwort zu hören gewesen ist, öffnet er und geht ins Zimmer. „Frau Weiß“, höre ich ihn drinnen sagen, „hier ist Besuch für Sie.“
    Niemand antwortet, aber wahrscheinlich hat die Frau genickt, denn Karl erscheint wieder auf dem Gang, packt meinen Rollstuhl und schiebt ihn in den Raum hinein.

    „Das ist Frau Benedikt“, erklärt er. „Sie spricht nicht viel, wollte Sie aber trotzdem sehen. Ich lasse Sie ein Viertelstündchen allein, dann komme ich wieder vorbei.“ Und schon höre ich, wie er die Tür von außen schließt. Weg ist er.

    Der Rollstuhl von Frau Weiß steht am Fenster. Sie hat ein Einzelzimmer. Kurz beneide ich sie, doch gleich darauf komme ich mir schäbig vor. Ich denke, das Zimmer ist ihr im Moment sicher ziemlich egal. Sie hat anderes im Kopf.

    Während ich sie mit einem freundlichen Lächeln begrüße und meinen Namen hervorbringe, wandert mein Blick im Raum umher. Die Einrichtung ist spartanisch. Wenig private Dinge kann ich entdecken, nur eine bunte, gehäkelte Decke, die über ihren Beinen liegt, und zwei Bilder. Auf einem ist ein älterer Herr zu sehen, der freundlich in die Kamera lächelt. Die Frau daneben ist Frau Weiß. Er hat den Arm um ihre Schultern gelegt und zieht sie an sich, als müsse er sie beschützen. Sie selbst lacht glücklich und in ihren Augen funkelt Freude. Das muss ihr Mann sein.
    Frau Weiß bemerkt meinen Blick. „Mein Erwin“, verrät sie und presst gleich darauf die Lippen zusammen.
    Ich weiß nichts zu sagen und ich will auch nicht reden.
    Daneben steht ein zweites Bild mit einem schwarzen Streifen über der Ecke. Diesmal ein Junge. Siebzehn vielleicht, in Uniform.
    „Das ist Herbert“, meint sie leise, „mein großer Bruder. Er ist im Krieg gefallen, zwei Monate, nachdem er eingezogen wurde.“
    Herbert ...
    Hören die Gemeinsamkeiten denn gar nicht auf? Ihr Bruder heißt Herbert. Wie meiner. Und er ist jung gestorben. Wie meiner.

    Betroffen stammle ich ein paar Worte, die mein Mitgefühl und mein Bedauern ausdrücken, während ich an das Bild in meinem Zimmer denken muss, das uns fünf Geschwister zeigt, wie wir auf der Bank unter dem Kirschbaum zu Hause sitzen. Das ohne Herbert.

    Im Mai dreiundsechzig kam eine Nachricht, die uns schlimm traf. Ellerbach war ein kleines Dorf und als im Morgengrauen vor unserem Haus eine unbekannte schwarze Limousine und ein Kleinbus der Polizei vorfuhren, sprach sich das sogar zu dieser frühen Tageszeit in Windeseile herum. Die Männer, die mit ihr gekommen waren, marschierten schnurstracks in unser Haus, es wurde fast gestürmt. Alle Hausbewohner mussten in die große Stube kommen, zwei der sechs Polizisten durchsuchten den oberen Stock, zwei das Erdgeschoss und zwei blieben neben der Haustür stehen, einer drinnen, einer draußen.
    Einer der Polizisten hatte meine Eltern heruntergebracht. Mutter trug ihren Morgenrock, Vater nur den Schlafanzug. Er hatte den Arm um die Schulter seiner Frau gelegt und sah den Männern in den Trenchcoats furchtlos entgegen. Siegfried stand hinter mir, ich spürte seine Brust an meinem Rücken. Beate umklammerte meinen Arm. Sie zitterte genauso wie Mutter. Der vierjährige Joachim hing schlaftrunken an Siegfrieds Hosenbein.
    Ich weiß noch jeden Augenblick dieses furchtbaren Morgens. Man teilte uns mit, dass Herbert bei der Durchführung einer Straftat ums Leben gekommen war. Mein Bruder diente bei den Grenztruppen der Armee. Und wir wussten sofort, was diese angebliche Straftat gewesen war: Herbert war bei einem Fluchtversuch an der Grenze erschossen worden.
    Der Schock war unvorstellbar und wir standen da wie gelähmt. Den ganzen Vormittag über wurden wir befragt. Getrennt voneinander. Siegfried und Vater brachte man im Polizei-Kleinbus weg, die beiden Männer, die mit Sicherheit dem Ministerium für Staatssicherheit angehörten, verhörten uns Frauen. Immer wieder bohrten sie mit denselben Fragen. Dass wir selbst auch welche stellten, ignorierten sie stoisch. Im Gegenteil, uns wurde unumwunden erklärt, dass man uns für Mitwisser und damit für Mitschuldige hielt, obwohl Herbert in den letzten Monaten gar nicht mehr hier gewohnt hatte und an Weihnachten zum letzten Male hier gewesen war. Ich hielt während der ganzen Zeit Mutters Hand und lächelte Beate mutmachend zu, die reglos auf dem Sofa saß und die Männer anstarrte.
    Erst als die Haustür hinter den Stasi-Beamten zugefallen war, brach Mutter in Tränen aus. Herbert war ihr ganzer Stolz gewesen. Um als Soldat bei den Grenztruppen zu dienen, musste man einen tadellosen Lebenswandel vorweisen können. Und nun das.
    Republikflucht ...
    Wie er gestorben war, hatte uns niemand verraten. Den Totenschein zeigte man Mutter nicht. Und der Gerichtsmediziner, der neben ihr stand, als sie Herbert identifizieren musste, schaute sie nur mitfühlend an und schwieg. Im Krematorium war der Sarg verschraubt und durfte nicht noch einmal geöffnet werden. So konnten wir Geschwister unseren Bruder nicht noch einmal sehen. Nur der engste Familienkreis war bei der Urnenbeisetzung erlaubt, dafür sorgten eine strenge Einlasskontrolle der Stasi-Beamten und eine Überwachung der Feier. Verwandten aus der BRD wurde die Einreise verweigert und deshalb war es Erna, Ursel und Martin nicht möglich, dabei zu sein.
    Erst nach dem Mauerfall haben mein Sohn Joachim und mein Bruder Martin nach Informationen über Herberts Tod gesucht. Die Freigabe der Stasi-Akten und damit auch die Offenlegung der Vorfälle an der Mauer und am Grenzstreifen brachten endlich Licht ins Dunkel dieses Ereignisses. Wie wir vermutet hatten, wollte Herbert über die Grenzanlagen im Harz in die Bundesrepublik fliehen und wurde, weil er nach Warnruf und Warnschuss nicht stehen blieb, erschossen. Eine Kugel im Brustkorb, eine im Kopf. Jetzt erst erfuhren wir, dass ein zweiter Soldat bei ihm gewesen war, der es ebenfalls nicht geschafft hatte. Der Name sagte uns nichts und wir beschlossen einmütig, keinen Kontakt zu dieser Familie aufzunehmen. Mutter hätte es vielleicht gewollt, doch sie erlebte das Ganze ja nicht mehr. Mochten der junge Soldat und mein Bruder in Frieden ruhen. Ich weiß nicht, wie es dem Rest der Familie ging, aber zumindest ich verspürte keinen Hass auf seine Kameraden, die ihn getötet hatten und danach eine Auszeichnung in Form einer „Medaille für vorbildlichen Grenzdienst“ erhielten.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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