Es gibt 49 Antworten in diesem Thema, welches 4.469 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (7. Januar 2024 um 22:25) ist von Etiam.

  • Wer meine Lektuereliste so verfolgt ahnt wahrscheinlich woher das Thema kommt :) Anyway, es hat mich mal gereizt das Thema zu bearbeiten und zu versuchen was plausibles draus zu machen, hier also der Anfang:

    ***

    "Wenn du ein Buch schreiben müsstest, das einen beim Lesen verrückt macht - wie würdest du das anstellen?"

    Jennifer Tye schüttelte ärgerlich den Kopf als die Stimme von Geoffrey Norton ihren Gedankengang unterbrach, starrte noch einen Moment lang auf den Bildschirm wo die Zeilen die sie gelesen hatte zu einem sinnlosen Gewirr verschwammen und seufzte dann. Aus den Antworten auf einen Fragebogen Persönlichkeitsprofile von Probanden der Studie zu erstellen war nicht ihre liebste Tätigkeit, aber es gehörte zu einer Promotion in Psychologie eben dazu. Sie griff nach ihrem Kaffee, verzog erneut das Gesicht als sie merkte daß er schon kalt war und blickte dann zu Geoff der ihr im Büro gegenüber saß.

    "Wie kommst du denn auf sowas?", fragte sie, halb genervt und halb neugierig.

    Geoff zuckte mit den Schultern.

    "Kommt zum Beispiel bei Chambers vor - The King in Yellow ist so ein Text. Oder bei Lovecraft... Ich frag' mich halt wie man es machen müßte. Oder ob es überhaupt geht."

    Jennifer schüttelte den Kopf. Das war typisch für ihren Mitdoktoranden - immer mal wieder eine schräge Idee und Lust auf eine Diskussion dazu. Aber warum nicht - das Assessment der 'Big Five' nach Gebauer hatte es nicht eilig... Sie schloß die Augen und versuchte sich an die Vorlesungen zu Psychopathologie zu erinnern.

    "Also, verrückt ist kein besonders wissenschaftlicher Begriff...", begann sie langsam. "Wenn es um Wahnideen gehen soll, dann ist das eine Störung des Salienznetzwerks - die fixe Idee setzt sich im Kopf fest weil die Bewertungssysteme im Kortex nicht korrekt die Wahrnehmung mit der bekannten Information was real ist zusammenbringen. Das kann durch Demenz passieren, oder durch eine Verletzung, oder durch eine psychoaktive Substanz - aber es ist in aller Regel eine physische Veränderung des Gehirns involviert. Und ich sehe nicht wie ein Text den man liest - egal wie eindringlich oder unheimlich - sowas bewirken sollte."

    Geoff nickte und strich sich eine wirre Strähne seines roten Haars aus der Stirn.

    "So weit war ich auch - durch Lesen kann man vielleicht auf eine komische Idee kommen, aber sie wird nicht im klinischen Sinn zu einer Wahnidee, weil sie eben mit dem Rest der Realität abgeglichen wird", stellte er fest. "Man müßte diesen Mechanismus irgendwie aussschalten..."

    "Und was eine Halluzination angeht, das ist vermutlich eine Überfunktion in den sensorischen Systemen...", fuhr Jennifer fort ihre Kenntnisse der Vorlesung zu reproduzieren. "Auch entweder eine Veränderung des Gehirns, oder eine Aktivitätsveränderung die durch eine Substanz hervorgerufen wird. Sorry - kann ich auch nicht sehen wie ein Text das anrichten sollte. Oder wie du die Bewertungssysteme einfach ausschalten willst. Man baut als normaler Mensch nicht einfach irgend eine Idee in seine Welt ein wenn sie nicht ausreichend real ist."

    Vom dritten Arbeitsplatz im Büro kam ein amüsiertes Lachen.

    "Ein Text der die Realität wie sie ist beschreibt würde schon reichen", kommentierte Joshuah White, der älteste der drei Doktoranden spöttisch. "Falls man den Leser dazu bekommt ihn wirklich zu glauben."

    "Und was genau soll das heißen?", fragte Jennifer genervt.

    Josh brachte sie verläßlich auf die Palme, und allein das reichte daß sie sich über sich selbst ärgerte. Es war nicht nur die Art wie er mit seinen Kollegen redete - im Tonfall absoluter Selbstgewißheit und Überlegenheit. Es war auch die Art wie seine blasse Augen einen ansahen, und wie er seinen hellen Teint noch unterstreichen mußte indem er sich dunkel kleidete. Die Art wie er sich fast unsichtbar machen konnte um dann plötzlich in eine Konversation zu kommen wenn jeder schon vergessen hatte daß er im Raum war. Normalerweise konnte sie den Witz, daß Leute Psychologie studierten weil sie psychologische Hilfe brauchten nicht ausstehen - aber auf Josh traf er zu. Er war mehr als nur komisch...

    "Was du 'Selbst' nennst ist in Wirklichkeit eine Illusion - ganz unterschiedliche mentale Subsysteme erscheinen dir als ein Ganzes", dozierte Josh "Wenn Menschen alleine das begreifen würden - daß sie nur eine Kakophonie von mentalen Netzwerken sind - wenn sie hinter diese Illusion schauen würden - das würde für 'verrückt' reichen. Sie würden zumindest Stimmen hören, jemand anderem in ihrem Kopf spüren, Befehle wahrnehmen die jemand ihnen gibt..."

    "Na und?", warf Geoff ein. "Gleiches Problem wie vorher - wir alle haben das in der Vorlesung gehört. Hat nichts bewirkt, wir sind noch so normal wie vorher. Es passt nicht zur alltäglichen Erfahrung, und deswegen wird es vom Bewertungssystem aussortiert und bleibt abstrakte Erkenntnis."

    "Käme auf den Text an, oder?", fragte Josh provozierend. "Wenn er so geschrieben wäre daß er dir erst lächerlich vorkommt, dann aber ein Hauch von Zweifel kommt daß es tatsächlich so sein könnte, dann eine innere Stimme mehr und mehr an dir nagt so daß du ins Grübeln kommst und dann plötzlich die Möglichkeit vor dir siehst daß das alles wirklich so sein könnte... Es ist ja keine kontrafaktische Suggestion die hier vermittelt werden soll - die Dinge liegen wirklich so. Man baut vielleicht keine Idee in seine Welt ein die nicht ausreichend real ist - aber was wenn diese Idee tatsächlich real ist?"


    Josh's farblose Augen durchbohrten sie, und sie schüttelte den leichten Schauder ab, den seine Worte hervorgerufen hatten.

    "Mag sein daß das Selbst eine Illusion dieser Art ist", sagte sie mit einem Hauch von Unsicherheit in der Stimme. "Aber die ist sehr stabil - Experimente haben gezeigt daß selbst eine Holzhand die gestreichelt wird in die bewusste taktile Wahrnehmung eingebaut wird wenn die visuelle Illusion geschaffen wird daß diese Hand am Körper ist. Die Art wie das Bewußtsein zu einem Ganzen zusammengebunden ist, kann man nicht so ohne Weiteres auftrennen."

    Es war kein besonders starkes Argument, und sie wußte es selbst.

    "Denkst du?", fragte Josh ein wenig spöttisch.

    Für einen Moment herrschte unbehagliches Schweigen im Büro, und Geoff und Jennifer sahen sich unsicher an. Was Geoff als Spielerei in den Raum geworfen hatte, schien bei Josh irgendwie etwas ganz anderes geworden zu sein. War es ernsthaft möglich so einen Text zu verfassen?

    "Du verarscht uns doch!", schnaubte Geoff schließlich.

    Jennifer lachte auf, und auch um Josh's Lippen huschte der Geist eines Lächelns.

    "Randall Carter, Doktorarbeit in experimenteller Psychologie von 1973", warf Josh in den Raum. "Wenn ihr wirklich eine Antwort auf die Frage wollt..."

  • "Miss Tye, kann ich sie einen Moment sprechen?"

    Jennifer blickte auf den Bibliothekar, einen älteren unscheinbaren Herrn, der aus seinem Büro gekommen war grade als sie die Fachbibliothek Psychologie hatte verlassen wollen.

    Herbstliche Nachmittagssonne fiel durch die helle Glasfront auf hohe Bücherregale, draußen konnte sie goldenes Herbstlaub sehen, drin drängten Trauben von Studenten herein die Material für ihre Semesterarbeiten brauchten, und sie hatte sich wirklich auf einen Spaziergang gefreut um ihre Gedanken zu ordnen - die Psychologie von Temple Hill University NC lag fast am Rand des Kampus, wo die Gärten und Rasenflächen in das bewaldete Hügelland der Ausläufer der Great Smokey Mountains übergingen, und frische Waldluft war genau was sie jetzt brauchte.

    "Was gibt's?", fragte sie seufzend.

    "Wenn sie mich kurz in mein Büro begleiten könnten?"

    Schulterzuckend folgte sie ihm in den kleinen, fensterlosen Nebenraum. Als Bibliothekar hatte man anscheinend nicht den besten Arbeitsplatz... Er schloß die Tür, wies sie mit einer Handbewegung an Platz zu nehmen und setzte sich dann hinter den Schreibtisch.

    "Sie haben eben nach der Arbeit von Randall Carter recherchiert", begann er ohne Umschweife.

    "Ja...", antwortete sie automatich. "Aber ich konnte sie nicht im System finden"

    Dann hielt sie inne als ihr die Bedeutung seiner Worte aufging.

    "Einen Moment - haben sie mir etwa hinterherspioniert?", fragte sie empört. "Lesen sie mit was wir hier in der Bibliothek recherchieren? Da gibt's Datenschutz und sowas!"

    "Wenn sie mein Büro verlassen können sie zu Dean Martinson gehen und sich über mich beschweren", antwortete der Mann als ob es eine bedeutungslose Kleinigkeit wäre. "Aber erst hören sie sich an, was ich zu sagen habe."

    Jennifer funkelte ihn an, entschlossen sich nachher zu beschweren.

    "Wir nehmen die Freiheit der Wissenschaft in Temple Hill sehr ernst", begann er. "Und dazu gehört auch, ihnen den Zugang zu allen möglichen Quellen zu ermöglichen die sie für ihre Arbeit vielleicht brauchen können. Aber - wie bei allen Freiheiten - gibt es Grenzen. Randall Carter ist ein Beispiel dafür."

    "Wieso?", fragte sie patzig.

    "Es kann viele Gründe geben der Wissensfreiheit Grenzen zu setzen, zum Beispiel die Forschung über Thermonuklearwaffen ist von Staats wegen geheim. Aus offenkundigen Gründen. Bei Carter handelt es sich um Forschung die fundamental... unethisch ist."

    Er sah ihren verwirrten Blick und seufzte.

    "Kennen sie die Zwillingsforschung von Dr. Mengele in den deutschen Konzentrationslagern? Experimente an Menschen, oft mit tödlichem Ausgang? Sind sie der Meinung daß unser Erkenntnisgebäude auf solchen Experimenten errichtet werden sollte?"

    Sie schüttelte den Kopf.

    "Und wenn sie von Mengeles Forschung wüßten - und sie nützlich für ihre eigene Forschung fänden - dann wären sie verpflichtet seine Ergebnisse zu zitieren und ihm so akademischen Ruhm zu geben. Schlimmer noch - sie wären vielleicht in Versuchung ähnliche Forschung zu machen, vielleicht grade am Rande dessen was eine Ethikkommission erlauben würde - um dann möglicherweise in der Studie davon abzuweichen. Erkenntnis kann verlockend sein..."

    Wieder seufzte er.

    "Manchmal ist es besser, Miss Tye, unethisch gewonnene Ergebnisse gar nicht erst zu kennen. Von ihnen - den Forschern - können wir nicht erwarten daß sie diese Entscheidung treffen. Sie sind trainiert nach Erkenntnis zu streben, jede Quelle zu nutzen die sie der Wahrheit über die Welt näher bringt. Daher treffen wir die Entscheidung für sie. Sie werden an dieser Universität keine Ausgabe von Carter finden, und sie werden sie auch nicht über Fernleihe bekommen, und ich muß sie bitten von Versuchen abzusehen, andere Fachbibliotheken selbst zu kontaktieren. Es würde ihnen eh nicht viel helfen."

    Es waren die Ruhe mit der er sprach und der stille Ernst in seinem Blick die sie am Ende überzeugten. Es war ihm ernst - verdammt ernst. Und das bedeutete...

    "Carter... war es... sehr schlimm?", sagte sie mit trockenem Mund.

    Er nickte knapp.

    "Ist es... hier in Temple Hill passiert?"

    "Nein, zum Glück nicht. Es war an einem College in Neuengland, aber den Namen werde ich ihnen aus offensichtlichen Gründen nicht sagen. Ich würde hoffen daß unser akademisches Personal mehr Verstand hat als solche Studien nahezu unbeaufsichtigt so lange laufen zu lassen wie es damals passiert ist... "

    Er schüttelte den Kopf und schwieg dann, wie in Erinnerungen. Unschlüssig blickte sie ihn an, aber er trommelte nur mit einem Finger auf den Tisch und schien ihre Gegenwart vergessen zu haben.

    "Vergessen sie Carter", sagte er schließlich als er aus seinen Erinnerungen auftauchte und wieder zu ihr aufblickte. "Es ist besser für sie - und ihre Forschung."

    • Offizieller Beitrag

    Bisher finde ich es sehr interessant. Als Lovecraft Fan versteht man natürlich die Anspielungen hier und da. Sowas gehört ja irgendwie zur Szene und ist hier auch gut umgesetzt, finde ich ^^

    Ich glaube ich will aber noch ein bisschen warten/mehr lesen, bevor ich mehr dazu sage. Bis jetzt könnte ich nur Kleinigkeiten ansprechen, die vermutlich eh mehr Geschmackssache sind, als was anderes.

    Ich werde also mal verfolgen, wie das hier weitergeht ^^

  • Hey Thorsten

    Mir gefällt die Idee hinter der Geschichte sehr gut und ich finde sie bis hierher auch schön umgesetzt. Das Thema ist in jedem Fall spannend. (Ich bin ein großer Fan von so Psychologie-Kram. :D )Bin schon gespannt, wie du das weiter fortführen wirst.

  • Die Webseite baute sich im Schneckentempo vor Jennifers Augen auf. Es war wie eine Zeitreise zurück in die Frühzeit des Internet - der Tor-Browser zeigte einfache Textseiten ohne Bilder, Javascript oder irgend ein Element das einen Hauch moderner aussah, und das alles im Tempo eines Uraltmodems.

    Das Darknet...

    Das war das eine Wort das Josuah White gemurmelt hatte als sie ihn damit konfrontiert hatte daß er kaum Carters Arbeit in der Bibliothek gelesen haben konnte.

    Es war lächerlich sich jetzt hier im dunklen Zimmer die Nacht um die Ohren zu schlagen um das Darknet nach einer Forschungsarbeit zu untersuchen die die Bibliothek aus dem Verkehr gezogen hatte. Es fing schon mal damit an daß es keine verdammte Suchmaschine gab, sondern man sich von Seite zu Forum durcharbeiten mußte. Und was man dort finden konnte... sie war lange genug in der Psychologie um zu wissen daß Menschen sich sehr hemmungslos verhalten konnten wenn sie sich sicher waren, anonym und unbeaufsichtigt zu sein. Haßtiraden, Mordaufrufe und Verschwörungstheorien hatte sie daher erwartet. Links zu pornographischem Material kannte sie aus den Nachrichten. Die ernsthaft klingenden und ganz offenen Angebote, für ein paar hundert Dollar einen Mord zu bestellen eher weniger. Wie seriös konnte sowas sein? Das Darknet und wie sich seine Nutzer verhielten wäre eine eigene Doktorarbeit wert...

    Als ob sie nichts besseres zu tun hätte. Aber die Idee hatte sie nicht losgelassen, irgendwas in ihr rebellierte dagegen daß sich jemand anmaßen wollte sie von Wissen fernzuhalten. Eine Nacht hatte sie sich schlaflos hin- und her gewälzt, und dann, am nächsten Tag, hatte sie sich schlau gemacht wie man ins Darknet kam. Und seither gesucht...

    Noch ein Link - Verbotene Bücher. Die meisten Leute verstanden darunter leider eher Anleitungen zum Bombenbau als Forschungsarbeiten in der Psychologie.

    Langsam baute sich eine Liste vor ihren Augen auf. Hitler - Mein Kampf - anscheinend war das in manchen Ländern verboten. Die Protokolle der Weisen von Zion - ein Klassiker der Verschwörungstheorie. Warum nicht mal die Satanischen Verse von Rushdie? War auch in manchen Gegenden verboten. Sie scrollte weiter nach unten ohne große Hoffnungen zu haben. Immerhin war sie schon die dritte Nacht hier unterwegs.

    Und da war es - ein PDF. Deutung der 'barbarischen Namen' in mittelalterlichen magischen Invokationen als Mittel induzierte psychotische Zustände hervorzurufen von Randall Carter.

    Induzierte psychotische Zustände?

    Das Dokument begann zu laden.

    Induzierte psychotische Zustände?

    Unwillkürlich dachte sie an die Forschung die als 'Monster-Studie' jedem Studenten im Feld als warnendes Beispiel auf den Weg gegeben wurde - Iowa University, 1939, von Wendell Johnson und Mary Tudor. Der Effekt von Sprachtherapie auf Stottern - positiver und negativer Sprachtherapie. Die Studie hatte bewiesen daß man Stottern durch psychische Einwirkung verursachen konnte, und einige ihrer Probanden - Waisenkinder - mit lebenslanger Sprachbehinderung hinterlassen.

    Wenn man nun durch psychologisch geschickt aufgebauten Druck Sprachbehinderungen verursachen konnte - konnte man dann auch Psychosen hervorrufen? Und was hatte das ganze verdammt noch mal mit magischen Invokationen zu tun? Mary Tudor hatte mit den Probanden interagiert, sie lächerlich gemacht, unter Druck gesetzt - das war nicht das gleiche wie ein Text den man einfach nur lesen mußte. Oder?

    Verdammt, was genau hatte Randall Carter erforscht?

    Der Tor-Browser zeigte daß der Ladevorgang abgeschlossen war. Einen Moment lang blickte sie auf das Icon der Datei und zögerte. Die verdammte Fachbibliothek wurde überwacht damit Leute wie sie diesen Text nicht lesen konnten. Wieso?

    Sie öffnete das Dokument und begann den Abstract zu lesen.

  • Mir gefällt die Idee hinter der Geschichte sehr gut und ich finde sie bis hierher auch schön umgesetzt. Das Thema ist in jedem Fall spannend. (Ich bin ein großer Fan von so Psychologie-Kram. :D )Bin schon gespannt, wie du das weiter fortführen wirst.

    Exakt mein Gedanke. Ich bleibe da auch gerne dran.

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince

  • "Hast du einen Knall oder was?"

    Geoff hatte seine Pasta für den Moment vergessen und starrte Jennifer entgeistert an.

    "Wir sind mit den Persönlichkeitsprofilen dem Zeitplan hinterher, und du verbringst deine Nächte im Darknet damit einer Arbeit die schlimmer als die Monster-Studie ist hinterherzustöbern? Alles weil Josh dir einen Floh ins Ohr gesetzt hat?"

    "Carter schreibt, daß es echt möglich ist eine Psychose zu verursachen - durch das Vorlesen von bestimmten dafür geeigneten Texten wenn der Proband in einer leichten Trance ist.", verteidigte sie sich. "Das ist schon sowas wie eine Antwort auf deine Frage."

    "Ja, wenn's kein Hoax ist", schnaubte Geoff. "Überleg' mal - das war angeblich '73 - meinst du ernsthaft daß irgend eine Studie die bei mehreren Probanden schwere psychische Probleme verursacht stillschweigend unter den Teppich gekehrt wird? Oder auch nur abgeschlossen werden kann? In den Vereinigten Staaten?"

    Jennifer stocherte unglücklich in ihrem Salat herum. Der Gedanke war ihr auch schon gekommen, mehrmals, aber immer wieder hatte eine nagende Stimme in ihrem Inneren gefragt - was wenn doch? Sie hatte versucht Bestätigung für das, was die Arbeit behauptete zu finden, aber natürlich waren die Probanden anonymisiert so daß sie keine Namen in Zeitungen finden konnte, die medizinischen Informationen unterlagen der ärztlichen Schweigepflicht, eine Publikation in einer Fachzeitschrift hatte es - wie bei der Monster-Studie auch - nie gegeben. Der betreuende Professor existierte, aber war schon seit Jahren emeritiert und wenn er nicht gestorben war, mußte er inzwischen über hundert Jahre alt sein.

    Alles in allem war die Beweislage unangenehm dünn. Aber trotzdem, das Dokument las sich nicht wie irgend ein Unsinn, sondern wie eine wirkliche Studie. Eine Studie die einem Dr. Mengele Ehre gemacht hätte, aber dennoch...

    "Und was sollen überhaupt 'barbarische Namen' sein?", fuhr Geoff fort.

    "Das hab' ich nachgeschaut", erklärte Jennifer. "Seit dem Altertum finden sich in magischen Formeln und Beschwörungen immer wieder seltsame Namen un Wörter deren Übersetzung unklar ist - und von denen gesagt wird daß ihre Wirkung nicht durch irgend eine Bedeutung entsteht, sondern allein durch den Klang des Wortes. In der Literatur werden die 'barbarische Namen' genannt. 'Abracadabra' ist das bekannteste Beispiel dafür."

    "Und Hokuspokus...", kommentierte Geoff trocken.

    "Nein - das hat sich aus der Lateinischen Messe entwickelt, hoc est corpus meum - das ist mein Leib."

    "Und damit hast du die letzten Tage verbracht? Du hast echt einen Knall..."

    Jennifer schwieg, unsicher was sie darauf sagen sollte. Geoff hatte recht, seit der Zeitplan für die Studie nach vorne gerückt war, waren die vorbereitenden Interviews mit den Probanden deutlich zeitkritischer.

    Sie mischte die Reste ihres Salats mit dem Dressing und blickte dann duch das Fenster der Cafeteria. Das Gebäude lag am Hang, und so breitete sich der ganze Kampus vor ihr aus, überragt vom Turm der Trinity Church und dem Baseballstadion. Dahinter begann die Stadt - die Town Hall Kuppel und der Turm von St. Mary aus dem leuchtend gelben und roten Blätterwald der vom University Drive zerschnitten wurde. Dunkle Wolken hingen tief über den Häusern, aber von irgendwoher drang ein Sonnenstrahl unter die Wolkendecke und ließ die Farben aufleuchten.

    "Und was genau sind diese gefährlichen Wörter oder Phrasen?", unterbrach Geoff ihre Betrachtungen. "Wie soll ich mir irgendwas vorstellen das man jemandem vorliest, und er entwickelt eine Psychose? Einfach 'Abracadabra' sagen reicht ja offensichtlich nicht."

    "Ich... hab' sie nicht gelesen", gab Jennifer leise zu. "Die Phrasen die Carter verwendet hat sind im Anhang der Arbeit und... ich ..."

    Geoff wartete einen Moment ob sie fortfahren würde, dann lachte er ungläubig.

    "Du denkst echt es wäre gefährlich die zu lesen? Daß die ganze Geschichte real ist? Wörter die man nur hören muß um wahnsinnig zu werden, und eine Studie die das 1973 bewiesen hat, aber von irgendjemandem vertuscht wurde so daß wir alle nichts davon wissen?"

    Sie zuckte unglücklich mit den Schultern.

    "Wenn du's so sagst klingt's lächerlich... Aber wenn du die Arbeit lesen würdest, dann käme es dir vielleicht anders vor. Carter sagt, daß es Laute gibt die universell sind und nicht von der Kultur geprägt. Alle Menschen aus allen Kulturen sagen 'ih' wenn sie etwas ekliges sehen. Kleine Lichtblitze gehen immer mit kurzem 'i' wenn sie in Worten beschrieben werden - Sterne glitzern und blinken, da kann kein 'u' in Wörtern vorkommen die sowas beschreiben. Die Idee daß man systematisch solche Laute kombinieren kann um ein Wort zu erzeugen das bei allen Menschen die es hören irgend eine Reaktion bewirkt ist nicht so absurd."

    Geoff nickte, während er gleichzeitig das Gesicht verzog.

    "Ja, aber von 'eine Reaktion' ist noch ein ganzer Weg zu 'eine Psychose'. Ein ziemlicher Weg. Vielleicht haben Menschen alle eine emotionale Reaktion wenn sie ein bestimmtes Wort hören, eine bestimmte Assoziation - aber da waren wir schon, das geht in einem spezifischen kulturellen Kontext auch einfach durch Lesen. Und Lesen ist harmlos, das wissen wir."

    "Naja, dann ist da die Sache mit den Ohrwürmern - bestimmte Dinge die du mal gehört hast, meistens Lieder, spuken einem im Kopf rum, immer und immer wieder. Oder das Gefühl eine komische Phrase in einem Buch zu lesen, und man wünscht sich sie auszusprechen - einfach um sie mal mit den Ohren zu hören. Texte können solche Sachen machen, das ist gut dokumentiert."

    "Zugegeben", nickte er wieder. "Aber auch das..."

    Jennifer seufzte.

    "Es hängt irgendwie dran ob es wirklich diese Studie gab oder nicht. Und wenn es sie gab - und ich hab' keine Ahnung wieso der Bibliothekar darüber lügen sollte - dann gab es wirklich Probanden die durch die Methode Wahnvorstellungen entwickelt haben - dann ist es nicht ungefährlich diese... barbarischen Namen, Phrasen, Formeln, was auch immer... zu hören. Aber du weißt so gut wie ich daß Lesen und Hören ähnliche Areale im Gehirn aktiviert. Wir lesen indem wir uns im Geist zuhören, und wir lernen lesen indem wir laut vorlesen. Mit Sicherheit ist es nicht das Gleiche, in einer Trance zu sein und einen Text zu hören oder wach zu sein und ihn zu lesen... Aber... verdammt, wenn du nachts im dunklen Zimmer sitzt und eine Arbeit liest die angeblich ihre Probanden fürs Leben gezeichnet hat, dann kommt dir halt der eine oder andere Gedanke."

    Geoff strich sich seine Haare aus dem Gesicht und kratzte sich nachdenklich am Hals.

    "Das Thema kommt mir jedenfalls vage bekannt vor. Wie der Name Gottes bei den Israeliten im alten Testament, der nie ausgesprochen sein durfte. Wann immer jemand die Texte liest, muß er statt dessen 'Adonai' lesen - der Herr. Und die Konsonanten die da stehen - YHVH - geben wenig von der Aussprache preis. Alles, als ob es eine Gefahr wäre, den Namen offen auszusprechen."

    "Ich dachte er wird 'Jahwe' gesprochen?"

    "Vielleicht... ", meinte Geoff. "Oder das ist der falsche Name. Wir gehen immer davon aus daß die Leute früher uns in den Wissenschaften so hoffnungslos unterlegen sind, aber was Psychologie angeht, gibt's eigentlich keinen Grund dafür. Wie andere ticken konnten sie früher genausogut beobachten wie wir heute, Technik braucht man da nicht so viel, und wenn du mich fragst sind die ganzen Brain-Imaging-Techniken genauso sinnvoll wie ein Horoskop..."

    Er schob seinen Teller zur Seite und leerte sein Glas.

    "Ich sag' dir was - du schlägst dir die Sache mit der Carter-Studie erst mal aus dem Kopf und konzentrierst dich mal auf unsere eigene Studie, und wenn wir mit den Probanden durch sind und der Zeitplan wieder in Reichweite ist, dann schau' ich mal, was ich über Carter rausfinden kann. Ich bin aus Massachusetts, ich hab' Kumpels in Colleges in Neuengland, vielleicht hat da jemand das eine oder andere gehört. Aber jetzt erst mal unsere Studie, okay?"

    Jenny nickte.

    Aber sie war sich alles andere als sicher, ob sie die Sache so einfach ruhen lassen konnte.

  • Ich finde diese Geschichte ungeheuer fesselnd. Zumal ich mir aktuell auch so Gedanken über Gedankenmanipulation oder Gehirnwäsche durch Lesen und solche Dinge mache.

    Dass man den Namen YHVH nicht aussprechen darf hat mich immer etwas amüsiert aber ich habe mir nicht vorstellen können dass das einen anderen Hintergrund haben könnte als den dass das halt ein (für die Gläubigen) heiliger Name ist. Ich fand aber auch immer schon komisch dass man auch kein Bild von Gott schaffen sollte. Zwischen Beidem sehe ich einen Zusammenhang. Dahinter kann schon irgendwas "magisches" stecken.

    Das es real "Magische Worte" geben soll - hätte ich auch für lächerlich gehalten. Allerdings finde ich auch dass bestimmte Klänge auf mich wirken und andere nicht. Wenn sich etwas reimt klingt es ja immer gleich als müsste es eine Wahrheit sein. Ich mochte damals den Namen "Sursulapitschi" für ein Meermädchen in Michael Endes "Jim Knopf" unheimlich gerne weil er so lautmalerisch ist und vom Klang her beschreibt wie sie aussieht. Der hat was in mir ausgelöst.

    Daher könnte ich mir vorstellen dass vielleicht was dran sein könnte an der Geschichte mit der "barbarischen" Arbeit. Ich bin sehr gespannt was da noch alles kommt.

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince

  • Ich finde diese Geschichte ungeheuer fesselnd

    Dankeschoen!

    Daher könnte ich mir vorstellen dass vielleicht was dran sein könnte an der Geschichte mit der "barbarischen" Arbeit.

    Ich sag' mal so viel dazu - wenn Du Faktenchecks googeln wuerdest, wuerdest Du zu sehr vielen der angerissenen Themen was finden, etwa die erwaehnte Monster-Studie ist durchaus real. :)

  • "Hier kommen die Margaritas!"

    David Reid drängte sich durch die Menge in der Bar die auf die Aufmerksamkeit eines Barkeepers offte, bis er den Tisch erreicht hatte an dem Jennifer und seine Freundin Heidi Carr warteten und schob den beiden Frauen die Gläser hin.

    "Cheers!", rief er. "Auf das Anschlußprojekt!"

    Jennifer nickte ihm zu und nippte dann an ihrem Drink. Dave hatte das große Los gezogen - er hatte eine Promotion in Luftfahrttechnik vor Kurzem abgeschlossen und jetzt hatte Lockheed-Martin ihn für ein Projekt verpflichtet. Das bedeutete daß er North Carolina verlassen würde, und vermutlich war Heidi alles andere als glüclich darüber, auch wenn es bisher keiner angesprochen hatte um ihm nicht die Laune zu verderben. Nicht daß Jennifer selbst so glücklich darüber gewesen wäre daß ihre bester Freund aus Temple Hill wegziehen würde. Oder daß er überhaupt mit Heidi zusammen war... Was genau sah er in ihr? Außer daß sie mit ihren verträumten grünen Augen und ihren kurzen hellbraunen Haaren der Hingucker in jeder Bar war...

    "Hey Jen, was ist los? Du wirkst abwesend!"

    Dave griff nach ihrer Hand und sah ihr forschend ins Gesicht.

    "Ist irgendwas passiert? Oder wo bist du grade?"

    Sie seufzte. Daß sie seine Freundin am liebsten aus der Stadt gewünscht hätte konnte sie ihm ja schlecht sagen, aber das andere ging.

    "Ich bin da auf was gestoßen", begann sie langsam. "In der Arbeit. Eine Doktorarbeit... Eine Studie, bei der angeblich den Teilnehmern schwere psychische Schäden zugefügt wurden indem sie in Trace versetzt wurden und sie dann bestimmte... Phrasen ... hören mußten. Und..."

    "Sowas geht?", unterbrach Dave sie, während Heidi sie mit einem merkwürdigen Ausdruck ansah.

    Jennifer zuckte mit den Schultern.

    "Das ist die Crux, irgendwie. Ich hab' keine Ahnung ob die Studie echt ist oder ein ausgefeilter Hoax. Aber wenn sie echt ist..."

    "Kannst du nicht einfach die Uni kontaktieren wo die Studie stattgefunden hat?", schlug Heidi vor.

    "Ich hab' nur ein gescanntes PDF von der Arbeit - und da fehlen die offiziellen Teile wo Uni oder die Prüfungskommission genannt wird. Da wird nur der Name des Betreuers erwähnt - Dr. Peter Blavatsky. Und ich weiß daß die Studie in Neuengland stattgefunden haben soll - in 1973."

    Dave nahm einen Schluck von seinem Drink und schnaubte.

    "Klingt einfach genug - der Name kann nicht so häufig sein. Wie viele Blavatsky kann es in deinem Feld geben? Und wie viele davon haben möglicherweise in der fraglichen Zeit in Neuengland eine Arbeit betreut?"

    Jennifer verzog das Gesicht.

    "Stell' dir vor, wir Psychologen leben nicht ganz hinter dem Mond. So weit war ich schon. Es gibt einen Peter Blavatsky im Feld, und der war bis zu seinem Tod 2004 in Yale. Nach seinem CV war er von 71 bis 73 an einem College in Kalifornien - nur daß man auf der Website von denen keine Info drüber finden kann. Und danach - jetzt haltet euch bitte fest - war er für gut zehn Jahre in Prag an der Universität."

    Dave starrte sie an, aber in seinem Gesicht zeigte sich kein Verständnis.

    "Na und? Offenbar hat er osteuropäische Wurzeln, jedenfalls klingt sein Name so. Wieso sollte er nicht nach Prag gehen?"

    "Das war 73, Dave", bemerkte Heidi. "Warschauer Pakt, eiserner Vorhang und so. Dämmert es? Aus den USA in den Ostblock - sowas ging vielleicht, aber einfach war's sicher nicht. Und für alle praktischen Zwecke war er da so gut wie hinter dem Mond."

    "Du meinst daß er sich da geparkt hat um Gras über irgendwas wachsen zu lassen?", fragte Dave, zu Jennifer gewandt.

    Sie seufzte.

    "Ich hab' keine verdammte Ahnung was ich meinen soll. Vielleicht hat es einen ganz unschuldigen Grund und ich stricke mir hier was zusammen. Es beweist nichts, außer daß jeder Versuch einer genaueren Nachforschung schwer wird."

    Dave nickte gedankenverloren und Heidi spielte mit ihrem Margarita. Jennifer betrachtete die Gäste der Bar ohne viel wahrzunehmen, in Gedanken war sie bei den Anhängen des Dokuments die sie immer noch nicht gelesen hatte.

    "Und diese Phrasen wie du sie nennst - was sind die? Wer hat sich die ausgedacht.", fragte Dave schließlich.

    "Aus mittelalterlichen Schriften... Zauberformeln", antwortete Jennifer zögernd. "Und ja, ich weiß wie bescheuert das klingt."

    "Heidi war mal in einem Hexenzirkel", warf Dave überraschend in die Runde und wandte sich dann an seine Freundin. "Weißt du was über solche Formeln?"

    Dem Blick nach den sie ihm zuwarf, war Heidi Carr alles andere als begeistert darüber daß ihr Freund solche Details aus ihrem Privatleben in der Öffentlichkeit breit trat. Aber sie hatte die Selbstbeherrschung, keine Szene zu machen, auch wenn sich ihr Mund zu einem schmalen Strich zusammenzog.

    "Die Hohepriesterin des Covens sagt, daß Magie mit archetypischen Strukturen im Geist arbeitet - die Große Mutter oder der Krieger", begann sie unsicher als niemand anders Anstalten machte zu reden.

    Jennifer nickte zu sich selbst. 'sagt', nicht 'sagte' - Dave mochte glauben daß seine Freundin nicht mehr in diesem Zirkel war, aber in Wahrheit war das wohl keineswegs Vergangenheit.

    "Carl Gustav Jungs Archetypenlehre ist das in der Psychologie, ja", sagte sie laut.

    Heidi warf ihr einen genervten Blick zu, fuhr dann aber fort.

    "Es gibt manche Formeln die Wörter sind, die keiner versteht... die aber mit ihrem Klang eine bestimmte Stimmung erzeugen", sagte sie leise. "Aber ich habe nie von einer Formel gehört die denen, die sie nur hören, Schaden zufügen soll."

    Es war gradezu offensichtlich daß Heidi die ganze Sache mehr als peinlich war, aber genauso offensichtlich hielt das Dave nicht ab, das Thema weiter zu beackern. Jennifer wußte nicht genau ob sie sich für ihn schämen sollte oder ob sie froh sein sollte daß die Beziehung zwischen Reid und Carr wohl bald ein Ende haben würde.

    "Aber die Formeln die du kennst, Heidi - funktionieren die? Also - bewirken die echt was?", fragte er.

    Wirklich.

    Seine Freundin machte den Anschein, am liebsten den Tisch verlassen zu wollen. Ihr Blick irrte zwischen ihm und Jennifer hin und her, und sie drehte ihren Margarita in der Hand als würde sie hier eine Lösung für ihr Dilemma finden, aber dann atmete sie tief ein und aus und begann zu erklären, ruhig, fast unhörbar beim Lärm der Bar, fast mehr zu sich selbst als zu den anderen.

    "Wenn man bestimmte Dinge tut, dann bekommt man oft bestimmte Ergebnisse...", sagte sie langsam und mit stiller Würde. "Aber nicht mit Lichtern vom Himmel, Fanfaren oder Feenglitzer. Es kann immer eine andere Erklärung haben. Leute wie Jennifer reden dann von Placebo-Effekt, erwartungsgetriebenem Erlebnisbias, Massenhysterie, irregeleiterter Mustererkennung in Zufallsereignissen und so weiter. Aber eigentlich sind das Beruhigungspillen - wenn es der Placebo-Effekt ist, dann ist ja alles okay mit der Wissenschaft. Ganz egal ob der genauso gut wirkt wie eine Pille auch selbst wenn nur der Arzt überzeugt ist daß alles seine Ordnung hat mit dem Zuckerdragee. Ganz egal ob der Patient am Ende wirklich gesund wird obwohl es keiner erklären kann - wenn es der Placebo-Effekt ist, dann ist es jedenfalls keine Magie... Man kann immer eine Erklärung in vielen komplizierten Worten finden. Oder einfach sagen - es war Magie."

    Sie wich den Blicken der beiden am Tisch aus, und nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Glas.

    "Und jetzt entschuldigt mich - ich muß mal", fügte Heidi hinzu und stand auf.

  • Jennifer saß in ihrer dunklen Wohnung und starrte auf den Bildschirm ohne viel zu wahrzunehmen, kaute dabei nervös an einer Haarsträhne herum. Ein Shot Tequila stand neben ihr auf dem Schreibtisch ohne daß sie das Glas bisher angerührt hatte.

    Das Dokument war offen, alles was sie tun mußte war, auf den Seitenindex links zu klicken, und sie würde genau lesen können welche Formeln Randall Carter in seiner Studie verwendet hatte. Dieser Klick war alles was nötig war, aber ihre Hand zögerte während ihr Herz zu klopfen begann und ihr Mund trocken wurde.

    Scheiße...

    Es war nichts als das Prinzip hinter der Verhaltenstherapie, sie wußte das. Zwei Wochen lang hatte sie diesen Teil der Arbeit behandelt als ob er gefährlich wäre, sorgfältig vermieden auch nur einen flüchtigen Blick hinein zu werfen, die Datei nur aufgemacht wenn sie unbedingt etwas nachlesen mußte - selbstverständlich reagierte sie jetzt mit jeder Faser ihres Daseins so als ob gleich etwas Schlimmes passieren konnte auch wenn sie sich zu der Einsicht durchgerungen hatte daß es keine Gefahr gab. Keine Gefahr geben konnte.

    Es war ganz einfach - wenn das Durchlesen der Formeln so schlimm wäre, wie hätte Carter die Arbeit dann jemals schreiben können?

    Priming - das war der Fachbegriff für das was sie erlebte. Ihre Wahrnehmung war verzerrt durch den Kontext - das mysteriöse Getue des Bibliothekars, die ganzen Theorien über Dr. Blavatsky und seinen Aufenthalt in Prag - der Heimatstadt des Golems -- und dann auch noch durch Heidi Carrs Ausführungen die offensichtlich fest von dem überzeugt war was bei ihren Hexenzirkeln passierte.

    Sie zwang sich zu einem tiefen Atemzug und nahm dann einen Schluck Tequila. Nur um die Nerven zu beruhigen.

    Es gab natürlich noch diese andere Perspektive...

    Josh White, der die Arbeit kannte, hatte spezifisch gesagt daß sie mit Wahnvorstellungen und Lesen von Text zu tun hatte. Wenn die Sache real war, dann hatten die Formeln im technischen Anhang bereits bei mehreren Menschen Psychosen ausgelöst. Es gab mehr als genug Warnung...

    Randall Carter hatte auch ausführlich die Hintergründe seines Experiments beschrieben. Es begann mit der These einer 'universellen Sprache' die Menschen angeboren ist - mit Verweisen zu Noam Chomskys Theorie der universellen Grammatik, und von da untersuchte die Arbeit die Idee daß in der Entwicklung einer Sprache zuerst Klang kam, dann semantischer Inhalt, und daß Botschaften überraschend häufig eher am Tonfall als am Inhalt des Gesagten erkannt wurden. Die historische Entwicklung der Idee 'heiliger Namen' oder 'Wörtern der Macht' die alleine durch ihren Klang magische Wirkung entfalten konnte kam danach, gefolgt von Untersuchungen in denen Laute oder lautmalerische Wörter eine bestimmte Stimmung in Probanden erzeugen konnten. Und dann die zentrale These daß geeignete Formeln nicht nur bewusste Stimmungen beeinflussen konnten, sondern auch unbewußte Inhalte, gefolgt von der experimentellen Studie, die genau das zeigte. Probanden die während der Tests keine besonderen Stimmungsschwankungen gezeigt hatten, entwickelten auf einmal Wahnideen und Halluzinationen.

    Erschreckend viele der Probanden.

    Und erschreckend schwere Psychosen.

    Und sie kannte den möglichen Mechanismus wie das Ganze selbst beim Lesen wirken konnte, auch wenn davon nichts bei Carter zu finden war - den neuronalen Zusammenhang zwischen Lesen und Hören. Die Art wie sich eine Zeile Text im Kopf festsetzen konnte, wie eine Melodie, nicht mehr abzuschütteln war. Und grade durch das Mysterium das die Sache umgab, hatte sie sich selber in einen Zustand gebracht indem sie offener als sonst für Suggestion aller Art war...

    Abstellen konnte sie das nicht einfach - sie sicherste Methode, einen Probanden daran zu bringen an seine Mutter zu denken war der Satz Denken sie jetzt bitte nicht an ihre Mutter. Der logische Teil des Verstands akzeptierte Negation - alle anderen Teile nicht. Niemand konnte sich einfach dazu bringen, nicht an unheimliche Umstände zu denken.

    Es war bescheuert, sich mit einer Kerze über ein Pulverfaß zu beugen wenn man vorher alle Warnschilder ignoriert hatte und dann auch noch genau wußte wie Schießpulver auf einen Funken reagiert. Sie konnte einfach aufhören und die verdammte Datei löschen. Sie mußte niemandem etwas beweisen.

    Einfach nicht die Formeln lesen die Menschen psychotisch machen konnten.

    Einfach den Rechner zuklappen, den Tequila austrinken und ins Bett gehen. Einfach vernünftig sein. Sie mußte nichts davon lesen.

    Sie klickte auf den Index und blickte schnell am Bildschirm vorbei, versuchte aus ihrer peripheren Sicht zu erkennen was da zu sehen war. Ihr Herz klopfte bis zum Hals.

    Aus dem Augenwinkeln konnte sie die Zeilen erkennen, abgesetzt von Textblöcken. Es war ein halbes Dutzend Phrasen, nicht mehr, fett gedruckt, von unterschiedlicher Länge. Sie scrollte die Seite weg und atmete tief durch.

    Das war jetzt lächerlich.

    Auch wenn ihr Herz hämmerte.

    Sie nahm einen guten Schluck Tequila und scrollte die Seite zurück, zwang sich zu lesen bevor sie noch eine Neurose entwickelte.


    ablanathanalba


    Das klang bestenfalls konfus und verwirrend.


    dies mies jeschet boene doesef douvema enitemaus


    Konnte ein Mischmasch von Wörtern aus verschiedenen Sprachen sein, dies war Tag auf Latein, mies kannte sie aus ihren paar Jahren Deutsch als Wahlfach, der Rest gab keinen Sinn.


    palce duxma ge na dem oh elog


    Am ehesten ein Satz in einer Sprache vielleicht? Zumindest deutliche Variationen in der Wortlänge. Irgendwie vage... Rumänisch?


    iak shakkak


    Passte irgendwie zusammen, konnte auch die gleiche Sprache sein, oder auch nicht...


    diro-adisana adirogaha-adisana


    Passte ebendfalls irgendwie zusammen, und hatte anders als die anderen eine Struktur.


    noga jes astropolim asmo coccav bermona


    Wieder eine Sammlung von einzelnen Wörtern die aus verschiedenen Sprachen sein konnten. Und natürlich mußte sie unwillkürlich an Astropol denken - aus welcher SciFi Serie war das noch?


    Und das war alles. Die ganze Magie.

    Keine dunkle Hand die aus dem Rechner griff. Kein plötzliches Flimmern und Verlöschen des Bildschirms. Keine Stimme in ihrem Kopf die ihr befahl jemanden zu töten. Kein Anflug von Wahnsinn, keine dunklen Schatten am Rand ihres Gesichtsfelds, kein melodramatisches Knarren einer alten Tür, kein plötzliches Schauern, nur ihr klopfender Herzschlag der sich allmählich wieder verlangsamte.

    Wenigstens war sie alleine zu Hause, wenn sie sich schon lächerlich machen mußte, dann nicht vor Publikum.

    Sie las nochmal durch die einzelnen Formeln, versuchte zu sehen was Randall Carter gesehen haben mußte. Es war frustrierend, irgendwie hatte sie erwartet daß sie als geschulte Psychologin etwas in den Phrasen sehen würde, etwas das erklären konnte wieso Probanden Psychosen entwickeln konnte.

    Aber da war nichts.

    Es war dumm gewesen so etwas zu erwarten, im Nachhinein war das klar, Carter hatte mehr als einmal betont daß es im Wesen der 'barbarischen Namen' lag daß sie keine Bedeutung hatten. Aber Menschen waren eben Sinnsuchmaschinen, egal wie aussichtslos das war.

    Die Formeln der Macht die jeden Zuhörer mit Wahnsinn schlagen konnte - sie wirkten wie belangloses Gebrabbel. War es am Ende doch alles ein Hoax? Oder die Banalität des Bösen? Sie mußte nachdenken, hier kam sie erst mal nicht weiter.

    Mit einem Seufzer klappte Jennifer den Laptop zu.

  • "Okay Mr. Kosinsky, hier ist unser Versuchsraum", erklärte Jennifer einmal mehr, während sie dem nächsten Probanden einen Umschlag überreichte.

    "In diesem Umschlag befindet sich ein Text. Ich kenne den Inhalt nicht, und das ist wichtig für die Studie, daher geben sie mir bitte auch später keine Hinweise darauf. Sobald ich die Tür schließe, beschäftigen sie sich bitte für zehn Minuten mit den Thesen die der Text vertritt. Es ist egal ob sie zustimmend oder ablehnend reagieren - wichtig ist daß sie sich ihre eigene Meinung bilden. Nach Ablauf der Zeit werde ich ihnen Bescheid geben, und dann werden sie am Computer Bilder gezeigt bekommen, und ich möchte daß sie spontan jedes auf einer Skala von eins bis zehn bewerten wie stark die emotionale Reaktion ist die das Bild hervorruft."

    "Also, wenn mich das Bild sehr traurig macht ist das genauso zehn wie wenn es mich zum Lachen bringt?", fragte Kosinsky nach.

    "Genau. Wenn sie ein Bild langweilt oder kalt läßt, dann ist das eine Eins, wenn es sie irgendwie anspricht dann eben eine höhere Zahl. Alles klar?"

    Der Proband zuckte mit den Schultern.

    "Scheint einfach genug zu sein..."

    "Während der Versuch läuft werden ihre Reaktionen gefilmt, und ich kann hören was sie im Versuchsraum sagen, also wenn Fragen aufkommen, dann können sie einfach sprechen."

    "In Ordnung", nickte Kosinsky.

    "Und ich muß noch einmal betonen daß es wichtig ist, daß ich keine Kenntnis des Inhalts ihres Umschlags haben darf - auch später nicht", wiederholte Jennifer.

    Der Proband nickte wieder, und sie schloß die Tür des Versuchsraums hinter ihm, um sich dann selbst in den Überwachungsraum zu setzen.

    Kamera funktionierte, Ton auch, sie konnte sehen wie er den Umschlag aufriß und dann das Rascheln des Papiers hören. Der Hinweis daß sie den Inhalt des Umschlags nicht kennen durfte war natürlich Bullshit, sie wußte in Wirklichkeit genau welchen Text er bekommen hatte, aber der Hauptzweck der Studie hing daran, mit welchen Worten die Probanden auf die Notwendigkeit der Geheimhaltung hingewiesen wurden.

    Noch neun Minuten bevor die sie die Bilderserie organisieren mußte...

    Sie kritzelte gelangweilt auf den Notizblock der vor ihr lag.

    dies mies jeschet...

    Google hatte ihr verraten daß die Worte aus dem Werk Opera Omnia von Pietro d'Abano stammten, obwohl Carter sie Cornelius Agrippa zugeordnet hatte. Und daß mies das finnische Wort für Mann war. Was sie ungefähr genauso schlau zurückließ wie vorher. Aber der Sinn war ja belanglos, es ging nur darum wie die Formel sich anhörte.

    Sie sagte die Phrase in Gedanken vor sich her. Es begann fast wiegend, aber jeschet setzte einen Bruch, wie ein Punkt in einem Satz. Spannung und ihre Lösung vielleicht, aber nichts was eine Psychose induzieren konnte.

    Wie ging es weiter? boene doesef douvema enitemau - die ersten drei Worte namen wieder ein metrisches Thema auf, rauher als dies mies zu Beginn, aber dafür war der Abschluß nicht so hard. Harmlos - und doch, es war etwas an der Phrase, daß es schwer machte sie loszulassen. Sie war ein Thema das einem im Kopf rumgehen konnte, wieder und wieder.

    Sie widerstand dem plötzlichen Drang, die Worte laut auszusprechen, nur um endlich genau zu wissen wie sie klingen mußten.

    Extreme Dummheit.

    Daß das Lesen der Formel eine Wirkung haben konnte war Vermutung, aber die Wirkung wenn man sie hörte war ziemlich sicher.

    Sie mußte an eine Geschichte von Poe denken die unter Psychologiestudenten beliebt war, The Imp of the Perverse. In der Geschichte ging es um den fatalen Drang, etwas zu tun was eine ganz schlechte Idee war - eben weil es eine richtig schlechte Idee war, und das permanente Ankämpfen dagegen es zu tun auf die Dauer zu anstrengend wurde. Der Todestrieb in der Freudschen Analyse hatte eine ähnliche Stoßrichtung.

    dies mies jeschet...

    Irgendwie hatte sie das Gefühl daß da eine Bedeutung war die sie in der Ferne ahnen konnte, daß die Worte nicht so zufällig waren wie sie schienen. Vielleicht würde es sich lohnen, die Idee der universellen Sprache noch weiter zu verfolgen? Obwohl sie gut mit Chomskys Werk vertraut war, X-bar Syntax machte jedenfalls keine Aussage über Klang. Man müßte die Worte eben ausgesprochen hören können...

    Ein Timer piepte, und sie strich die Worte auf dem Notizblock energisch durch und beugte sich zum Mikrophon.

    "Wenn sie jetzt bitte den Text beiseite legen und mit der Bilderserie beginnen könnten, Mr. Kosinsky?"

  • "Na, wie gehen die Pläne für den Umzug voran?", fragte Jennifer.

    David Reid setzte sich, beladen mit einer Tasse Kaffee und Bagels, an den Tisch des kleinen Buchladencafes in der Main Street und stieß die Luft aus.

    "Ist noch eine Weile hin, aber Maryland ist schon sehr anders als North Carolina. Ich werde wahrscheinlich erst nach Neujahr umziehen - und dann liegt da schon Schnee."

    Jennifer nickte gedankenverloren. In North Carolina war Schnee extrem selten - wenn mal einen Tag lang eine dünne Schneedecke lag, dann war jeder überrascht und der Verkehr brach quasi zusammen. Sie fragte sich was Heidi Carr von Maryland halten mochte. Ob sie bereit für einen Umzug war. Oder ob sie eigentlich wußte daß Dave Jennifer alleine traf. Oder ob er überhaupt noch mit Heidi zusammen war nach der Hexengeschichte. Aber sie hütete sich, ihm eine dieser Fragen zu stellen.

    "Wie geht's dir die Tage, Jenny?", fragte er nach einem Schluck aus seiner Tasse. "Du wirkst immer noch so gedankenverloren."

    Touché...

    "Immer noch diese Sache. Du weißt schon, diese Studie."

    "Die magischen Beschwörungsformeln die wahnsinnig machen?"

    Er lachte kurz über seinen eigenen Witz bevor er sich einem Bagel zuwandte. Jennifer schaute durch das Fenster hinaus auf Main Street - Studenten die einen der letzten warmen Herbsttage nutzten um in einem Cafe zu lernen, Twens die die Pickups und SUVs ihrer Eltern ausfuhren, Familien die zum Fair im Park unterwegs waren. Wie viel sollte sie Dave sagen? Offenbar fand er die Sache eher lächerlich, und darauf wie Heidi vorgeführt zu werden hatte sie absolut keine Lust.

    Sie zuckte mit den Schultern.

    "Ich wüßte halt gerne ob die Sache ein Hoax oder echt ist", sagte sie schließlich. "Und irgendwie läßt mich die Sache einfach nicht los. Für einen Hoax ist es verdammt aufwändig. Zu aufwändig. Wer macht sowas?"

    Dave lehnte sich zurück.

    "Wieso hast du den Eindruck daß mehr dran ist?", fragte er. "Irgendwie ist die Sache doch an sich nicht sehr wahrscheinlich. Aber irgendwas bringt dich dazu, es ernster zu nehmen, irgend ein Instinkt. Aber was ist es? Irgendwas an diesen Zauberformeln?"

    "Wenn ich das wüßte..."

    Dave lachte leise und griff nach dem nächsten Bagel.

    "Du hast einen guten Jagdinstinkt bei solchen Sachen, Jenny. Ich hab' schon öfter erlebt daß du irgend ein komisches Gefühl hattest und nachher war an der Sache wirklich was dran auch wenn ich das erst nicht glauben wollte. Also - warum nehmen wir's nicht mal auseinander? Was bräuchtest du, um dir sicher zu sein mit was du's zu tun hast? Was müsste passieren?"

    Wow.

    Dave der die Hexenkarriere seiner Freundin bei Drinks ausbreitete, war jetzt bereit ihre wilden Theorien ernst zu nehmen? Ein unbewußter Drang vielleicht Heidi von sich zu stoßen indem er sie achtlos behandelte, und statt dessen eine engere Beziehung mit einer anderen Frau zu haben? Ihr selbst? Oder eher Überkompensation, behandelte er Heidi mies weil er sich schuldig fühlte mit ihr auszugehen? Sie schüttelte den Kopf - es gehörte sich nicht seine Freunde zu analysieren, und es war selten besonders hilfreich. Aber es ging um Dave.

    Sie schwieg und blickte ihn an, für den Moment war Carter zweitrangig...

    "Zum Beispiel diese Formeln...", fuhr er schließlich fort. "Wie sehen die denn aus? Was würde dir sagen daß sie wirklich was bewirken?"

    Eine kurze Weile überlegte sie - war es klug diese Information auch noch zu verbreiten? Oder war das schon wieder paranoide Übervorsicht? Dann griff sie nach einer Serviette.

    "Hast du mal einen Kuli?", fragte sie, und Dave kramte einen aus seiner Tasche vor während er sie fragend anblickte.

    dies mies jeschet schrieb sie, und schob die Serviette zu ihm hinüber.

    "Also, wenn diese Formeln tatsächlich was bewirken, dann kann ich's dir ja schlecht vorlesen...", erklärte sie.

    Er studierte die Schrift eine ganze Weile, schien die Worte im Geiste zu flüstern und machte am Ende eine hilflose Geste.

    "Sagt mir gar nichts. Und das soll wahnsinnig machen? Wie denn?"

    "Das weiß ich ja nicht. Carter behauptet es. In der Studie waren die Probanden in Hypnose während sie diesen Formeln ausgesetzt wurden, aber genau das gleiche Experiment kann ich ja schlecht wiederholen, wenn auch nur der Verdacht besteht daß Probanden zu Schaden kommen könnten sagt jede Ethikkommission nein."

    "Du denkst zu kompliziert", bemerkte Dave mit einem Grinsen. "Wenn wir den Prototyp von einem neuen Flugzeug fertig haben, dann jagt der Testpilot den auch nicht gleich auf 36.000 Fuß und an die Schallmauer. Wir fangen mit kleinen Tests an - kalkuliertes Risiko - und arbeiten uns dann weiter. Ich kann mir vorstellen daß wenn dieser Kram irgend eine Wirkung hat, du es so einrichten kannst daß es nur ein bisschen wirkt - so daß dir vielleicht ein bisschn gruselig wird oder du ein komisches Gefühl kriegst oder so, was weiß ich, du bist die Psychologin hier am Tisch. Aber die Idee ist, daß du dich in kleinen Schritten an die Sache rantastest."

    Sie sah ihn skeptisch an.

    "Meinst du?"

    "Bei vielen Fragen muß man irgendwann ein Risiko eingehen wenn man weiter kommen will. Aber man muß halt in kleinen Schritten gehen und das Risiko beherrschen. Lilienthal mußte sich irgendwann an seinen Gleiter hängen - aber natürlich hat er vorher versucht ob das Ding ohne ihn fliegt oder gleich zerbricht."

    Sie nickte gedankenverloren. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, aufzuhören diese seltsamen Namen und Formeln so zu behandeln als würde es den Weltuntergang einläuten sie auch nur vorzulesen.

  • Hey Thorsten

    Erstmal nur bis #12.

    Es bleibt spannend. Es macht Spaß zu lesen, wie Jennifer immer tiefer hereingezogen wird und sie letztlich dem Drang nachgibt, allen Warnungen zum Trotz mehr über diese Studie erfahren zu wollen.

    Hier kommt nur ein bisschen Kleinkram und Gedanken, die mir beim Lesen kamen :)

    Spoiler anzeigen

    "Heidi war mal in einem Hexenzirkel", warf Dave überraschend in die Runde und wandte sich dann an seine Freundin. "Weißt du was über solche Formeln?"


    Dem Blick nach den sie ihm zuwarf, war Heidi Carr alles andere als begeistert darüber daß ihr Freund solche Details aus ihrem Privatleben in der Öffentlichkeit breit trat. Aber sie hatte die Selbstbeherrschung, keine Szene zu machen, auch wenn sich ihr Mund zu einem schmalen Strich zusammenzog.

    Ehrlich gesagt finde ich es etwas seltsam, wie selbstverständlich hier von der Zugehörigkeit zu einem "Hexenzirkel" gesprochen wird. Ich glaube, mir würde erstmal alles aus dem Gesicht fallen, wenn mir mein Gegenüber sowas erzählt und hier geht es erstmal nur um die Reaktion von Heidi darauf, bloßgestellt worden zu sein. Das ist sicher ein wichtiger Fakt, aber wieso nimmt Jennifer das für normal hin? :hmm:

    Es war gradezu offensichtlich daß Heidi die ganze Sache mehr als peinlich war, aber genauso offensichtlich hielt das Dave nicht ab, das Thema weiter zu beackern. Jennifer wußte nicht genau ob sie sich für ihn schämen sollte oder ob sie froh sein sollte daß die Beziehung zwischen Reid und Carr wohl bald ein Ende haben würde.

    Das fand ich eine gewagte Annahme, die nur darauf basiert, dass Dave offenbar nicht sensibel genug ist, um auf Heidis Signale angemessen zu reagieren. :hmm: Ich würde ja fast behaupten, dass so etwas auch in den glücklichsten Beziehungen vorkommen kann...vielleicht könnte man es einfach ein bisschen entschärfen. Zum Beispiel: ...oder ob sie froh sein sollte, dass bei den beiden auch nicht immer alles eitel Sonnenschein war. (nur eine Idee)

    Ein Shot Tequila stand neben ihr auf dem Schreibtisch ohne daß sie das Glas bisher angerührt hatte.

    Sehr cool! Ich mag sie :D


    Sie klickte auf den Index und blickte schnell am Bildschirm vorbei, versuchte aus ihrer peripheren Sicht zu erkennen was da zu sehen war. Ihr Herz klopfte bis zum Hals.

    Das fand ich irgendwie gut...wie sie sich selbst auszutricksen versucht...wie sie sich langsam herantastet und am Ende dann doch einknickt, weil sie von der Neugierde getrieben ist.

    LG

    Rainbow

  • Rainbow

    Ehrlich gesagt finde ich es etwas seltsam, wie selbstverständlich hier von der Zugehörigkeit zu einem "Hexenzirkel" gesprochen wird. Ich glaube, mir würde erstmal alles aus dem Gesicht fallen, wenn mir mein Gegenüber sowas erzählt und hier geht es erstmal nur um die Reaktion von Heidi darauf, bloßgestellt worden zu sein. Das ist sicher ein wichtiger Fakt, aber wieso nimmt Jennifer das für normal hin?

    Ich weiss das natuerlich nicht aus Erfahrung, aber ich stelle mir vor dass man als Psychologin allen moeglichen komischen Typen begegnet, und dass sie daher von so einem Statement nicht besonders ueberrascht wird. Heidi kennt sie ja sonst nicht, wenn ihre eigene Freundin ihr sowas sagen wuerde waere sie vielleicht geschockter.

    vielleicht könnte man es einfach ein bisschen entschärfen. Zum Beispiel: ...oder ob sie froh sein sollte, dass bei den beiden auch nicht immer alles eitel Sonnenschein war. (nur eine Idee)

    Hm, muss ich mal ueberlegen wie ich das mache, ich wollte hier so ein bisschen ihr Wunschdenken zum Ausdruck bringen - sie denkt das ja nicht weil sie aus den Fakten schliesst dass es wahr ist, sondern weil sie eigentlich moechte dass es wahr sein soll...

    Das fand ich irgendwie gut...wie sie sich selbst auszutricksen versucht...wie sie sich langsam herantastet und am Ende dann doch einknickt, weil sie von der Neugierde getrieben ist.

    :danke: Die Stelle war nicht ganz einfach zu machen, aber das ist irgendwie das Thema hier, ja.

  • Dies mies jeschet...

    Jennifer brach ab. Ihre Stimme war zu unsicher und piepsig. So sollte diese Formel garantiert nicht ausgesprochen werden... Sie ging zur Spüle in ihrer Kochecke und holte sich ein Glas Wasser.

    Irgendwie hätte sie das Experiment ja lieber bei Tageslicht gemacht, aber da wurde sie am Institut erwartet. Wenn eine Studie lief und dazu noch die üblichen Seminare, Anträge, Poster und was noch alles zu einer akademischen Karriere gehörte kamen, dann blieb auch nur ein zwölf Stunden Arbeitstag ein Traum.

    Also noch einmal. Sie hatte die Formel schon so oft in ihrem Kopf gehört daß sie eine Vorstellung davon hatte wie die Worte sich anhören mußten - auf jeden Fall entschlossener, kraftvoll und ohne Zögern.

    Dies mies jeschet boene doesef douvema enitemaus!

    Diesmal hallten sie in der Wohnküche nach. Ihr Herz klopfte wie wild. Aber kein plötzliches Flackern des Lichts, kein Spiegel der mit einem Knall zerplatzte und kein Dunkelheit die aus dem Fenster eindringen wollte.

    Immer noch falsch...

    Es klang nicht richtig, immer noch nicht. Anders als es in ihrer Vorstellung gewesen war.

    Und die Formel hatte auch nichts bewirkt. Oder?

    Der Gedanke kam ihr ungebeten, und die Implikationen waren unangenehm. Carter hatte eindeutig geschrieben daß die Probanden normalerweise keine Änderung ihrer Stimmung erlebten, sondern daß die Wirkung der 'barbarischen Namen' auf das Unterbewußtsein zielte und erst später nachweisbar wurde. Auf der anderen Seite waren Carters Probanden aber auch keine ausgebildeten Psychologen...

    Sie fühlte sich jedenfalls normal. Nur - eine Wahnidee war ja für den Psychotiker auch ganz normal, sie erschien ihm offensichtlich richtig und aus seiner Perspektive war das widersinnige daß der Rest der Welt sie nicht nachvollziehen konnte. Nicht alle Menschen die Wahnideen entwickelten waren sich bewußt, daß sie ein Problem hatten.

    Jennifer atmete heftig durch.

    Auf diese Weise verrückt machen konnte man sich natürlich auch... Zwangsneurose war das Zauberwort. Aber es ging hier um kalkuliertes Risiko. Sie wußte daß sie in Persönlichkeittests auf der Neurotizitätsskala nur einen geringen Wert erreichte - sie war psychisch resilienter als 95% der Bevölkerung. Und sie kannte sich und ihr Innenleben, aus Tests genauso wie durch Introspektion - und dazu kannte sie die gängigen Theorien des Feldes. Die Chancen standen gut, daß sie jeden Effekt auf sich bemerken würde. Die Vorstellung einfach so eine Wahnidee zu entwickeln ohne es zu merken war lächerlich.

    Die Formel würde nichts bewirken solange sie nicht den richtigen Tonfall fand - das sagte Carter in seiner Arbeit, und das sagte ihre Intuition, also wenn sie irgend ein sinnvolles Experiment machen wollte, dann mußte sie dieses Problem zuerst lösen statt über Wahnideen nachzugrübeln.

    Du hast nicht an den Versuchsaufbau gedacht.

    Sie nickte zu sich selbst. Carter hatte beschrieben daß die Probanden unter Hypnose gewesen waren, wie genau? Sie öffnete das Dokument am Rechner und überflog die relevanten Abschnitte. Ärgerlicherweise blieb die Beschreibung des Versuchsaufbaus im Detail vage, er schrieb von 'induzierten Trancezuständen' und 'kontrollierter Intonation der Formeln'. Sie verzog das Gesicht - Trancezustände gab es viele, waren die Probanden kataleptisch gewesen, oder in einer tiefen Trance vergleichbar dem Somnambulismus? War die Trance überwacht worden? Und 'kontrollierte Intonation' sein sollte blieb Carters Geheimnis, das war so eine akademische Verschleierungsphrase.

    Aber um so einen Versuchsaufbau überhaupt zu verwenden brauchte sie schon jemanden, der sie hypnotisierte. Was das Problem aufwarf daß sie selbst keine Kontrolle mehr haben würde und das Experiment nicht abbrechen konnte. Von den ethischen Fragen jemand anderen mit reinzuziehen mal ganz abgesehen. Das klang alles andere als praktikabel...


    Auf der anderen Seite konnte sie natürlich auch bei sich selbst einen Trancezustand herbeiführen, sie hatte autogenes Training gelernt. Und so, begriff sie plötzlich, war wahrscheinlich wie die Formeln im Mittelalter verwendet worden waren bevor Carter sie in seiner Arbeit benutzt hatte.

    Und sie kannte eine Person, die ihr ziemlich sicher bei dieser Frage helfen konnte.

  • "Heidi, hast du einen Moment für mich?"

    David Reids Freundin drehte sich um Eine Sekunde lang malte sich Verwirrung auf ihrem Gesicht während sie versuchte einzuordnen woher sie Jennifer kannte, dann verschlossen sich ihre Züge.

    "Ich komm' grade aus dem Kolloquium und hab' um zwei einen Termin mit meinem TA, vorher muß ich noch zur Bibliothek", sagte sie abwehrend. "Also eigentlich eher nein."

    Ein steter Strom von Studenten und Akademikern floß um beide herum, paßte sich mühelos dem temporären Hindernis an das sich plötzlich gebildet hatte. Die Hauptachse des Kampus die von der Great Hall an den neugotischen Gebäuden der Hauptbibliothek und der Verwaltung zu Trinity Church führte war um diese Zeit sehr belebt, und Stände von studentischen Organisationen am Rand versuchten mit Plakaten und Infoflyern auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen drängten den Strom von Menschen noch enger zusammen.

    "Dauert nicht lange", versprach Jennifer. "Einen kurzen Abstecher in die Gärten, ich hab' nur eine Frage."

    Sie konnte sehen wie Heidi mit sich rang, es war klar daß sie Jennifer am liebsten loswerden wollte, aber Angst davor hatte zur besten Freundin ihres Partners unhöflich zu sein.

    "In Ordnung", seufzte sie schließlich. "Laß uns ein paar Minuten durch die Gärten gehen."

    Die Temple Hill Gardens, ursprünglich als Sammlung für das Institut für Botanik gedacht, waren im Sommer ein beliebter Treffpunkt für Studenten die im Schatten der Bäume ihre Literatur studierten oder von Bänken aus auf die Blüten der Seerosen schauen konnten. Im Spätherbst hingegen waren die Bäume kahl, der See lag trüb unter dem grauen Himmel und obwohl die Luft warm war, war das Areal fast leer.

    "Ich hab' so eine Ahnung worum es dir geht", begann Heidi noch bevor Jennifer eine Frage stellen konnte. "Und ich sag' dir gleich daß ich überhaupt keine Lust habe, als die Freak-Hexe in einer von deinen Studien aufzutauchen."

    "Okay, okay", wehrte Jennifer ab. "Weißt du, ich hab' das Thema nicht aufgebracht, und ich fand's auch unmöglich von ihm. Aber bitte gib' mir nicht die Schuld daß es passiert ist."

    Heidi seufzte, blieb stehen und blickte eine Weile auf die Blätter einer Seerose.

    "Also gut, du hast recht", sagte sie schließlich. "Was genau willst du wissen?"

    Schuldgefühle konnten manchmal ein hervorragender Antrieb sein... Jennifer erkannte einen Vorteil, wenn sie einen sah.

    "Du hast es irgendwie erraten...", begann sie. "Ich möchte wissen wie ihr eine magische Formel aussprecht. Man sagt die ja nicht einfach so daher, oder?"

    Heidi verzog kurz das Gesicht.

    "Und was genau bringt dich auf die Idee, daß ich dir sowas sagen würde?", gab sie barsch zurück.

    "Das ist, wie so ein Zirkel funktioniert, oder? Ihr macht keine Werbung, aber wenn jemand an die Tür klopft und ehrlich fragt, dann müßt ihr ihm Auskunft geben. Weil ihr sonst vielleicht jemanden der sich euch anschließt zurückweist."

    "Woher hast du denn das?", fragte Heidi und blickte sie scharf an.

    'Google...' hätte Jennifer sagen können, hielt aber wohlweislich den Mund und wartete ab. Auch Schweigen konnte manchmal ein Vorteil sein, dem anderen so unangenehm werden daß er es irgendwann brechen wollte.

    "So einfach ist es auch wieder nicht", fuhr Heidi dann irgendwann fort. "Nur weil irgendjemand mal neugierig ist heißt das nicht das wir da mitmachen müssen."

    "Ich bin aber nicht einfach nur neugierig, Heidi", sagte Jennifer. "Ich will deine Erfahrungen nicht lächerlich machen oder wegerklären, sondern ich bin auf was gestoßen, und ich möchte offen rangehen und rausfinden ob was dran ist oder nicht. Und ich verspreche dir daß du auf keinen Fall in irgend einer Studie auftauchst oder erwähnt wirst. Okay?''

    Heidi sah sie prüfend an und nickte dann schließlich.

    "Okay...", murmelte sie und holte dann tief Luft. "Also, bei einer Invokation - das was du 'Zauberformel' nennst - ist das ganze Drumherum genauso wichtig wie die Worte. Wenn wir die große Göttin anrufen, dann ist ihr Bild auf dem Altar, Räucherwerk das an sie erinnert auf der Kohle und Musik die wir mit ihr verbinden im Hintergrund. Und um die Worte auszusprechen mußt du deinen Geist leer machen und dann alle Aufmerksamkeit auf sie richten während du sie vibrierst. Also, fast singst so daß sie im Unterleib zu spüren sind. So daß sie dein ganzes Bewußtsein ausfüllen."

    "Was genau meinst du mit 'leer machen'?", fragte Jennifer.

    "Idealerweise an nichts denken...", erklärte Heidi. "Aber das ist verdammt schwer, wenn du's einfach so versuchst kommen dir wahrscheinlich alle möglichen anderen Gedanken durch den Kopf geschossen, sowas muß man lange üben. Am Anfang ist es vielleicht besser sich auf etwas einfaches zu konzentrieren - eine Form vielleicht, einen roten Kreis oder sowas."

    "Und dann die Worte?"

    "Ja - so daß deine Aufmerksamkeit nur bei den Worten ist und auf diese Weise andere Gedanken fernhält. Wie ein Mantra vielleicht. Ist das alles was du wissen willst?"

    Jennifer nickte.

    "Danke, Heidi."

  • Hey Thorsten

    Es bleibt spannend. Ich kann mir das sehr gut vorstellen, wie Jenny abends in ihrer Wohnung mit diesen Sätzen herumhantiert, ständig von der Angst getrieben, dass jeden Augenblick irgendetwas Seltsames passieren könnte. Die Anspannung habe ich geförmlich gefühlt und habe regelrecht mitgefiebert.

    Am Ende dann der Gedanke mit der Selbsthypnose, wo ich direkt dachte. Nee, lass das mal lieber!

    Immerhin ist sie dann zumindest so clever, Heidi mit ins Boot zu holen. Aber geil ist halt, wie das langsam größere Kreise zieht. Sie rutscht da immer tiefer rein und der Punkt einer Rückkehr ist längst überschritten.

    Ich bleibe gespannt :gamer:

  • Aber geil ist halt, wie das langsam größere Kreise zieht. Sie rutscht da immer tiefer rein und der Punkt einer Rückkehr ist längst überschritten.

    Es hat System... bin gespannt was Du mit dem Blick vom Ende der Geschichte her zu diesen Stellen sagen wirst :)

    Und im naechsten Abschnitt ist wieder eine Anspielung drin die Etiam vermutlich erkennen wird :D

    ***


    Eine einzige Kerze auf Jennifers kleinen Esstisch teilte die Wohnung in einen Kreis aus Licht umringt von flackernden Schatten.

    So viel zur Stimmung... Sie war sich unsicher ob die Kerze der Sache angemessen war, und ob sie nicht vielleicht doch besser irgend einen Weihrauch besorgt hätte, aber um ehrlich zu sein hatte sie ihre Zweifel ob solche Dinge wirklich eine Rolle spielten. Die Erfahrung der letzten drei Tage war jedenfalls daß sie, sobald sie die Augen schloß und versuchte an nichts zu denken, vom Rest ihrer Wohnung nichts mehr mitbekam.

    Die entscheidende Schwierigkeit war eher, den Geist leer zu machen wie Heidi das so einfach formuliert hatte. Sobald sie die Augen schloß drängte sich alles mögliche in ihre Aufmerksamkeit - ein Krampf am Bein oder ein Kratzen an der Nase, wenn sie es endlich geschafft hatte diese Dinge zu ignorieren hatte sie statt dessen eine Szene aus ihrer Arbeit vor Augen. Oder hörte eine Liedzeile die sie im Radio gehört hatte in Endlosschleife.

    Und dann war da natürlich noch die Schwierigkeit, die eigentliche Formel zu intonieren. Der plötzliche Stop bei jeschet unterbrach jedes Mal ihre Konzentration, und sie mußte wieder von vorne beginnen.

    Vielleicht solltest du einfach eine weniger komplizierte Formel nehmen...

    Sie nickte gedankenverloren. Sie hatte dies mies verwendet weil die Formel am ehesten dazu neigte ihr im Kopf rumzuspuken, und wenn es einfach nur darum ging die Worte laut auszusprechen gab es kein Problem damit. Für die Arbeit in einer Trance hingegen war die Formel nicht die beste Wahl. Natürlich war ein Wechsel der Prozedur mitten im Experiment nicht grade der wissenschaftliche Standard, aber für ihr Gefühl hatte sie bisher eh noch nichts erreicht.

    Jennifer setzte sich in ihren Sessel, blickte in die Kerze und begann mit den Entspannungstechniken. Ruhiger Atem, nicht kontrolliert sondern erlebt, wie etwas das durch sie hindurch atmete. Entspannung, Schwere in allen Muskeln, dann ein Gefühl von Wärme.

    Ihr Smartphone summte. Vibrationsalarm. Wer bitte rief denn mitten in der Nacht noch an? Das Geräusch verstummte, aber natürlich war ihre Ruhe erst mal dahin. Wieder ein paar langsame Atemzüge, dann wieder Entspannung.

    Sie schloß die Augen, versuchte einen roten Kreis vor ihrem inneren Auge aufzubauen. Fast sofort durchzogen ihn schwarze Streifen.

    Nicht verkrampfen, einfach geschehen lassen.

    Sie konzentrierte sich, rief sich das Rot zurück ins Gedächtnis, ließ eine Szene von Geoff der ihr einen lustigen Blogeintrag gezeigt hatte passieren. Zurück zum roten Kreis - andere Gedanken einfach aufsteigen lassen, aber nicht beachten. Eine Stimme schnarrte in ihrem Kopf ohne daß sie Worte unterscheiden konnte. Das war normal, oder? In einer Trance war es okay Stimmen zu hören... Der rote Kreis zerfloß wie Wachs. Nicht verkrampfen, geduldig baute sie die Form wieder in ihrer Vorstellung auf. Irgendwas kratzte sie am Arm. Und etwas schien zu flackern - war die Kerze umgefallen? Aber sie durfte jetzt nicht die Augen öffnen, den Gedanken an eine Wohnung in Flammen ließ sie einfach wieder fortgleiten bevor ihr Puls sich beschleunigen konnte. Geduld, Konzentration, aber nicht verkrampft...

    Wieder geschah ein Atemzug, und abermals ließ sie den Kreis aus der Dunkelheit auftauchen. In weiter Ferne war ein störendes Geräusch, schrill, wie von einer Pfeife oder kleinen Flöte, atonal. Überrascht nahm sie wahr, daß der Kreis immer noch vor ihrem inneren Auge stand.

    Iak shakkak... begann sie zu intonieren, zu singen, spürte die Vibration in ihrem Körper, und ihre Gedanken hängten sich an die Worte. Der rote Kreis verblaßte, und einfach nur noch die nächste Silbe war wichtig. Iak shakkak... iak shakkak... iak shakkak...

    Die Zeit schien seltsame Dinge zu tun, unwichtig zu werden. Hatte sie geatmet? Es war nicht wichtig...

    Iak shakkak... iak shakkak...

    Mit einem Schock realisierte sie, daß ihr eine Zeitspanne fehlte, da war kein bewußtes Erleben an das sie sich erinnerte, es war wie Auftauchen aus einem dunklen Tunnel, und mit diesem Gedanken verkrampfte sie sich, und die Konzentration entglitt ihr.

    Jennifer öffnete die Augen. Die Kerze brannte ruhig vor ihr. Gut, der Wohnungsbrand war also nur in ihrer Phantasie gewesen. Ihre Beine prickelten. Wie lange hatte sie im Sessel gesessen? Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte ihr daß es 0:43 war - so gegen 0:10 hatte sie mit dem Experiment begonnen. Also nicht Stunden die sie verbracht hatte, aber länger als ihr Zeitgefühl sagte.

    Interessant...

    Irgendwas war in der letzten halben Stunde passiert. Aber was genau? Sie fühlte sich jedenfalls normal. Vielleicht konnte sie morgen an der Uni ein paar Tests machen. Nur um sicher zu gehen.


    ***


    "Hallo Jenny, hier ist Geoff. Sorry daß ich um diese Unzeit noch anrufe, vielleicht schläfst du auch schon, wahrscheinlich, aber... die Sache treibt mich grade um. Auf jeden Fall: Ich hab' dir ja versprochen daß ich mich mal bei Kumpels in Neuengland umhöre, du erinnerst dich?

    Und grade hab' ich mit jemandem gesprochen, dessen Onkel hat einen Freund und dessen Bruder - naja, über vier Ecken halt - hat anscheinend an dieser Studie teilgenommen. Und der ist ein Wrack. Also so richtig. In der Geschlossenen, muß die meiste Zeit ruhig gestellt werden. Und das war nachdem er bei dieser Studie war - der Name Carter ist der Familie noch gut in Erinnerung.

    Da ging ein ziemlich komischer Rechtsstreit hin- und her, mit den Einzelheiten bin ich nicht vertraut, und irgendjemand scheint eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet zu haben oder so - jedenfalls will die Familie die ganze Sache hinter sich lassen und redet ungern drüber.

    Also, ich meine, was ich dir sagen will - die Sache ist auf jeden Fall kein Hoax. Das ist real, so unglaublich das klingt. Naja, ich seh' ich morgen im Institut. Nochmal sorry wenn ich dich jetzt geweckt habe. Bye."

    Jennifers Hand zitterte als sie das Smartphone auf den Nachttisch sinken ließ.

    Scheiße...