Die weiße Garde
Morgen war Markt. Auf dem Platz vor der Kirche wurden die Stände aufgebaut. Männer und Frauen scherzten, lachten und manchmal schimpften sie auch miteinander. Kinder liefen herum um zu sehen, wer dieses Jahr alles dabei war. Eine Gruppe Gaukler übte in einer ruhigeren Ecke ihre Kunststücke. Die Gasthäuser waren voll.
Seit zehn Jahren besaß unsere kleine Stadt das Recht, zwei Mal im Jahr für drei Tage einen Markt abzuhalten. Ich liebte den Markt. Nicht nur, weil es das Unterhaltsamste war, was in unserer Stadt geschah, sondern auch, weil ich Connor wiedersehen würde. Connor und seine Mutter kamen seit fünf Jahren regelmäßig zum Markt, um feinste Elfenbeinschnitzereien anzubieten.
Ich hatte schon nach ihnen gesucht, aber wie immer schienen sie auch dieses Jahr erst am Morgen des ersten Markttages eintreffen zu wollen. Ihre Ecke hatte man jedenfalls freigehalten.
Connor und seine Mutter hatten nämlich keinen richtigen Stand. Sie legten einfach ein paar Decken auf den Boden und breiteten ihre Waren dort aus. Ich war enttäuscht. Jedes Jahr hoffte ich darauf, dass sie vielleicht eher eintrafen, damit ich etwas mehr Zeit mit Connor verbringen konnte. Aber da war wohl nichts zu machen. Connor hatte mir erzählt, dass sein Clan nicht sesshaft war. Sie waren Jäger und zogen das ganze Jahr durch die Steppen von Hrosch dem Wild hinterher. Nur zwei Mal im Jahr war sein Clan in unserer Nähe, damit er mit seiner Mutter die Schnitzereien verkaufen konnte. Von dem Geld kauften sie Waren, die sein Clan nicht selbst herstellen konnte, und dann verschwanden sie wieder.
“Na, Schwesterherz, ist der Liebste noch nicht da?” Ich spürte, wie meinGesicht heiß wurde und fuhr wütend herum. “Er ist nicht mein Liebster!”schalt ich Thure, meinen älteren Bruder, der sich mal wieder vor seinen Freunden groß tun musste. Thure war sechzehn, ein Jahr älter als ich, aber ich war größer, was seinen Stolz verletzte. “Hau bloß ab, du Zwerg.” setzte ich hämisch hinterher und sah mit Genugtuung die Wut in seinen Augen aufblitzen. “Besser ein Zwerg als so hässlich, dass man sich mit einem Halbwilden einlassen muss, der unsere Sprache noch nicht mal richtig sprechen kann.” tönte er. Es stimmte, dass Connor einen harten Akzent hatte, aber abgesehen davon beherrschte er unsere Sprache sehr gut. Seine Freunde feixten. Ich wollte gerade ein sehr unfeines “Verpisst euch.” von mir geben, als Reiter durch das Stadttor preschten, Männer in voller Rüstung mit weißen Umhängen und harten Gesichtern.
Schlagartig wurde es still. Weißgardisten.
Es waren zu viele, um nur Schutzgelder eintreiben zu wollen.
Diese Feststellung verursachte mir schlagartig Übelkeit. Denn das konnte nur eins bedeuten: Orks.
Bisher war unser Landstrich von den Überfällen der Horden verschont geblieben. Aber die Berichte darüber waren in aller Munde. Seit fast zwanzig Jahren wurden ganze Gemeinden von den feigen Bestien ausgelöscht. Sie tauchten wie aus dem Nichts auf und metzelten alles nieder, dann verschwanden sie wieder.
Große Armeen waren losgezogen, um die Orks zu stellen, mussten aber ergebnislos zurückkehren. Orks hatten keine Armeen. Sie mordeten anscheinend in kleinen Gruppen, derer man nicht habhaft werden konnte.
Die Einzigen, die sich fortan der Aufgabe stellten, Orks zu jagen, waren die Weißgardisten. Sie finanzierten sich aus den Schutzgeldern der Gemeinden, sehr harte Männer mit kalten Augen, die schon so manches Grauen gesehen haben mussten.
Die Überfälle der Bestien waren nie vorauszusehen, und bisher kamen die Gardisten immer zu spät, um auch nur einen einzigen Menschen zu retten. Aber mit ihren großen Molosserhunden nahmen sie gnadenlos die Verfolgung der Orks auf und manchmal gelang es ihnen, eine Horde zu stellen und zu töten. Ein Weißgardist brachte mal einen Orkschädel mit, als er das Schutzgeld holen kam. Ich hatte bis heute davon noch Albträume. Der Kopf des Menschenfressers war riesig groß und abstoßend hässlich mit seinen kleinen Augen, der kurzen Schweinsnase und den langen, spitzen und messerscharfen graugrünen Zähnen.
Der Hauptmann der weißen Garde maß unsere hölzerne Stadtmauer und die vielen, kleinen Holzhäuser flüchtig mit einem abfälligem Blick. “ Geht alle in die Kirche. Die Männer unter euch, die eine Waffe haben und damit umzugehen wissen, bleiben bei uns. Wir werden die Kirche verbarrikadieren und uns davor zum Kampf aufstellen. Meine Männer sind bereits draußen unterwegs, um die Leute von den Feldern zu holen. Eilt euch, Leute, uns bleibt nicht viel Zeit.”
Schweigend und hastig strömten alle Menschen in die Kirche. “Connor!” schoss es mir durch den Kopf und mein Schritt stockte. Ich musste Connor warnen, bevor er den Orks in die Arme lief. Connor kam nie über die Felder, wo die Gardisten waren. Connor kam von der anderen Seite. Ich drängte mich an den Rand der Menge und verschwand schließlich unbemerkt
hinter der offenen Türe eines Hauses. Wenn es mir gelang, zum Garten des Schusters zu kommen, konnte ich da auf den Apfelbaum klettern und über die Stadtmauer springen. Sie war nicht hoch. Durch ein Fenster auf der Rückseite verließ ich das Haus und schlich mich durch die leeren Gassen. Nervös kletterte ich einige Zeit später auf den Apfelbaum. Von dort aus konnte ich die Kirche sehen, was hieß, dass man auch mich sehen konnte. Aber keiner schaute in meine Richtung. Die Kirchentüre war schon geschlossen. Kisten und ein umgekippter Karren bildeten vor ihr ein Hindernis. Davor hatten sich viele Gardisten und die Männer der Stadt aufgestellt, auch meinen Vater sah ich dort stehen. Die Gardisten zogen ihre Schwerter.
Und dann begann das Grauen.
Starr vor Entsetzen sah ich, wie ein Gardist meinem Vater sein Schwert bis ans Heft in den Leib rammte. Auch die anderen Männer wurden innerhalb von Sekunden von den Weißgardisten niedergemacht. Eine riesige Faust presste mein Herz zusammen, hilflos klammerte ich mich am Stamm des Baumes fest und konnte meine Augen nicht abwenden. Plötzlich waren Fackeln in den blutigen Händen der weißen Garde. Sie zündeten an mehreren Stellen die Kirche an und auch den Karren und die Kisten vor der Türe. Die Kirche war aus Holz. Ich hörte ein unmenschliches Wimmern und begriff mit einem fernen Teil meines Verstandes, dass es aus meiner
eigenen Kehle kam. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus, und dann begannen die qualvollen Schreie. Ich dachte an meine Brüder, die sich in der Kirche befanden. Tränen liefen mir in breiten Strömen übers Gesicht. Am ganzen Körper zitternd
sprang ich über die Stadtmauer und fing an zu rennen, kaum das meine Füße die Erde berührt hatten. Ich musste hier weg. Es hatte nie Überlebende bei den Orküberfällen gegeben. Ich wollte die erste sein. Die erste Zeugin, deshalb musste ich hier weg. Grässliche Schreie aus einer anderen Richtung. Ich sah in der Ferne eine Frau, die von einem ganzen Rudel Molosser niedergerissen und bei lebendigem Leibe zerfleischt wurde. Und ich rannte. So schnell wie nie zuvor in meinem Leben, blindlings in Richtung der offenen Steppe. Mein ganzes Denken formierte sich zu einem einzigen Wort: WEG. Doch die weiße Garde war erfahren in
dem, was sie tat. Kurze Zeit später, als sie sicher sein konnten, dass innerhalb der Stadtmauern niemand mehr lebte, kamen sie auf ihren Pferden mit ihren scheußlichen Hunden und suchten die Gegend ab. Die Steppe war hügelig, bot aber sonst wenig Deckung. Einer der Reiter musste mich entdeckt haben. Sie setzten sofort zur Verfolgung an, vier Reiter und drei der Hunde. Ich hatte einen guten Vorsprung, aber ich ahnte, dass er nicht reichen würde. Wie irre rannte ich einen Hügel hoch - und lief fast in Connor herein, der gerade von der anderen Seite hochgekommen war. “Weg!” kreischte ich ihm und seiner Mutter zu. “WEG!” Meine Stimme überschlug
sich. Connors Mutter sah die Männer der weißen Garde mit ihren Molossern und wurde blass. “Das sind die Leute, die damals mein Dorf getötet haben. Und deinen Vater.” stieß sie hervor. Connor hielt mich an einem Arm fest, hob den Kopf und gab einen seltsamen, durchdringenden Schrei von sich und dann endlich rannten wir weg. In die Senke hinein und auf der anderen Seite wieder hoch. Connor fasste mich erneut am Arm, während wir rannten. “Du brauchst keine Angst zu haben.” keuchte er mit seinem
harten Akzent. “Unser Clan wird dich schützen.” Das war mir alles egal, ich wollte nur weg. Und bremste trotzdem voll ab, als der Hügel den Blick in die nächste Senke freigab. Denn da kam ein Ork auf uns zu. Auf allen vieren, und trotzdem war er größer als ein Mann auf einem Pferd und wesentlich schneller. Seine kleinen Augen hatten unsere Gruppe bereits fixiert, und in seinem leicht geöffneten Maul zeigten sich die spitzen Zähne, die mir seit Jahren Albträume bereiteten. Meine Augäpfel traten
aus ihren Höhlen, und vor Entsetzen wurde ich so schwach, dass meine Knie einfach unter mir nachgaben. Mein Verstand setzte aus. Tränenblind starrte ich auf den Boden vor mir. Es war vorbei. Connor stieß eine ganze Reihe harter, kehliger Laute aus, bevor uns der der Ork erreichte. Der strenge Geruch der Bestie stach mir bereits in die Nase. Und dann hörte ich den Ork ähnliche Laute hervorbringen. Ungläubig sah ich hoch. Das Gesicht des Monsters war keinen Meter von mir entfernt, die Schweinsnase war gekraust und entblößte das furchtbare Gebiss. “Du bist also Anthea, Connors kleine Freundin.” Sein Akzent war noch viel stärker als der von
Connor, und hätte ich mich nicht schon seit Jahren an diesen Akzent gewöhnt gehabt, hätte ich kein Wort verstanden. “Ich bin Qentar, Connors Ziehbruder.” sagte die Bestie. “Wir kommen schneller weg, wenn ich euch auf dem Rücken trage. Halte dich fest. Wir holen unseren Clan, sie sind nicht weit von hier. Und dann…” er sah zu unseren Verfolgern rüber und ein teuflisches Glitzern kam in seine kleinen Augen.