Ich sehe gerade, der letzte Teil ist ja schon wieder eine Woche her...
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Diese Nachricht war schockierend. Blue spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Sie wusste, dass ihr Vater den piekfeinen und intelligenten Elisus Hofken, sowie den immer leicht zerstreut wirkenden, aber überaus gebildeten und redegewandten, Ansakar Bollet vor etwa drei Wochen fortgeschickt hatte. Das Ziel ihrer Reise teilte er hingegen mit niemandem. Und nun brachte man ihnen die Nachricht vom Tod Hofkens? Sie wollte es immer noch nicht glauben. So hochnäsig und arrogant das Gebaren des Mannes mit dem spitzen Kinn und dem fast schon übermäßig gepflegten Äußeren manchmal auf den ersten Blick auch gewirkt haben mag, so höflich und zuvorkommend war er doch stets gegenüber seinen Mitmenschen gewesen.
Seine Beliebtheit in der Hauptstadt hielt sich dennoch in engen Grenzen. Den einfachen Bürgern Venuris’ war der Mann schlichtweg suspekt. Das konnte man an ihren abfälligen Blicken erkennen, die sie ihm jedes Mal zuwarfen, wenn er sich unter ihnen bewegte oder besser stolzierte.
Sie erinnerte sich daran, wie Mendo Warigna, der Hauptmann der Stadtwache, Hofken erst kürzlich als aufgeblasenen Kissenbeißer titulierte.
Blue musste über diese Behauptung lange nachdenken. Tatsächlich war Hofken der Einzige von Vaters Beratern, der alleine lebte. Selbst der unsagbar fette Hellman Benswart, den letztes Jahr, im Zuge seiner Völlerei, der Tod am Mittagstisch ereilte, war mit einer kleinen rundlichen Frau vermählt gewesen. Zwar war auch sie keine Schönheit, doch die Erinnerung an die bitteren Tränen, die die Frau bei der Beisetzung ihres Mannes vergossen hatte, blieb in Blues Kopf präsent. Benswarts Witwe liebte ihren Mann, ungeachtet seines massiven Körpers, was Blue damals sehr berührte. Hofken hingegen hatte sie nie auch nur in Begleitung einer Person des anderen Geschlechts gesehen. Doch wie er stets zu sagen pflegte: „Man kann nicht in die Köpfe oder die Herzen der Menschen sehen.“
Damit sollte er, wie so oft mit seinen Behauptungen und Ratschlägen, wieder einmal Recht behalten. Auch in seine Gedanken- und Gefühlswelt gab es für Blue keinen Einblick.
Die einzige Frage, die sie nun noch den ganzen restlichen Weg in die große Eingangshalle beschäftigte, war: Wie war Elisus Hofken ums Leben gekommen?
Besagte Halle war noch einmal mindestens doppelt so hoch und lang wie der Ratssaal aus dem sie soeben kamen. Aufwändig bemalte, rechteckige Säulen schraubten sich, parallel zueinander angeordnet, in die Höhe und stützten die Decke über ihnen, die von einem großen, aufgemalten Venua-Wappen bedeckt wurde. Zwischen den Säulen verlief eine gut drei Meter breite Gasse, die direkt zu dem Eingang führte, der von einem großen massiven Tor aus dunklem Holz verschlossen wurde. Auf dem, gänzlich weiß-blau gefliesten, Hallenboden war in besagter Gasse ein weinroter, ausgetretener Teppich verlegt, von dem ihre Schritte dumpf widerhallten. Zwischen den Säulen hielt jeweils ein Mann, mit einem Speer bewaffnet, Wache. Vierzehn Mann an der Zahl passierten sie, ehe sie schließlich den Eingangsbereich erreichten. Schon von Weitem konnte Blue vier Männer und einen kleinen Jungen erkennen, die von vier weiteren Wachen am Weitergehen gehindert wurden.
Einer der Männer war groß und schlank, besaß zerzaustes kastanienfarbenes Haar und machte mit seinem blassen Teint einen überaus ungesunden Eindruck. Ein anderer Mann war ein untersetzter, finster dreinblickender Kerl mit kurzem, dünnem Haupthaar. Der kleine Junge, der an seiner Seite stand, wirkte fast ein wenig apathisch auf Blue. Er hatte ebenso zerzaustes Haar wie der lange ungesunde Kerl, allerdings in tiefschwarzer Farbe. Seine hellblauen Augen starrten unentwegt ins Leere. Eigentlich war der Junge nur unwesentlich kleiner als sie selbst, doch, und das war für Blue offensichtlich, war er einige Jahre jünger als sie.
Desweiteren hielt sich ein alter Mann mit langem, grauem Bart, der ihm bis knapp unter die Brust reichte, im Hintergrund. Dieser erweckte den Eindruck, als wäre er im Begriff gleich im Stehen einzuschlafen. Direkt daneben schließlich ein breiter, hässlicher Kerl mit kugelrundem, rotem Teiggesicht, der sich an eine der Säulen anlehnte. Mit seinen kleinen wulstigen Fingern zupfte er immer wieder nervös an seinem verschwitzten Wams herum. Ein ziemlich merkwürdiger Haufen, dachte sich Blue. Die Kleidung der Männer war, ebenso wie ihre Gesichter, stark verdreckt. Sie wirkten kraftlos und erschöpft. Blue konnte den Blick nicht mehr von dem kleinen Jungen abwenden, der eine furchtbare Traurigkeit ausstrahlte. Als dieser sich aus seiner Apathie lösen konnte und zu ihr aufschaute, trafen sich ihre Blicke. Er wandte den seinen direkt wieder verstohlen zu Boden.
Als Tenth Barke seinen Wachen befahl zur Seite zu treten, folgten diese ohne zu Zögern und gaben den Platz für ihren Regenten und dessen Tochter frei.
Der ungesund aussehende, blasse Mann trat einen Schritt vor, verbeugte sich unterwürfig und richtete das Wort, frei jeglicher Hemmungen, an seinen Regenten: „Mein Herr! Mein Name ist Gekk Bauwer. Ich wurde von dem Händler Kal Brahmen als dessen Beschützer angeheuert und begleitete sowohl ihn, als auch euren Gesandten in die Zweitwelt.“
Die Zweitwelt? Das kam für Blue überraschend. Wieso in aller Welt sollte Vater Elisus Hofken in die Zweitwelt geschickt haben?
Gekk Bauwer fuhr fort und stellte nun auch seine Begleiter vor: „Die Herren hinter mir sind Hanz Gorke, ebenfalls von Kal Brahmen zu dessem Schutz angeheuert. Fitz Grün und Donte Draben, die Steuermänner unserer beiden Fuhrwerke und der kleine Mann hier“, er deutete auf den schweigsamen Jungen, „ist Dieke Brahmen, der Sohn unseres Auftraggebers.“
Moment. Niemand dieser Personen war der Vater des Jungen? Noch bevor Blue den Gedanken zu Ende denken konnte, sprach ihr Vater auch schon die daraus resultierende Frage nach dem Verbleib von Kal Brahmen aus.
Nun trat der breitschultrige Mann, der den Namen Hanz Gorke trug, vor und antwortete stellvertretend für seinen blassen Kameraden: „Es gab ein Attentat auf den Anführer dieser Wilden. Daraufhin ist ein Aufstand ausgebrochen und diese Kreaturen haben sowohl euren Gesandten, als auch unseren Auftraggeber getötet. Wir hatten Glück und konnten das Getümmel zur Flucht nutzen, mein Herr.“
Die anderen Männer nickten zustimmend während der Worte des grimmigen Mannes. Blue bemerkte, wie sich ein Anflug von Resignation in die Miene ihres Vaters mischte. Mit einem leisen Zischen, ließ er die Luft zwischen seinen Zähnen entweichen und entgegnete in einem wahrhaft enttäuschten Tonfall: „Es scheint mir, als ob Kal Brahmen auf die falschen Leibwächter gesetzt hat. Barke, informiert meine Bediensteten, sie sollen den Männern eine Unterkunft im Gasthaus ‚Zur schwarzen Katze’ beschaffen. Wir werden die Einzelheiten dieser Tragödie morgen in aller Ruhe, zusammen mit all meinen Beratern, besprechen. Heute habe ich nicht mehr die Kraft hierfür. Informiert zudem Klupingen und Kayuburgh, sowie den Handelsherren Tai Fisi aus Yaznark, dass die Eingangswächter aller Zugänge in die Zweitwelt verdoppelt werden sollen. Ab sofort werden keine Händler mehr hineingelassen.“
Black wandte sich ab und verlies die Halle schlurfenden Schrittes, das Haupt gesenkt, die Arme lose am Körper baumelnd. Blues Blicke wanderten ihm besorgt hinterher.
Nach der Überbringung der Nachricht durch Tenth Barke, war sein Blutdruck für einen kurzen Augenblick derart gestiegen, dass er beinahe wieder seine alte Aura ausgestrahlt hätte, doch schon kurz darauf verwandelte sich der winzige Keimling des Zornes in ihm in blanke Enttäuschung. Seine körperliche Erschöpfung ließ ihn wieder zu dem Schatten seiner Selbst zusammenschrumpeln, der er nun eben noch war.
Weswegen auch immer er diese Torheit begangen hatte, Elisus Hofken, nur von einem Händler und dessen Söldnern begleitet, in die Zweitwelt zu schicken, was auch immer er sich davon erhoffte, war soeben vor seinen Augen zerschlagen worden.
Und dieser Junge mit den leeren blauen Augen hatte diese Männer begleitet? Welcher Vater würde seinen Sohn einer solchen Gefahr aussetzen? Nun hatte er seinen alten Herren verloren.
Der blasse Mann mit dem Namen Bauwer unterhielt sich leise mit dem anderen Söldner. Blue konnte ihre Worte nicht verstehen. Die beiden Fuhrmänner hingegen wirkten, als gehören sie nicht dazu. Während der alte Mann wortlos vor sich hindöste, blickte der teigige Hässliche beinahe beunruhigt durch die Gegend und schwitzte dabei heftig.
Einzig der kleine Junge stand nun etwas abseits der Truppe, den Blick unentwegt zu Boden gerichtet. Die Traurigkeit, die er dabei ausstrahlte, trieb Blue ein Frösteln über den ganzen Körper, welches zu einer Gänsehaut führte. Niemand der Männer schien ihn so recht zu beachten.
„Sira“, rief sie nach der jungen, blondschöpfigen Bediensteten mit der weißen, mit winzigen Sommersprossen gesprenkelten Haut, die sich gerade zusammen mit einer weiteren Frau, namens Martyka und einem alten Kämmerer namens Buteghor, in Sichtweite befanden. Das Mädchen kam sofort herbeigeeilt. Sie verdeckte ihre schiefen Zähne, die sich bei ihrem Lächeln zeigten, mit der rechten Hand und erkundigte sich nach Blues Wunsch.
„Richtet bitte das ehemalige Zimmer meines Kindermädchens wieder her, sodass es umgehend bezogen werden kann“, antwortete diese.
„Sehr gerne, meine Dame. Für wen darf ich es herrichten, wenn ich fragen darf?“ – „Für Dieke Brahmen“, gab Blue umgehend zurück und der kleine Junge, der gerade im Begriff war Buteghor, und Martyka zu folgen, die die restlichen Männer in das noble Gasthaus ‚Zur schwarzen Katze’ zu führen gedachten, hielt wie versteinert inne.
Dieke Brahmen sprach kein einziges Wort. Er hatte das ehemalige Bedienstetenzimmer Helas bezogen, das sie einst zusammen mit ihrem Mann Ruker bewohnte. Es war spärlich und rustikal eingerichtet und besaß nur ein kleines, rundes Fenster, durch das ein wenig Licht in den Raum fiel. Dadurch wirkte das Zimmer zwar etwas düster, doch das mittlerweile knisternde Feuer im Kamin, strahlte neben Wärme auch Gemütlichkeit aus. Der Junge hatte sich unter mehreren Wolldecken in dem knarrenden Holzbett mit der weichen, wenn auch etwas durchgelegenen, mit Rosshaar befüllten, Matratze verkrochen. Neben einer kleinen Kommode, die sich an der Wand gegenüber dem Bettende befand, stand ein leicht beschlagener Spiegel. Der große hölzerne Schrank daneben hätte Platz für seine Kleider geboten, doch war er nur mit dem, was er am Leibe trug, im Palast von Venuris angekommen.
Sira hatte ihm die schmutzigen und müffelnden Klamotten zur Reinigung abgenommen und ihm neue Kleidung gebracht, die ihm allerdings etwas zu groß war und deshalb um seine Arme und Beine schlackerte. Das ihm angebotene Bad hatte er nur widerwillig angenommen. Das Wasser, welches Sira danach ausschüttete, war beinahe so schwarz wie die Nacht gewesen.
Saebyl hatte ihm ein großes Tablett mit warmer Milch, Obst und Gemüse, sowie mehreren Kanten Brot mit Wurst und Käse, welche von Blues Frühstück übrig geblieben waren, auf das Zimmer bringen lassen. Zwar hatte er die Milch bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken, doch das Essen ließ er unberührt.
„Man sollte ihn erst einmal in Ruhe lassen“, hatte Martyka Blue geraten, als sie gerade Diekes frisch gewaschene Klamotten im Freien zum Trocknen aufhängte. Martyka war bereits jenseits der Fünfzig und hatte durch ihr breites Becken die Form einer menschlichen Birne. Sie selbst war mit acht Kindern gesegnet. Vier Jungen und vier Mädchen. Ihr Mann war bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen, als sie gerade mit ihrem jüngsten Sohn niedergekommen war. Wenn also jemand wusste, wie sich Kinder fühlten, die gerade ein Elternteil verloren hatten, dann sie. Wenn Martyka sagte, der Junge brauche Ruhe, dann würde Blue nicht im Traum einfallen ihre Worte anzuzweifeln.
Die Stimmung im Palast war bedrückend. Schwermut lag in der Luft. Ihr Vater hatte sich seit der Nachricht von Hofkens Tod auf sein Schlafgemach zurückgezogen und um absolute Ruhe gebeten. Blue musste ständig an ihr Gespräch im Ratssaal denken, als er ihr offenbarte, wie schlecht es um ihn bestellt war und wie verzweifelt er nach einer Lösung suchte, die seine Alpträume beenden würden.