Die dritte Ebene
Jeder Blick in den Spiegel quält mich, ruft er mir doch nur allzu deutlich in Erinnerung zurück, daß nichts von dem Einbildung war, was ich vor kurzem erblickt habe.
Der deutlichste Beweis sind die schlohweissen Haare, mit denen mein Spiegelbild mich ansieht. Vor wenigen Tagen noch waren sie dunkelbraun, aber der namenlose Schrecken, dem ich in den finsteren Gängen von London's Unterwelten in's Antlitz sah, nahm ihnen die Farbe.
Fast möchte ich lachen über die Zeitungsberichte der letzten Tage, die sich den offiziellen Angaben über eine Explosion in einem verlassenen U-Bahnschacht anschliessen, bei der zwei Mitarbeiter getötet und der ein dritter, nämlich ich, gerade noch entgangen war. Aber ich weiß, was dort unten wirklich geschehen ist und jede Nacht bringt mir den Schrecken erneut zurück.
Allerdings gab es dort unten eine Explosion, doch war es nicht wie geschrieben eine Gasverpuffung, ausgelöst durch die Unachtsamkeit meiner Kollegen. Denn zu dem Zeitpunkt als mich die Gewalt der Druckwelle in gnädige Ohnmacht versinken ließ, waren sie bereits tot oder befanden sich jedenfalls in einem Zustand, dem der Tod vorzuziehen ist.
Ich selbst war es vielmehr, der in tiefster Verzweiflung diese Explosion auslöste und ich hoffe, auf ewig das vernichtet oder wenigstens begraben zu haben, was mir dort unten in den finsteren Kammern der Erde begegnete.
Doch befürchte ich in meinem Innersten, in den Träumen, die mich seitdem jede Nacht heimsuchen, daß die Kraft eines einzelnen Menschen gänzlich unzulänglich ist für das, was die dunklen Schächte so lange verborgen haben und vielleicht immer noch verbergen...
Es war im späten Oktober eines für Londoner Verhältnisse typisch grauen und nassen Tages, als ich wie jeden Morgen meinen Dienst als Gleiswächter der U-Bahn antrat. Neben mir bestand das Team, dem die Kontrolle der Gleise zwischen Notting Hill Gate und Chancery Lane im Osten oblag, aus unserem Vormann Henry Warrington und Mahsoud Lachal, einem jungen Mann, dessen Familie ursprünglich aus den britischen Kolonien in Afrika stammte.
Henry war ein untersetzter Mann mit eisgrauen, raspelkurzen Haaren, der kurz vor seiner Pensionierung stand. Er war es, der mich in die geheimnisvolle unterirdische Welt der Bahnschächte eingeführt hatte.
Und genauso gab ich dieses Wissen jetzt an Mahsud weiter, der sich als überaus lernbegierig erwiesen hatte. Darüber hinaus war Mahsoud fast immer gut gelaunt, was ich mittlerweile sehr zu schätzen wußte, da Henrys bevorstehende Pensionierung dazu geführt hatte daß er begonnen hatte, sich immer mehr in ein Schneckenhaus zurückzuziehen, was unsere Arbeit in der sinistren Einsamkeit der Bahnschächte nicht unbedingt angenehmer machte. Dieses einsiedlerische Gehabe, daß ihm noch vor einem Jahr völlig fremd gewesen war, hatte mittlerweile dazu geführt, daß wir morgens in unserer Dienstbaracke bestenfalls noch einen gemeinsamen Kaffee tranken und dabei die zu kontrollierenden Streckenabschnitte besprachen.
Meistens erhob sich Henry dann schweigsam und brach alleine auf, um eine der Strecken abzulaufen, während Mahsoud und ich noch für einige Minuten zusammensassen.
Auch heute traf ich nur noch den Jungen im Büro an - Henry war bereits auf der Strecke unterwegs. Dieses Mal versprach der Kontrollgang ungewöhnlich interessant zu werden, da er einen Teil des Schienennetzes einschloss, der zu den ältesten zählte und nur noch teilweise in Betrieb stand. Aber die Vorschriften verlangten, daß auch diejenigen Abschnitte von Zeit zu Zeit abgegangen werden mußten, auf denen der Betrieb ruhte.
Der Eintrag des letzten Kontrollganges stammte von einem Mann namens C.S.Bradley und erregte meine Aufmerksamkeit: Als Datum der letzten Inspektion war der 18. März 1892 eingetragen.
War das möglich?