Bei den Lanzenreitern ging es nicht zimperlich zu. Immer wieder stießen sich die Reiter unter dem schadenfrohen Gelächter der Zuschauer vom Pferd und versuchten anschließend, wieder aufzusitzen, was in voller Montur nicht leicht war und noch mehr Heiterkeit erzeugte; manchem gelang es erst beim dritten Anlauf. In ihren Rüstungen, kochend vor Hitze und mit Schweiß in der Nackengrube, glichen sie blechgefiederten Hennen, die verzweifelz versuchten, das Fliegen lernen.
Taifan, im Gegensatz zu Kevin, der sich köstlich amüsierte, schien nicht so recht Gefallen an dem Spiel zu finden, was Ursula nicht entging. „Wo bist du gerade?“, fragte sie.
„Ich bin immer noch bei dem dicken Mönch und seiner blutbeschmierten Lanzenspitze. Glaubt der Mann wirklich, was er da erzählt?“
„Tja, das ist schwer zu sagen... Fakt ist: Die Splitter vom Kreuz des Herrn können unmöglich alle echt sein, denn bei der Vielzahl der Splitter, die es inzwischen in der Christenheit gibt, hätte es einen Wald von Kreuzen geben müssen... Und das mit der Lanzenspitze... Wer kann beweisen, dass sie nicht die Spitze ist, die auf der besagten Lanze saß? Und wer will das überhaupt beweisen?“
„Aber dann ist das doch auch schon wieder Mummenschanz!“, rief Kevin, der mitgehört hatte.
Gerade fiel wieder einer der 'Ritter' vom Pferd; wegen des anhaltenden Gelächters musste Ursula mit der Antwort warten.
„Es ist kein Mummenschanz!“, rief sie ärgerlich, „es ist eine besondere Form der Wahrheit! Es ist erfundene Wahrheit! Im Kloster Lüne gibt es eine ganze Abteilung, die sich nur mit der Herstellung von falschen Dokumenten beschäftigt. Meist geht es um nachträgliche Schenkungsurkunden, Erbschaftsangelegenheit, Stadtgründungen oder Hafengeburtstage. Die Auftraggeber wissen, dass das, was sie da in Auftrag geben, nicht stimmt, dass es erfundene Wahrheit ist. Wichtig ist, dass die Dokumente gewichtig aussehen und Ehrfurcht erwecken. Vor einiger Zeit ging ein Dokument raus mit dem Gründungstag des Hamburger Hafens. Natürlich weiß niemand, wann der erste Spatenstich erfolgte, woher auch, denn so ein Hafen entsteht nicht über Nacht. Trotzdem steht ein bestimmtes Datum in der Urkunde! Ich bin keine Hellseherin, aber ich denke, dass die Hamburger ihren Hafengeburtstag auch in fünfhundert Jahren genau an diesem Datum feiern werden, obwohl sie wissen, dass es nicht stimmt. Es ist ein einträgliches Geschäft, genauso wie der Ablasshandel. Warum auch nicht? Mit dem Geld werden Leprastationen und Waisenhäuser für Findelkinder finanziert. Die Leute glauben daran, oder auch nicht, was soll´s... Und manchmal hilft so eine Reliquie tatsächlich.“ Ursula nestelte an ihrer Halskrause herum und zog ein kleines Amulett hervor. „Schau, Kevin, in diesem Amulett befindet sich ein winziger Fetzen Leinwand vom Leichentuch Jesu. Ob er echt ist oder nicht, wer weiß? Fakt ist jedenfalls, bisher bin ich von den Blattern verschont geblieben – ein kleines Wunder.“
Kevin trat dicht an die junge Frau heran und sah ihr in die Augen. „Ursula“, sagte er, „wer bist du? Manchmal redest du wie eine, die in ein zukünftiges Jahrhundert gehört, und dann glaubst du wieder an die Heilkraft von Stoffresten.“
„Warum willst du das wissen?“
„Weil ich wissen will, woran ich bei dir bin!“
„Na gut! Ich bin die Tochter des ehrenwerten Stadtnarren Joachim Schreyvogel.“
„Das sagtest du schon! Aber wer bist du wirklich?“
Ursula lachte. „Eine Narrentochter!“ Sie berührte Kevin freundschaftlich am Arm. „Lass es gut sein, mein Freund. Frage nicht, nutze die Gunst der Stunde! Was du hier erlebst, wird nicht jedem Mittelalter-Fan geboten!“
„Wer war der Mann da eben hinter mir?“
„Der Stadtrat Viskule. Einer der reichsten Lüneburger. Der kann sich jede Reliquie leisten.“
*
Eine Bewegung geht durch die Menge, ein Schrei, dann noch einer: „Der Bär ist los! Der Bär ist los!“
„Welcher Bär?“
„Der von der Bärenhatz! Den sie an einen Baum gebunden haben! Hat sich losgerissen, das Vieh!“
Eine Wand aus schreienden, flüchtenden Menschen kommt auf sie zu, darüber schwebt, mit weit aufgerissenen Rachen und blutunterlaufenen Augen, der Kopf des Bären. In die Schreie mischt sich wütendes Hundegekläff und aufgeregtes Wiehern. Ein Lanzenreiter stürmt in wildem Ritt direkt auf Taifan zu, sie schreit auf; plötzlich stoppt das Pferd, richtet sich hoch auf; der Reiter kippt ab und kollert kopfüber und scheppernd hart vor ihr in den Sand, der herrenlose Gaul stiebt schnaubend davon.
„Ruhe bewahren!“, ruft Ursula, „euch passiert nichts! Ich sage meinem Vater Bescheid!“ Und weg ist sie.
Die Menge strebt offensichtlich verschiedenen Stadttoren zu. Ein Teil läuft nach rechts, auf die Buden zu, ein anderer quer über den Platz. Kinder und Alte stürzen und werden in den Grund gestampft. Die Suppenküche fällt, die Grapen* ergießen ihren kostbaren Inhalt auf den Boden. Ein ausgemergelter Kerl geht in die Knie, um die Suppenreste aufzuschlürfen; ein Tritt in den Rücken wirft ihn mit dem Gesicht in die kochendheiße Brühe. Jemand wird auf einen Bratrost gestoßen und schreit wie wild auf, der dicke Mönch, in waghalsiger Verkennung der Gefahr, versucht mit erhobenem Kreuz, den Mob aufzuhalten; er wird überrannt, Glas splittert, das Zelt sackt zusammen, übrig bleibt ein lebloserer Körper in einem Haufen Müll. Vom Novizen ist nichts zu sehen; anscheinend hat er sich beizeiten in Sicherheit gebracht.
Schon rennt ein Läufer der Stadtwache los, um Verstärkung zu holen.
Der Bär, von der Hundemeute gehetzt, läuft genau auf die Gruppe zu, die quer über den Platz rennt. Einer der Lanzenreiter versucht, ihn mit seiner Stange abzudrängen. Doch das gewaltige Tier holt aus und versetzt dem Pferd einen schweren Prankenschlag auf den Hals; es geht nieder und begräbt den Reiter unter sich. Mit einem weiteren, wütenden Hieb katapultiert der Bär einen Hund, der sich in seiner Flanke verbissen hat, in hohem Bogen durch die Luft; der Hund bleibt, ein Stück Bärenfell zwischen den Zähnen, zuckend liegen.
Inzwischen hat der Bär die Gruppe der kopflos fliehenden erreicht, und es kommt zu weiteren, entsetzlichen Szenen. Ein Mann rennt herbei – offenbar der Besitzer des Bären – und hält ihm, um ihn von der Menge wegzulocken, einen blutigen Fleischbrocken vor. Tatsächlich wendet sich der Bär ihm zu, er bleibt stehen – fast sieht es so aus, als wolle er ihm folgen – da macht das Tier eine schnelle Körperdrehung und schlägt dem Mann die Tatze mit aller Kraft ins Gesicht.
Die Hunde, blind und rasend in archaischer Kampfeslust, greifen jetzt nicht nur die Beine des Bären, sondern auch die der Pferde und sogar der Menschen an – kurz, alles was sich bewegt. Schreie, aus Schmerz und Wut gemischt, gellen über den Platz, Schreie, als rasten Wölfe darin. Ein Lanzenreiter versucht verzweifelt, einen dieser Beißer mit seiner Lanze zu vertreiben. Doch eine zu heftige Bewegung wirft ihn vom Pferd, einem behäbigen Gaul mit behaarten Hufen. Was Minuten zuvor noch schadenfrohes Gelächter ausgelöst hätte – die Leute stürmen achtlos an dem Haufen Blech vorbei, in dem ein Mann um Hilfe schreit.
Einige beherzte Burschen sind zu den niedergetrampelten Buden gerannt, haben sich mit herausgerissenen Stangen und Pfosten bewaffnet und dreschen jetzt auf die Hunde ein, die an den Beinen der Menschen und Pferde hängen. An den Bären wagen sie sich nicht heran. Denn eben, als er sich aufrichtete, um seinem 'Herrn' den fälligen Lohn für die Quälereien zu zahlen, die er ihm hat zukommen lassen, haben sie eingesehen, dass dieser riesigen Bestie mit einfachen Mitteln nicht beizukommen ist, und Flinten haben nur die Soldaten des Herzogs. Als drei oder vier Hunde mit zerschmettertem Rückgrat zuckend am Boden liegen, ziehen sie sich zurück. Die anderen Mitglieder der Hundemeute hat entweder der Bär erledigt, oder sie haben Reißaus genommen.
Der Stadtnarr Schreyvogel im bunten Kleid erscheint auf der Stadtmauer und ruft und winkt. „Ho-he-ho“, schallt es herüber,
„Hatz Fratz Katz
komm her zu mir mein Schatz
ich streichle deine Tatz´
du streichelst meine Glatz!“
Jetzt geschieht etwas Merkwürdiges: Der Bär, eben noch in rasender Wut Prankenhiebe austeilend, wird auf einmal ruhig. Er bleibt stehen, wittert sorgfältig und mit bebenden Nüstern.
Wieder schreit der Narr und fuchtelt wild mit den Armen:
„Hatz Fratz Katz
komm her zu mir mein Schatz
ich streichle deine Tatz´
du streichelst meine Glatz!“
Der Bär wendet sich nach dem Rufer um und trottet langsam auf ihn zu. An verschiedenen Stellen hängt sein Fell in Fetzen, auch blutet er aus dem Maul und etlichen klaffenden Wunden. Obwohl für den Narren keine Gefahr besteht, denn die Stadtmauer ist hoch, halten die Geschwister den Atem an. Denn noch im Elend ist solch ein Tier ein unberechenbarer Riese. Mit einem knurrigen Brummen und anscheinend zu Tode erschöpft setzt er sich auf die Hinterbeine und blickt zu dem Menschen hoch. Jetzt sieht es so aus, als rede der Narr leise auf ihn ein. Nun fällt des Bären mächtiger Kopf auf die Brust, dann kippt er um und rührt sich nicht mehr.
Bevor die Geschwister ein Wort wechseln können, wird ihre Aufmerksamkeit schon wieder auf die Probe gestellt: Von der Stadtseite her nähert sich ein johlender Haufen, berittene Stadtdiener und Fußvolk, mit Knüppeln und langen Stangen bewaffnet. Indem sie dem Bären näher kommen, wird das Gejohle leiser, so wie anscheinend ihr Mut auch leiser wird, und erstirbt bald ganz. Schnell ist ein Fischernetz, wie man es zum Stintfang in der Elbe benutzt, ausgebreitet und über den Kadaver geworfen. Und obwohl jemand schreit: „Dä is daut!“, beginnt jetzt ein Spektakel, das in seiner Abscheulichkeit seinesgleichen sucht: Die Männer beginnen, mit den Knüppeln wild auf den toten Bären einzuschlagen, und die mit den Stangen stechen ihn ins Fell. Auf ihren Gesichtern liegt der Hass der Zukurzgekommenen auf alles, was größer, stärker, mächtiger, schöner ist als sie. Als sie aufhören, ist von dem herrlichen Geschöpf nur noch ein blutiger Klumpen Fell übrig. Sie werfen das Netz darum; es wird an ein Pferd gebunden und weggeschleift.
Schreyvogel ist verschwunden, aber Ursula ist wieder da.
Taifan hat sich heulend an die Brust ihres Bruders geworfen. „Ich will weg von hier“, schluchzt sie, „weg weg, nur weg! Das ist ja nicht zum Aushalten!“ Sie blickt die Tochter des Stadtnarren entsetzt an. „Ursula, wie hältst du das Leben hier auf die Dauer aus?“
„Ich versteh dich nicht! Ihr wolltet doch echtes Mittelalter erleben! Da habt ihr es! Und sag nicht, ich hätte euch nicht gewarnt! Na gut, das mit dem Bären war nicht vorauszusehen, aber was ist im Leben schon vorauszusehen... Schön, gehern wir zum Rathaus zurück.“
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* eiserne Kochtöpfe
Forts. folgt