Der Blaue Turm

Es gibt 46 Antworten in diesem Thema, welches 8.742 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (14. Juni 2020 um 21:47) ist von McFee.

  • Bei den Lanzenreitern ging es nicht zimperlich zu. Immer wieder stießen sich die Reiter unter dem schadenfrohen Gelächter der Zuschauer vom Pferd und versuchten anschließend, wieder aufzusitzen, was in voller Montur nicht leicht war und noch mehr Heiterkeit erzeugte; manchem gelang es erst beim dritten Anlauf. In ihren Rüstungen, kochend vor Hitze und mit Schweiß in der Nackengrube, glichen sie blechgefiederten Hennen, die verzweifelz versuchten, das Fliegen lernen.

    Taifan, im Gegensatz zu Kevin, der sich köstlich amüsierte, schien nicht so recht Gefallen an dem Spiel zu finden, was Ursula nicht entging. „Wo bist du gerade?“, fragte sie.

    „Ich bin immer noch bei dem dicken Mönch und seiner blutbeschmierten Lanzenspitze. Glaubt der Mann wirklich, was er da erzählt?“

    „Tja, das ist schwer zu sagen... Fakt ist: Die Splitter vom Kreuz des Herrn können unmöglich alle echt sein, denn bei der Vielzahl der Splitter, die es inzwischen in der Christenheit gibt, hätte es einen Wald von Kreuzen geben müssen... Und das mit der Lanzenspitze... Wer kann beweisen, dass sie nicht die Spitze ist, die auf der besagten Lanze saß? Und wer will das überhaupt beweisen?“

    „Aber dann ist das doch auch schon wieder Mummenschanz!“, rief Kevin, der mitgehört hatte.

    Gerade fiel wieder einer der 'Ritter' vom Pferd; wegen des anhaltenden Gelächters musste Ursula mit der Antwort warten.

    „Es ist kein Mummenschanz!“, rief sie ärgerlich, „es ist eine besondere Form der Wahrheit! Es ist erfundene Wahrheit! Im Kloster Lüne gibt es eine ganze Abteilung, die sich nur mit der Herstellung von falschen Dokumenten beschäftigt. Meist geht es um nachträgliche Schenkungsurkunden, Erbschaftsangelegenheit, Stadtgründungen oder Hafengeburtstage. Die Auftraggeber wissen, dass das, was sie da in Auftrag geben, nicht stimmt, dass es erfundene Wahrheit ist. Wichtig ist, dass die Dokumente gewichtig aussehen und Ehrfurcht erwecken. Vor einiger Zeit ging ein Dokument raus mit dem Gründungstag des Hamburger Hafens. Natürlich weiß niemand, wann der erste Spatenstich erfolgte, woher auch, denn so ein Hafen entsteht nicht über Nacht. Trotzdem steht ein bestimmtes Datum in der Urkunde! Ich bin keine Hellseherin, aber ich denke, dass die Hamburger ihren Hafengeburtstag auch in fünfhundert Jahren genau an diesem Datum feiern werden, obwohl sie wissen, dass es nicht stimmt. Es ist ein einträgliches Geschäft, genauso wie der Ablasshandel. Warum auch nicht? Mit dem Geld werden Leprastationen und Waisenhäuser für Findelkinder finanziert. Die Leute glauben daran, oder auch nicht, was soll´s... Und manchmal hilft so eine Reliquie tatsächlich.“ Ursula nestelte an ihrer Halskrause herum und zog ein kleines Amulett hervor. „Schau, Kevin, in diesem Amulett befindet sich ein winziger Fetzen Leinwand vom Leichentuch Jesu. Ob er echt ist oder nicht, wer weiß? Fakt ist jedenfalls, bisher bin ich von den Blattern verschont geblieben – ein kleines Wunder.“

    Kevin trat dicht an die junge Frau heran und sah ihr in die Augen. „Ursula“, sagte er, „wer bist du? Manchmal redest du wie eine, die in ein zukünftiges Jahrhundert gehört, und dann glaubst du wieder an die Heilkraft von Stoffresten.“

    „Warum willst du das wissen?“

    „Weil ich wissen will, woran ich bei dir bin!“

    „Na gut! Ich bin die Tochter des ehrenwerten Stadtnarren Joachim Schreyvogel.“

    „Das sagtest du schon! Aber wer bist du wirklich?“

    Ursula lachte. „Eine Narrentochter!“ Sie berührte Kevin freundschaftlich am Arm. „Lass es gut sein, mein Freund. Frage nicht, nutze die Gunst der Stunde! Was du hier erlebst, wird nicht jedem Mittelalter-Fan geboten!“

    „Wer war der Mann da eben hinter mir?“

    „Der Stadtrat Viskule. Einer der reichsten Lüneburger. Der kann sich jede Reliquie leisten.“

    *

    Eine Bewegung geht durch die Menge, ein Schrei, dann noch einer: „Der Bär ist los! Der Bär ist los!“

    „Welcher Bär?“

    „Der von der Bärenhatz! Den sie an einen Baum gebunden haben! Hat sich losgerissen, das Vieh!“

    Eine Wand aus schreienden, flüchtenden Menschen kommt auf sie zu, darüber schwebt, mit weit aufgerissenen Rachen und blutunterlaufenen Augen, der Kopf des Bären. In die Schreie mischt sich wütendes Hundegekläff und aufgeregtes Wiehern. Ein Lanzenreiter stürmt in wildem Ritt direkt auf Taifan zu, sie schreit auf; plötzlich stoppt das Pferd, richtet sich hoch auf; der Reiter kippt ab und kollert kopfüber und scheppernd hart vor ihr in den Sand, der herrenlose Gaul stiebt schnaubend davon.

    „Ruhe bewahren!“, ruft Ursula, „euch passiert nichts! Ich sage meinem Vater Bescheid!“ Und weg ist sie.

    Die Menge strebt offensichtlich verschiedenen Stadttoren zu. Ein Teil läuft nach rechts, auf die Buden zu, ein anderer quer über den Platz. Kinder und Alte stürzen und werden in den Grund gestampft. Die Suppenküche fällt, die Grapen* ergießen ihren kostbaren Inhalt auf den Boden. Ein ausgemergelter Kerl geht in die Knie, um die Suppenreste aufzuschlürfen; ein Tritt in den Rücken wirft ihn mit dem Gesicht in die kochendheiße Brühe. Jemand wird auf einen Bratrost gestoßen und schreit wie wild auf, der dicke Mönch, in waghalsiger Verkennung der Gefahr, versucht mit erhobenem Kreuz, den Mob aufzuhalten; er wird überrannt, Glas splittert, das Zelt sackt zusammen, übrig bleibt ein lebloserer Körper in einem Haufen Müll. Vom Novizen ist nichts zu sehen; anscheinend hat er sich beizeiten in Sicherheit gebracht.

    Schon rennt ein Läufer der Stadtwache los, um Verstärkung zu holen.

    Der Bär, von der Hundemeute gehetzt, läuft genau auf die Gruppe zu, die quer über den Platz rennt. Einer der Lanzenreiter versucht, ihn mit seiner Stange abzudrängen. Doch das gewaltige Tier holt aus und versetzt dem Pferd einen schweren Prankenschlag auf den Hals; es geht nieder und begräbt den Reiter unter sich. Mit einem weiteren, wütenden Hieb katapultiert der Bär einen Hund, der sich in seiner Flanke verbissen hat, in hohem Bogen durch die Luft; der Hund bleibt, ein Stück Bärenfell zwischen den Zähnen, zuckend liegen.

    Inzwischen hat der Bär die Gruppe der kopflos fliehenden erreicht, und es kommt zu weiteren, entsetzlichen Szenen. Ein Mann rennt herbei – offenbar der Besitzer des Bären – und hält ihm, um ihn von der Menge wegzulocken, einen blutigen Fleischbrocken vor. Tatsächlich wendet sich der Bär ihm zu, er bleibt stehen – fast sieht es so aus, als wolle er ihm folgen – da macht das Tier eine schnelle Körperdrehung und schlägt dem Mann die Tatze mit aller Kraft ins Gesicht.

    Die Hunde, blind und rasend in archaischer Kampfeslust, greifen jetzt nicht nur die Beine des Bären, sondern auch die der Pferde und sogar der Menschen an – kurz, alles was sich bewegt. Schreie, aus Schmerz und Wut gemischt, gellen über den Platz, Schreie, als rasten Wölfe darin. Ein Lanzenreiter versucht verzweifelt, einen dieser Beißer mit seiner Lanze zu vertreiben. Doch eine zu heftige Bewegung wirft ihn vom Pferd, einem behäbigen Gaul mit behaarten Hufen. Was Minuten zuvor noch schadenfrohes Gelächter ausgelöst hätte – die Leute stürmen achtlos an dem Haufen Blech vorbei, in dem ein Mann um Hilfe schreit.

    Einige beherzte Burschen sind zu den niedergetrampelten Buden gerannt, haben sich mit herausgerissenen Stangen und Pfosten bewaffnet und dreschen jetzt auf die Hunde ein, die an den Beinen der Menschen und Pferde hängen. An den Bären wagen sie sich nicht heran. Denn eben, als er sich aufrichtete, um seinem 'Herrn' den fälligen Lohn für die Quälereien zu zahlen, die er ihm hat zukommen lassen, haben sie eingesehen, dass dieser riesigen Bestie mit einfachen Mitteln nicht beizukommen ist, und Flinten haben nur die Soldaten des Herzogs. Als drei oder vier Hunde mit zerschmettertem Rückgrat zuckend am Boden liegen, ziehen sie sich zurück. Die anderen Mitglieder der Hundemeute hat entweder der Bär erledigt, oder sie haben Reißaus genommen.

    Der Stadtnarr Schreyvogel im bunten Kleid erscheint auf der Stadtmauer und ruft und winkt. „Ho-he-ho“, schallt es herüber,

    „Hatz Fratz Katz

    komm her zu mir mein Schatz

    ich streichle deine Tatz´

    du streichelst meine Glatz!“

    Jetzt geschieht etwas Merkwürdiges: Der Bär, eben noch in rasender Wut Prankenhiebe austeilend, wird auf einmal ruhig. Er bleibt stehen, wittert sorgfältig und mit bebenden Nüstern.

    Wieder schreit der Narr und fuchtelt wild mit den Armen:

    „Hatz Fratz Katz

    komm her zu mir mein Schatz

    ich streichle deine Tatz´

    du streichelst meine Glatz!“

    Der Bär wendet sich nach dem Rufer um und trottet langsam auf ihn zu. An verschiedenen Stellen hängt sein Fell in Fetzen, auch blutet er aus dem Maul und etlichen klaffenden Wunden. Obwohl für den Narren keine Gefahr besteht, denn die Stadtmauer ist hoch, halten die Geschwister den Atem an. Denn noch im Elend ist solch ein Tier ein unberechenbarer Riese. Mit einem knurrigen Brummen und anscheinend zu Tode erschöpft setzt er sich auf die Hinterbeine und blickt zu dem Menschen hoch. Jetzt sieht es so aus, als rede der Narr leise auf ihn ein. Nun fällt des Bären mächtiger Kopf auf die Brust, dann kippt er um und rührt sich nicht mehr.

    Bevor die Geschwister ein Wort wechseln können, wird ihre Aufmerksamkeit schon wieder auf die Probe gestellt: Von der Stadtseite her nähert sich ein johlender Haufen, berittene Stadtdiener und Fußvolk, mit Knüppeln und langen Stangen bewaffnet. Indem sie dem Bären näher kommen, wird das Gejohle leiser, so wie anscheinend ihr Mut auch leiser wird, und erstirbt bald ganz. Schnell ist ein Fischernetz, wie man es zum Stintfang in der Elbe benutzt, ausgebreitet und über den Kadaver geworfen. Und obwohl jemand schreit: „Dä is daut!“, beginnt jetzt ein Spektakel, das in seiner Abscheulichkeit seinesgleichen sucht: Die Männer beginnen, mit den Knüppeln wild auf den toten Bären einzuschlagen, und die mit den Stangen stechen ihn ins Fell. Auf ihren Gesichtern liegt der Hass der Zukurzgekommenen auf alles, was größer, stärker, mächtiger, schöner ist als sie. Als sie aufhören, ist von dem herrlichen Geschöpf nur noch ein blutiger Klumpen Fell übrig. Sie werfen das Netz darum; es wird an ein Pferd gebunden und weggeschleift.

    Schreyvogel ist verschwunden, aber Ursula ist wieder da.

    Taifan hat sich heulend an die Brust ihres Bruders geworfen. „Ich will weg von hier“, schluchzt sie, „weg weg, nur weg! Das ist ja nicht zum Aushalten!“ Sie blickt die Tochter des Stadtnarren entsetzt an. „Ursula, wie hältst du das Leben hier auf die Dauer aus?“

    „Ich versteh dich nicht! Ihr wolltet doch echtes Mittelalter erleben! Da habt ihr es! Und sag nicht, ich hätte euch nicht gewarnt! Na gut, das mit dem Bären war nicht vorauszusehen, aber was ist im Leben schon vorauszusehen... Schön, gehern wir zum Rathaus zurück.“

    ______________

    * eiserne Kochtöpfe

    Forts. folgt

    Einmal editiert, zuletzt von McFee (13. Juni 2020 um 20:07)

  • Heyho McFee

    Zwei Schreibfehler habe ich hier gefunden. Aber die zu finden überlasse ich einfach mal Dir...hihihi!

    Viel geiler zu lesen:

    Ein ausgemergelter Kerl geht in die Knie, um die Suppenreste aufzuschlürfen; ein Tritt in den Rücken wirft ihn mit dem Gesicht in die kochendheiße Brühe. Jemand wird auf einen Bratrost gestoßen und schreit wie wild auf, der dicke Mönch, in waghalsiger Verkennung der Gefahr, versucht mit erhobenem Kreuz, den Mob aufzuhalten; er wird überrannt, Glas splittert, das Zelt sackt zusammen, übrig bleibt ein lebloserer Körper und ein Haufen Müll. Vom Novizen ist nichts zu sehen; anscheinend hat er sich beizeiten in Sicherheit gebracht.

    Ich war beim Lesen SO dicht dran am Geschehen das glaubst Du nicht.:nummer1::nummer1::nummer1:

    Werde ich mir auf jeden Fall merken: Das Semikolon ist ein völlig unterbewertetes Satzzeichen! Und die Gegenwartsform läßt teilhaben zu.

    Großes Kino. Ganz großes Kino. Danke.:thumbup::thumbup::thumbup:

  • Hallo McFee ,

    mir sind auch ein paar Kleinigkeiten aufgefallen. Komischerweise kann ich das erste - da hast du verzweifelz statt verzweifelt geschrieben, relativ weit oben - nicht hier unten einfügen. Aber ne einfache Suchabfrage regelt das sicher.

    Im Großen und Ganzen ein Kapitel, das sicher jedem Veganer eine eisige Gänsehaut über den Rücken laufen lässt! Sehr atmosphärisch. Und gruselig.

    Bei den beiden Sachen hier würde ich aus den Verben die Pluralform machen:

    In die Schreie mischt sich wütendes Hundegekläff und aufgeregtes Wiehern

    übrig bleibt ein lebloserer Körper und ein Haufen Müll

    LG

    Stadtnymphe

    Was ich schreibe: Eden

  • Hay Der Wandere und hey Stadtnymphe,

    ich antworte erst jetzt, nicht aus Faulheit, sondern weil ich eine Weile off-line war. Zunächst vielen Dank für eure Anteilnahme. Ja, das falsche z... Der Dichter Horaz meinte einmal, man solle ein Werk erst dann veröffentlichen, wenn es zehn Jahre gelegen hat. Diese Zeit habe ich nicht, dafür habe ich es mindestens 10mal gelesen. Es ist eine Teufelei...

    ...mischt sich... Hier schwebte mir vor, dass die Leute beides zugleich hören, nicht nacheinander

    ...übrig bleibt... dieser Satz ist so auch unter semantischen Kniefällen nicht zu retten. Ich werde ihn verbessern.

    Es folgt der Schluss der Geschichte.

    LG. McFee

    12

    Doch allmählich gewann Taifan die Fassung wieder. „Einen tollen Vater, hast du, Ursula“, sagte sie, „er hat den Bären ja regelrecht verhext.“

    „Naja, Hexerei war´s nicht gerade... Papa hat ihn abgelenkt und beruhigt. Außerdem war der Bär ja schon so gut wie tot.“

    „Was hat dein Vater eigentlich zu dem Bären gesagt?“, wollte Kevin wissen, „oder hat er nicht zu ihm gesprochen?“

    „Doch, doch, hat er. Aber was er gesagt hat, weiß ich nicht, denn ich war ja nicht dabei. Aber er hat ihm bestimmt keine Narrenweisheiten erzählt!“

    Im Ratskeller war anscheinend Streit ausgebrochen.

    „Da habt ihr ganz Recht, Meister!“, schrie gerade ein langer Kerl mit einer Zipfelmütze auf dem dreieckigen Kopf. „Handwerker müssen in den Rat! Handwerker! Auch Zünfte müssen im Rat vertreten sein! ´ne große Sache!“

    „Alle?“, rief eine hohe Stimme, „nun haltet mal die Beine still, Timmo Senkstake! Alle Zünfte sind nicht nötig! Nur die größten sollen es sein, die Brauer, die Böttcher, die Bäcker, die Schneider, die... die –“

    „Die Schuster!“

    Grobes Gelächter.

    „Hahaha, natürlich, die Schuster –“, rief einer.

    „Vieles, was dem Rat wichtig ist, geht einem Schuster am Arsch vorbei!“, fistelte jemand.

    Ein anderer, wütend: „Dahlenborg, mäßigt Euch!“

    „Wenn der Schuster stirbt, kriegt der Gerber sein Fell!“, krähte es aus einem Winkel. Gelächter.

    „Ruhe!“ donnerte ein breiter Mann und erhob sich, „so können wir nicht miteinander reden! Timmo hat Recht! Wenn wir – – “

    Kevin: „Sag mal, Ursula, geht das hier immer so hoch her?“ Doch Ursula ist verschwunden.

    „Seltsam“, murmelt Taifan, „die Tür da kommt mir irgendwie bekannt vor! Hier waren wir schon mal.“ Jetzt öffnet sich die Tür – wer steht da vor ihnen? Der Vater! Schlagartig ist auch der Lärm verstummt, und aus dem prächtigen Ratskeller ist ein gewöhnlicher, weiß gestricheren Gang geworden.

    „Ich wollte gerade nachschauen, wo ihr solange bleibt“, brummt er.

    „Waren wir denn lange weg?“, fragt Taifan.

    „Auf jeden Fall länger, als man normalerweise für einen Toilettengang braucht!“

    „Kind, wie siehst du denn aus?“, ruft Frau Sarrazin entsetzt, als Vater, Tochter, Sohn wieder am Tisch stehen, „Taifan, ist dir nicht gut?“

    „Doch, doch, es geht schon wieder“, weicht Taifan aus, „weiß auch nicht, was mit mir los ist.“

    „Wo ist denn der Herr Stadtnarr?“, will Kevin wissen.

    „Der hat sich wieder ins närrische Treiben gestürzt und lässt herzlich grüßen!“ Herr Sarrazin nimmt ein grünes Büchlein vom Tisch und hält es seinem Sohn hin. „Das schenkt er dir, seinem 'Kollegen in Sachen Mittelalter.' Hab schon mal kurz geblättert... Ein Ritterroman. Scheint ziemich bizarr zu sein.“

    *

    Zwei Tage später.

    Herr Sarrazin lässt sich wohlig stöhnend in seinen Sessel fallen. Auf einem Tischchen mit Löwenfüßen stehen ein Weinglas, eine Flasche Spätburgunder sowie eine Kristallschale mit Gebäck.

    Er schenkt sich ein, trinkt, leckt sich die Lippen und nimmt einen Keks. Dann schaltet er den Fernseher ein. Seine Frau sitzt neben ihm und stopft Socken.

    Was ist bloß mit den Kindern los, denkt er, während die gutaussehende Sprecherin mit dem Schlafzimmerblick die Tagesmeldungen intoniert. Seit wir vom Sülfmeisterfest zurück sind, sind sie wie ausgewechselt! Tun geheimnisvoll, tuscheln, blicken sich sonderbar an, und plötzlich ist Kürbissuppe keine Moppelkotze mehr, sondern eine anständige Mahlzeit, und man putzt sich jetzt auch ordentlich die Zähne. Ts... ts... Irgendetwas Seltsames haben sie erlebt, die beiden. Vielleicht erzählen sie es ja mal. Wenn nicht – auch gut. Jeder Mensch braucht ein Geheimnis...

    Ein Zimmer weiter.

    Kevin schaltet die Spielkonsole aus. Für heute hat er genug Cyber-Monster erledigt. Außerdem ist er hundemüde. Sein Blick fällt auf das schmale Buch mit dem grünen Cover, das Geschenk des Lüneburger Stadtnarren. Gelangweilt nimmt er her.

    Vrouwen dienest

    Die Abenteuer des tapferen Ritters

    Mundburt von Wolkenstein, erzählt von ihm selbst.

    Neu herausgegeben und mit Anmerkungen versehen

    von

    J. Schreyvogel,

    ao. Prof. an der +++- Universität zu Lüneburg


    Er gähnt. „Papa glaubt doch nicht im Ernst, dass ich das lese! 'Vrouwen dienest', so´n Quatsch! Und dann wahrscheinlich auch noch eine Liebesgeschichte! Ist schon mal überhaupt nicht mein Fall!“ Er nimmt das Buch, blättert gelangweilt, liest:

    ...hörte die Hebamme schreien: „Jessesmariachosseff, das Kind ist weg, das Kind ist weg!“, worauf mein Vater nach einem kräftigen Rülpser zurückrief: „Kein Problem, Frau Amme, dann machen wir eben ein neues! Wer das erste geschafft hat, schafft auch ein zweites!“ Inzwischen hatte ich mich auf gut Glück weiter nach oben gestrampelt, gelangte durch einen engen, gewundenen Schlauch in die untere Hohlvene meiner Mutter (später habe ich diesen Fluchtweg an einer geschlachteten und halbierten Sau rekonstruiert), von da aus über die Lunge in die Luftröhre, worauf meine Mutter fürchterlich husten musste. Alles weitere ging jetzt so schnell, dass es einer genauen Beschreibung spottet; nur soviel: Plötzlich war um mich eine rasende Helligkeit, ich fand mich in einem Tuch wieder, und meine Mutter rief: „Das ist es ja, das Kind, mein Gott, wie kann das sein?“ Jetzt wurde es dunkel, denn Vater und die Amme beugten sich über das Tuch. „Potztausend!“, rief Papa, „eine Mundgeburt! Also soll der Kleine Mundburt heißen...

    Kevin blättert weiter, da steht:

    Kapitel 4. Gerlind näht Acephalos den Kopf an. Landung auf Heparis. Der Krieg der Würste.

    Kapitel 18. Mundburt trifft einen halbierten Ritter und nimmt ihn als Knappen an.

    Es wird schon wieder hell, da endlich dreht Kevin die letzte Seite um. Gut, dass heute Sonntag ist...

    ____________________________

    Wer wissen will, wie es weiter geht, kann die Erzählung „Vrouwen dienest“ demnächst hier im diesem Unterforum anklicken.

    Einmal editiert, zuletzt von McFee (14. Juni 2020 um 21:50)

  • Aha, dann ist die Geschichte nun wohl abgeschlossen. War auf jeden Fall ein sehr interessanter Einblick, lieber McFee, und dass du einen sehr gut lesbaren Schreibstil meist konsequent durchziehst, habe ich ja schon mehrmals erwähnt.

    Interessant fand ich noch das hier:

    Handwerker! Alle Gilden

    Da bin ich etwas gestolpert. Dachte immer, die Handwerker formen Zünfte. Und die Gilden, das sind dann die Künstler und die etwas mehr betuchten Leute, die quasi nicht nur den Basis-Betrieb, sondern das etwas feinere Zeug produzieren? Vielleicht kannst du das noch einmal erklären. Ich habe all die Berufe (Schuster, Bäcker, Böttcher...) für zentrale Berufe der mittelalterlichen Zünfte gehalten.

    Das Ende war doch relativ vorhersehbar. Amüsant fand ich den kleinen Einblick in des Vaters Gedankenwelt - klar, wenn die Kinder plötzlich wieder ordentlich Zähneputzen, muss da schon etwas vor sich gegangen sein;). Habe mich nur nebenbei gefragt, was zur Hölle der für eine Nachrichtensendung schaut, wenn die Moderatorin da einen "Schlafzimmerblick" drauf hat...

    Im Endeffekt wirklich eine nette kleine Story mit Fokus auf dem närrischen Treiben des Mittelalters. Solltest du auch anderen Facetten mal mehr Raum geben sollen, ich bin auf jeden Fall als Leserin interessiert. Bis dahin!

    LG

    Stadtnymphe

    Was ich schreibe: Eden

  • Heyho McFee

    Bin ein wenig enttäuscht vom Schluß.

    Das die ganze Reise der Geschwister sowas wie eine Tour durch einen Themenpark werden würde, war mir von Beginn an klar. Das die einzige Erkenntnis daraus aber die sein soll, daß sie sich angesichts der miserablen mittelalterlichen Hygieneverhältnsse jetzt sorgfältiger die Zähne putzen und Kürbissuppe genossen statt gemieden wird, finde ich zu dünn.

    Ändert für mich aber nichts daran, daß ich der Geschichte gerne gefolgt bin - da war viel wissenswertes über diese Zeit zu entdecken.:thumbup::thumbup::thumbup:

    Hoffnung macht mir auch dieser Hinweis

    Kevin lättert weiter, da steht:

    Kapitel 4. Gerlind näht Acephalos den Kopf an. Landung auf Heparis. Der Krieg der Würste.

    Kapitel 18. Mundburt trifft einen halbierten Ritter und nimmt ihn als Knappen an.

    Es wird schon wieder hell, da endlich dreht Kevin die letzte Seite um. Gut, dass heute Sonntag ist...

    Kevin blättert weiter. Und "Krieg der Würste" ???

    Da kommt mir irgend was ziemlich bekannt vor...ich bin gespannt.:D

    Im Endeffekt wirklich eine nette kleine Story mit Fokus auf dem närrischen Treiben des Mittelalters.

    Echt jetzt Stadtnymphe ?

    "Närrisches Treiben des Mittelalters?"

    Für mich war das eher eine recht gelungene Darstellung mittelalterlichen Lebens in allen Facetten, soweit es für uns Spätgeborene noch nachvollziehbar ist.

    Da bin ich etwas gestolpert. Dachte immer, die Handwerker formen Zünfte. Und die Gilden, das sind dann die Künstler und die etwas mehr betuchten Leute, die quasi nicht nur den Basis-Betrieb, sondern das etwas feinere Zeug produzieren?

    Völlig korrekt: Handwerker waren schon in alter Zeit in den s.g. "Zünften" organisiert. "Gilden" dagegen waren den Kaufleuten vorbehalten bzw. wurden von diesen gegründet.

    Grundsätzlich gleich ist beiden, das es im Prinzip darum ging, den Mitgliedern Schutz und Unterstützung zu bieten.

    "Künstler" nach unserem heutigen Verständnis gab es damals nicht, also auch keine Organisation in irgend welchen Bünden.

    Das war im allgemeinen das s.g. "fahrende Volk". Ohne Heimat oder örtliche Bindung. Und damit auch ausserhalb der Rechte/Gesetze, die für Ansässige Anwendung fanden.

  • Gilden...

    Ich las den Bergriff in diesem Zusammenhang bei J. Wolff, Der Sülfmeiter, ein 19.-Jahrh.-Roman der Lüneburger Stadtgeschichte. Bei Wikipedia steht auch: "...Im weiteren Sinne wurden mit dem Begriff (Gilde) auch Handwerkergenossenschaften erfasst." Wie dem auch sei, "Zünfte" erscheint mit tatsächlich angemessener.

    Sollte es irgendwo schon einen "Krieg der Würste" geben, so würde ich gerne wissen wo, um möglicherweise umzudisponieren, denn als Plagiator möchte ich nicht dastehen.

    Dass die einzige Erkenntnis daraus aber die sein soll, daß sie sich angesichts der miserablen mittelalterlichen Hygieneverhältnsse jetzt sorgfältiger die Zähne putzen und Kürbissuppe genossen statt gemieden wird, finde ich zu dünn.

    Das sind ja nur äußere Anzeichen dafür, dass sich in den beiden ertwas verändert hat, worüber sie sich aber ausschweigen. Sagt das nicht schon genug? Und ein Psychogramm wollte ich jetzt nicht noch hinterherschicken. Auch wollte ich keine tiefschürfende Mittelalter-Studie abliefern (von denen es sicherlich hunderte gibt), sondern eine leicht lesbare humoristische Erzählung (bierernste gibt es sicherliche auch genug) mit interessanten Infos, eine "nette kleine Story"...

    LG

    Ach ja...

    Habe mich nur nebenbei gefragt, was zur Hölle der für eine Nachrichtensendung schaut, wenn die Moderatorin da einen "Schlafzimmerblick" drauf hat...

    Die Dame fängt mit S an und hört mit a auf. Ein rein persönlicher Eindruck von mir...