Ein Wort zuvor
Hallo, liebe Lesefreunde, mir ist mal wieder was aus den Fingern direkt in die Tastatur geflossen und ich hab beschlossen, es euch zu zeigen. Meine letzte Geschichte vom Renner liegt schon eine Weile zurück. Diese hier war eigentlich als Beitrag zum Schreibwettbewerb Februar/März 2020 gedacht, wurde aber länger als ursprünglich geplant und konnte deshalb nicht eingereicht werden. Holt euch einen Kaffee/Kakao/Cappuchino/Tee/whatever, legt die Füße hoch und macht's euch bequem.
Beim letzten Sonnenstrahl
Die Eingangstür stand sperrangelweit offen und das schlanke Rosenstämmchen, was neben ihr wuchs, war abgebrochen.
Johannes blieb ruckartig stehen und hielt seine kleine Schwester am Arm fest.
„Was ist?“, fragte sie arglos, denn sie hatte nichts bemerkt. Leise vor sich hin summend war sie neben ihm her gehopst in der Vorfreude darauf, gleich zu Hause zu sein.
„Die Tür ist offen!“ Die Hand des Jungen umklammerte ihren dünnen Arm wie ein Schraubstock. „Etwas stimmt nicht!“
Ängstlich sah sie zu ihm auf, blieb aber gehorsam stehen.
Der Zehnjährige ließ seinen Blick über den liebevoll gepflegten Garten schweifen. Die kleine Holzbank, die der Vater noch gezimmert hatte, war umgeworfen worden. Fußspuren, viel größer als die der Mutter, auf den geplünderten Kohl- und Kartoffelbeeten, überall zertrampelte Wiese und zerknickte Blumen. Das Gatter für die Ziegen war leer, das Tor daran aus den Angeln gerissen. Selbst die Milchkannen, auf deren Sauberkeit die Mutter so sehr achtete, lagen verstreut herum. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft, den er nicht kannte.
Angst ergriff ihn. Er wollte nach der Mutter rufen, weil seine Beine wie gelähmt waren, doch er bekam kein Wort aus seiner Kehle.
Sein Korb mit den Pilzen fiel unbeachtet auf den Boden, als er den Zeigefinger auf die Lippen legte und Eva in die Büsche neben dem kleinen Weg drängte.
„Du wartest hier“, flüsterte er. „Egal, was passiert, du rührst dich nicht vom Fleck!“
Ihre großen blauen Augen waren weit aufgerissen und ihre Lippen bebten. Er wusste, dass er ihr Angst machte, aber wollte erstmal alleine ins Haus gehen.
Beruhigend strich er seiner Schwester über den blonden Scheitel und nickte ihr noch einmal zu, bevor er sich umdrehte und davonhuschte.
Seine nackten Füße ermöglichten es ihm, sich geräuschlos an die offene Haustür heranzuschleichen. Kurz lauschte er. Es klapperte kein Geschirr und es roch auch nicht nach der abendlichen Kohlsuppe. Die Mutter sang nicht wie gewohnt, und als er den Fuß auf die Schwelle setzte, wusste er schon, dass sie nicht da war.
Das Innere des Häuschens war verwüstet. Jemand hatte alle Schränke aufgerissen. Die wenigen Sachen, die ihm, Eva und Mutter gehörten, lagen verstreut herum, verschmutzt und teils zerrissen. Sogar die kleine Truhe mit den Spielsachen war umgekippt. Teller und Tontöpfe fand er zerschlagen auf dem Boden und selbst der Vorratsraum unter den Dielen war gefunden und leergeräumt worden.
Über allem lag dieser seltsame Geruch und mit einem Mal wusste Johannes, was hier passiert war.
„Die Trolle“, flüsterte er in namenlosem Entsetzen. Er hatte davon erzählen hören. Erst letzte Woche war ein Händler vorbeigekommen, der Neuigkeiten mitgebracht hatte. Er berichtete von Dingen, die dem Jungen eine Gänsehaut bescherten, von geplünderten Häusern und verschwundenen Menschen. Und von diesem Geruch, den die furchterregenden Wesen zurückließen.
Obwohl er vor Angst schlotterte, wusste er, dass ihm und Eva keine Gefahr mehr drohte. Die Eindringlinge waren abgezogen. Zum nächsten Haus, zum nächsten Dorf ...
Eva. Sie wartete auf ihn!
Er sprang auf und lief durch den verwüsteten Vorgarten hinaus bis zu dem Gebüsch, in dem er sie zurückgelassen hatte. Sie war noch da, kauerte am Boden, die kleinen Arme um die Knie geschlungen.
„Ist alles gut?“, wisperte sie und sah hoffnungsvoll zu ihm auf.
Er schüttelte den Kopf. „Komm“, meinte er, „wir gehen ins Haus.“
Nachdem Eva sich in den Schlaf geweint hatte und er – neben ihr auf der Bettkante sitzend – unzählige Male über die blonden Zöpfe gestrichen hatte, schlich er zurück in den großen Raum. Mit bebenden Fingern nahm er ein Schwefelhölzchen aus der blauen Holzschachtel, zündete die Petroleumlampe an und setzte sich an den Tisch.
Erst jetzt wurde ihm mit aller Deutlichkeit bewusst, dass er allein war mit der kleinen Schwester. Es gab nichts Essbares mehr im Haus bis auf zwei Kanten Brot, die sie vorhin gefunden hatten. Die Mutter war verschwunden. Mit Sicherheit hatten die Trolle sie mitgenommen.
Entschlossen ballte der Junge die Fäuste. Er würde sie zurückholen. Das konnte nicht schwer sein. Er brauchte nur den Spuren zu folgen, die diese grausamen Eindringlinge hinterlassen hatten.
Aber erst musste er Eva in zu der Nachbarin bringen. Sie war zwar schon alt, doch sie würde sich um die Schwester kümmern.