Hey, Leute
Ich habe Ende letzten Jahres zwei kurze, voneinander unabhängige Geschichten geschrieben, die nicht der Fantasy sondern eher dem Thriller/Grusel zu zuordnen sind. Ich habe mit denen mal etwas Neues ausprobiert, nämlich eine brutale, reelle Welt und eine sehr direkte, ungeschönte Bindung zum Protagonisten aufzubauen. Beides habe ich bisher selten getan, weil ich in der Fantasy (auch Dark Fantasy) ja trotzdem eine gewisse, namensgebende Fantastik reinbringe Aktuell schreibe ich auch in diesem, bzw. einem ähnlichen Stil weiter, weil er mir sehr gefällt (habe mich vll ein bisschen von meinem wiederentdeckten Lieblingsautor Stephen King beeinflussen lassen ). Die erste Geschichte namens "Linie 17" möchte ich euch nicht vorenthalten. Ich möchte allerdings anmerken, dass sehr viele Schimpfwörter fallen und brutale oder obszöne Vorgänge relativ detailliert beschrieben werden (ich hoffe, ich verletzte keine Regularien, die ich grade nicht aufm Schirm habe). Ich wünsche euch ganz viel Spaß mit der Geschichte
LINIE 17
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Marvin, genannt Marv, Macintosh stand am Bahnsteig einer New Yorker U-Bahn-Station. In zwei Minuten sollte seine Bahn mit der Nummer 17 einfahren. Es war ein früher Donnerstagabend und der 27jährige war auf dem Heimweg von der Arbeit, in einem Büro irgendeines Unternehmens in Downtown.
Marv hatte schon viele Jobs – meistens irgendwelche Bürojobs –, aber war nie lange an ein und demselben Ort geblieben. Entweder wurde ihm gekündigt, weil er ohne Krankmeldungen und viel zu häufig einfach nicht im Büro erschien oder in seiner viel zu kleinen, viel zu dreckigen Bude auf der Couch zwischen unzähligen Bier- und Schnapsflaschen und einer Line Koks auf dem Couchtisch aus schwerem Holz, den er damals nach der Auflösung des Hausstandes seiner Oma bekommen hatte, versank. Oder er schrieb eine Kündigung mit dumpfem und dröhnendem Schädel nach einer
solchen Nacht, nach der er sich am liebsten vor einen Zug geworfen hätte.
Aber nein, das hätte doch keinen Sinn.
Nur Feiglinge sehen den Tod als Ausweg.
Und Marv war kein Feigling – ganz sicher. Er hatte kurze, schwarzen Haare und lief immer mit einem finsteren Blick durch die Gegend, um ja nicht den Anschein zu erwecken, er wäre ein … Feigling.
Feigling.
Das hatte sein Stiefvater immer zu ihm gesagt, während er ihn schlug. Ein 7jähriger Junge, der sich nirgends sicher fühlt, nicht einmal bei der eigenen Mutter, so ein Junge begann, sich zu von der Außenwelt komplett abzukapseln.
So war er als junger Teenager von zuhause weggelaufen. Seine Oma, die in einem Außenbezirk von New York lebte und die ihre eigene Tochter nicht leiden konnte, nahm ihn bei sich auf. Doch als er 17 war, verstarb sie. Und da hatte er begonnen, das zu tun, was er auch jetzt tat: trinken, von einem Job zum nächsten hetzen, mit der Miete im Minus sein (doch in der Gegend, in der er wohnte, schien das den Vermieter nicht besonders zu interessieren) und sich wild durch die Nachtclubs der Stadt zu vögeln.
Marv strich sich eine Strähne schwarzen Haares aus der Stirn und blickte auf sein Smartphone. Er hatte eine WhatsApp-Nachricht von seinem besten Freund, beziehungsweise dem Typen, den er als das bezeichnete, Greg. Sie machten eigentlich nicht viel, außer hin- und wieder gemeinsam saufen zu gehen, durch die Clubs ziehend, sich Lines ziehend, die Abende um die Ohren zu schlagen – Greg wusste nicht, dass Marv ein Verhältnis mit dessen Freundin hatte. Ein sehr peitschenreiches Verhätnis.
Nein, Marv war ganz sicher kein Feigling.
Wenn es darauf ankommen sollte, würde er Greg unter die Nase reiben, wie hart er es doch seiner Freundin geben würde und wie sie dabei schrie und wie sie ihm jedes Mal sagte, er wäre so viel besser als Greg.
Aber darauf kam es nicht an. Greg war gut genug, um mit ihm die Clubs und Bars unsicher zu machen, mehr brauchte Marv nicht. Wenn der Typ sich irgendwann verabschieden würde, würde ihn das nicht stören.
- 2 -
Wenn die beiden mal unterwegs waren, war es auch schon vorgekommen, dass Greg sich eine Frau aussuchte und sie dann mit nach Hause nahm, für schnellen Sex, oder es direkt auf dem Kneipenklo oder hinter der Disco mit ihr tat.
Marv hatte ihn bisher immer gedeckt und dessen Freundin nie etwas davon erzählt. Egal, wie leicht das für ihn gewesen wäre. Er hätte bloß, nachdem er es ihr besorgt hatte, am Rande erwähnen müssen „hey, dein Freund, Greg, der betrügt dich mit irgendwelchen Weibern“.
Aber für ihn persönlich reichte dieses Decken als Rechtfertigung. Denn was war schlimmer – die eigene Freundin mit irgendwelchen leichten Mädchen aus dem Night Life zu betrügen oder den „besten“ Freund zu hintergehen, indem man dessen Freundin fickt?
Ersteres, ohne Frage.
Schließlich betrog Marvin ja niemanden und Greg, den konnte er notfalls austauschen.
Er war sich keiner Schuld bewusst.
- 3 -
Er überflog die Nachricht nur, verstand nicht ganz worum es ging, bestimmt nur so etwas wie „wie sieht‘s mit morgen aus? Bock durch die Clubs zu ziehen?“ und dann irgendein bescheuerter Emoji.
Marv konnte zwischen den Zeilen lesen. Greg wollte in Wahrheit nicht feiern gehen, er wollte nur irgendein wildfremdes Mädchen bumsen, weil seine Freundin ihn wieder nicht heranließ.
Mit einem hämischen Gesichtsausdruck steckte er sein Telefon wieder weg.
Ein paar Meter entfernt von ihm quatschten zwei alte Frauen darüber, dass doch wieder einer aus dem Bekanntenkreis abgekratzt ist, dass der Freundeskreis ja doch immer kleiner wird
(ja so is‘ das, wenn man älter ist als Morgan Freemann und dem Sensenmann nur entkommt, weil man ihn wegen der eigenen Kurzsichtigkeit nicht sieht)
und wie schade das ist und ob man sich nicht mal wieder zum Kaffeetrinken und Kuchenessen bei Eleanore treffen will.
Bei Eleanore? Hast du denn nicht mitbekommen? Die hat auch schon ins Gras gebissen und sieht sich inzwischen die Radieschen von unten an.
Was? Oh Herr im Himmel! Dabei habe ich doch noch ihr Waffeleisen!
Vielleicht war ja auch das der Grund dafür, dass sich die liebe Eleanore jetzt mit Würmern und Maden über die neue Frisur von Edith unterhalten musste. Sie hatte unbedingt ihr Waffeleisen wieder zurückgewollt.
Marv seufzte.
In der anderen Richtung sprachen laut und spuckend irgendwelche idiotischen Teenager in Jogginghose und Adidas-Trainingsjacken über das neueste Album von irgend so einem geldgierigen Rapper, der nur darüber sprach, wen er alles abknallen, wen er alles betrügen und wessen Mütter er ficken wolle.
(ihr habt nicht mal ein Haar am Sack und profiliert euch mit so einer scheiß Musik und wenn euch ein Mädchen auch nur angucken würde, würdet ihr den Schwanz einziehen – traurig)
Von denen gab es zu viele, weil die meisten Idioten waren und es wurden immer mehr.
Marv seufzte.
Es war viel los auf dem Bahnsteig und die Bahn würde auch voll sein, die meisten fuhren jetzt von der Arbeit oder von der Schule nach Hause.
Wann kommt endlich dieser scheiß Zug?
- 4 -
Aus dem Tunnel kam ein scharfer Wind, der die Bahn ankündigte.
Marv stellte den Kragen seiner Jacke auf und zog die Schultern hoch. Er machte einen Schritt weg von der gelben, auf die Steinplatten gemalten Linie, die den Sicherheitsbereich auf dem Bahnsteig markierte.
Wenige Sekunden später konnte er zwei gelbe Lichtkegel aus dem dunklen Tunnel herausschießen sehen, gefolgt von der typisch metallic-grauen Bahn, die für die Uhrzeit normal voll war, einen Sitzplatz würde der junge Mann trotzdem aber nicht bekommen.
Die Bahn wurde langsamer und hielt mit schmerzlich quietschenden Bremsen – die Wagen waren nicht mehr die neuesten.
In denen saß bestimmt schon Washington, dachte Marv sarkastisch.
Die Türen schwangen auf, und auf dem Bahnsteig bildeten sich bereits Trauben um sie, obwohl jeder wusste,
(wie die Ameisen… ein Hofstaat ohne eigenes Hirn, der fremdgesteuert folgt, ohne an andere zu denken. Hier müsste nur einer Heil Hitler schreien. Pah, ekelhaft)
dass eh erst einmal eine Flut an Menschen aussteigen wollte.
Marv seufzte und begab sich seelenruhig zu der Tür die ihm am nächsten war.
Die über Rap flanierenden Teenager betraten den Wagen ebenfalls durch die Tür, die auch Marv nahm. Einer von ihnen drängelte sich
vor und schnitt dem jungen Mann den Weg ab, wofür er von diesem ein tiefes Knurren zu hören bekam.
- 5 -
Vor ein oder zwei Minuten war die Bahn wieder angefahren und Marv stand in einem der Gänge, die Hände mit festem Griff um eine der Stangen geschlossen, die über den Köpfen der Passagiere
(Ameisen)
montiert waren, damit nicht bei einer Bremsung alle der stehenden Insassen
(oder Termiten)
wie Dominosteine umkippten. Bei dieser Vorstellung musste er amüsiert schmunzeln.
Es geschah nichts. Es war ein völlig normaler, ruhiger Frühabend in einer New Yorker U-Bahn. Marv sah aus dem Fenster, aber weil da draußen alles dunkel war, sah er bloß sein Spiegelbild, beleuchtet von diesem mattgelben Neonlicht. Das war er also, dieser Typ da. Er konnte sich selber nicht besonders leiden, aber andere meistens noch weniger.
Die Minuten vergingen. Marv hatte ungefähr eine Viertelstunde Fahrt vor sich, nach der er noch einmal genauso lange zu Fuß unterwegs war, um dann seine Wohnungstür aufzuschließen.
Mehr wollte er nicht.
Die Minuten verstrichen. Nichts geschah. In einer Sekunde, Marv hatte mit leerem Blick vor sich her gestarrt, spürte er ein leichtes
Piksen in seinem Nacken, das ihn überrascht zusammen zucken ließ.
Er fuhr sich mit der Hand an die Stelle und drehte sich leicht um, ob da jemand stand.
Hinter ihm war niemand, der so aussah, als wollte er etwas von ihm. Mit seinen Fingern rieb er kurz über die Stelle, konnte aber nichts komisches spüren und auch, als er die Hand wieder zurück nahm und seine Fingerspitzen betrachtete, entdeckte er nichts Außergewöhnliches.
Somit tat er es als nichts wichtiges ab.
War bestimmt nur so ein Muskelzucken. Manchmal war es ja so, dass Muskeln zuckten. Ja so etwas musste das gewesen sein.
Ja, das war bloß ein Muskelzucken gewesen.
Zwei Sekunden später hatte er es auch schon wieder vergessen.
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Mit der Zeit wurde sein Atem schwer, es fühlte sich so an, als würde ihm etwas auf der Lunge liegen, etwas, das seine Brust mit Gewicht belegte. Er keuchte beim Atmen.
Das Stehen fiel ihm schwer.. Und immer schwerer.
Scharfe Kopfschmerzen schnitten ihm durch die Schläfen.
Was zum Teufel …?
Es fühlte sich an, als würde sich eine Wattewand zwischen ihn und das Geschehen um ihn herum schieben – die Geräusche von Zug und Menschen wurden leise und dumpf und seine Sicht wurde verschwommen.
Er hörte sich selber „hallo?“, „was ist das?“, „hallo!“ sagen, aber anscheinend reagierte niemand.
Er stützte sich an die Stange und ihm wurde schlecht.
Das kreischende Geräusch in seinem Kopf wurde immer lauter. Und lauter. Marv hatte das Gefühl, dass gleich sein Kopf platzen und alle Menschen um ihn herum dann von seinem Blut und seiner Gehirnmasse getränkt werden würden.
Seine Adern pochten, er hörte seinen eigenen, schnellen, unregelmäßigen Herzschlag lauter als alles andere.
- 7 -
Er blickte sich um.
Sieht mich denn keiner?
„Hallo!“ Weiterhin keine Reaktion.
Er sah den Gang entlang, vorbei an den Köpfen der anderen Passagiere, die ihn anscheinend nicht sahen. War da irgendjemand, der ihm helfen konnte?
Plötzlich wurde der Zug dunkel.
Marv schwitzte.
Nach wenigen Sekunden ging das Licht wieder an. Sowohl die anderen Fahrgäste, als auch das Gefühl, dass der Zug fuhr, waren verschwunden.
„Ha… hallo?“
Er stand mehrere Meter von einem Durchgang zu einem anderen Waggon entfernt. Und plötzlich bildete sich in diesem eine schwarze
Wolke Flüssigkeit.
Sie wuchs und stieg auf, bis sie in der Luft schwebte.
Sie wuchs und wuchs. Mittlerweile war sie so groß, dass Marvin nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Aber das wollte er nicht, er fürchtete sich vor dieser sonderbaren, jeglichen physikalischen Gesetzen trotzende Masse.
Er konnte es nicht erklären, aber es sah so aus
(nein, fühlt sich so an)
als würde sie – leben. Die Flüssigkeit pulsierte und es sah so aus, als hätte sie einen Willen.
Dazu gesellte sich ein unterschwelliges Dröhnen, dass Marv auf die Trommelfelle drückte und das Gefühl, dass sein Schädel bald platzen würde, noch verstärkte.
Es schien, als würde sich aus dem Dröhnen eine Stimme formen, langsam und schmerzerfüllt.
Ein tiefer, dunkler Schrei. Ein Schrei, den man hörte, wenn jemand solche Schmerzen erlitt, die man sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte – und wollte.
In Marvs Augenwinkeln sammelte sich Tränenflüssigkeit. Er drehte sich so schnell um, wie er konnte (es fühlte sich trotzdem wie im Schneckentempo an) und wollte rennen. Er wusste, dass er sich in einem Zug befand und somit nicht entkommen wollte, aber er wollte zumindest Distanz zwischen sich und dieses Ding bringen.
Er lief los.
Er hetzte und drehte sich nicht um.
Er lief vorbei an leeren Sitzen, die zum Teil aufgeschlitzt waren und aus deren Schnitten ein sonderbarer Dampf quoll; vorbei an herrenlosen, auf dem Boden abgestellten Koffern und Rucksäcken, die so aussahen, als würden sie jede Sekunde in die Luft gehen; vorbei an auf den Boden gefallenen Brillen, Kopfhörern, E-Book-Readern, Büchern.
Er wollte sich nicht umdrehen.
Aber in seinem Herzen wuchs das Gefühl, er müsse sich umdrehen, um zu sehen, ob dieses Ding noch da war.
Nicht umdrehen. Nicht umdrehen. Nicht umdrehen!
Sein Gang wurde wie ferngesteuert langsamer bis er schließlich stehen blieb. Ebenfalls wie durch eine fremde Macht befohlen begann sein Kopf, sich langsam umzudrehen.
Nein, bitte nicht!
Ach… Fuck.
- 8 -
Die Wolke war nicht mehr da. Stattdessen stand dort an der Stelle eine Gestalt, doch sie war noch immer aus dieser sonderbaren, teerähnlichen Flüssigkeit. Sie sah aus wie ein zu groß geratener Mensch mit sonderbaren Proportionen. So sah ihr Kopf aus wie ein Luftballon an einer Leine und er verhielt sich auch ähnlich.
Der eine Arm war viel zu lang für die Körpergröße, der andere viel zu kurz. Das gleiche war den Beinen geschehen, so hinkte das Wesen langsam, aber dabei unheimlich stöhnend auf Marv zu.
So etwas angsteinflößendes hatte er noch nie gesehen – sein Herz schlug mit seinen Wimpern um die Wette, die Knie schlotterten, doch er konnte sich nicht bewegen, er war wie angewurzelt.
Während dieses Monster immer näher kam gab es einen langen Schrei von sich, doch dieser fühlte sich an, als wäre er nur in Marvs Kopf. War das nur ein Schrei oder formte es Wörter?
„Aaaaargh“
Nein, es ist nur ein Schrei.
„Maaaaarv!“
Doch nicht! Fuck, fuck, fuck!
Ich muss hier weg. Sonst frisst es mich, oder schlimmeres.
Er konnte – und wollte! – sich nicht ausmalen, was passieren würde, wenn das Wesen bei ihm angekommen war, doch er kam hier nicht weg.
Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi.
Gaaaaaanz laaaaangsam … und nooooooch langsamer.
Der Schrei wurde immer eindringlicher.
Jetzt begann auch Marvin, zu schreien.
Angst. Er hatte blanke Angst vor diesem Ding, das schlimmer schien, als alles, was er sich, was Lovecraft sich je hätte ausdenken können.
Dieser scheiß Lovecraft!
Das Ding kam näher.
Und näher.
Plötzlich ging erneut das Licht aus. Es war völlig ruhig, das
Dröhnen war weg und auch dieses sonderbare Gefühl in Marvs Magengegend war verschwunden. Er fühlte sich nicht mehr wie angewurzelt.
Nach 17 Sekunden ging das Licht wieder an.
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Marv sah sich um. Er war immer noch allein – aber das Ding war auch nicht da. Er atmete erleichtert auf und versuchte, seinen Puls zu beruhigen.
In der Sekunde schoss schneller als ein Flugzeug das schwarze Monster auf ihn zu. Sein Herz setzte kurz aus.
Ihm wurde schwarz vor Augen.
- 10 -
Marvin wachte auf. Er rang nach Luft. Sein Schädel dröhnte schlimmer als am Morgen einer Nacht voller Alkohol und Koks.
„Fuck!“
Stöhnend wartete er bis seine Sicht etwas klarer war und blickte sich dann um. Er befand sich in einem kleinen, dreckigen und kalten Raum, an dessen Wänden Rohre verliefen, von denen es tropfte. Vermutlich ein Kellerraum irgendwo in einer billigen Schrottbude.
An der Decke hing eine Neonleuchte, an deren Seite sich bereits eine Schraube gelockert hatte, wodurch sie etwas schief herunterhing. Sie strahlte ihr kaltes, steriles Licht gerade mal in einem kleinen Kreis um den Stuhl herum, auf dem Marv saß.
Es war ein alter Gartenstuhl, dessen Sitzgitter herausgeschnitten wurde, sodass Marv nur von dem Stuhlgestell gehalten wurde, an das er mit einem Seil gefesselt war. Es wand sich um seine Brust,
seine Arme, seinen Hals, und Beine.
Als er an sich herunter sah, fiel ihm auf, dass er nackt war.
(wer will hier meine Eier begrabschen?)
Ihm gegenüber stand ein Stuhl, mit der Lehne zu ihm. Leer.
Wo bin ich? Was soll das alles? Was ist passiert?
Einige Zeit (er hatte jegliches Zeitgefühl verloren) passierte gar nichts. Er sah sich so gut um, wie es sein Zustand zuließ – aber es gab nicht viel zu entdecken. Abgesehen von den beiden Stühlen und einer kleinen Kiste, die neben dem anderen stand, war der Raum leer. Es lag ein Geruch in der Luft, der eine undefinierbare Mischung aus Moder und dem Gefühl war, dass hinter einer der Wände eine tote Maus vor sich hin rottete.
Zwischen den Rohren funkelte Schimmel, der seinen Rest zu der Atmosphäre
(und dem Gestank)
dazu gab.
Marv stellten sich die Härchen im Nacken und auf den Armen auf. Was auch immer hier passiert war und passieren würde – es konnte nichts gutes sein.
Nicht aus Langeweile, sondern um sich abzulenken, zählte er die unterschiedlichen, kleinen, großen, neuen, alten Rohre.
17.
- 11 -
Nach einiger Zeit voller tropfender Rohre, quietschender Mäuse in den Wänden und des Frierens – Marvin tat der ganze Körper weh und er blickte leer in seinen Schoß, dem man ganz deutlich ansah, dass es kalt war – drang ein Geräusch durch die Tür.
Schwere Schritte, die eine Treppe herunterkamen.
„Hilfe! Hilfeee!“, begann er unvermittelt zu brüllen. Vielleicht war er in einem Keller, in dem mehrere Kellerräume nebeneinander lagen und jedem Mieter einer gehörte.
Die Schritte verstummten.
Plötzlich hörte er einen Schlüssel im Türschloss kratzen.
„Hallo? Hallo! Wer ist da?“
Durch die Tür drang leise ein bösartiges Lachen.
Nach wenigen Sekunden schwang die Tür auf und im Rahmen stand nicht die Gestalt aus der Bahn (die er inzwischen als einen Fiebertraum abgetan hatte), sondern ein normal großer Mann, in schwarzer Kleidung mit einer Maske auf dem Kopf, die ein entstelltes, augenloses und bleiches Gesicht zeigen sollte, dessen Lippen zusammengenäht waren.
Die Person trug Handschuhe und zeigte keinen Millimeter Haut.
„Dein Geschrei bringt dir gar nichts. Hier unten hört dich niemand. Du jämmerliches Würstchen.“
Die Stimme klang durch die Maske dumpf, wurde aber zusätzlich verstellt. Marv erkannte sie nicht, aber sie kam ihm
(woher kenne ich dich?)
bekannt vor.
Langsam betrat die Person den Raum, drehte sich seelenruhig um, um die Tür zu schließen und sie sorgfältig von innen abzuschließen.
„Wer… wer bist du?“
„Pahaha … das wüsstest du gerne, was?“, der Typ schnaubte verächtlich.
Ruhig schritt er auf den leeren Stuhl zu und setzte sich. Er verschränkte die Arme vor der Brust und legte sie auf der Lehne ab, er hielt den Kopf leicht schräg, so als würde er Marv durch die toten Augen der entstellten Maske von oben bis unten mustern.
„Kalt, oder?“, fragte er rhetorisch mit einem gehässigen Unterton.
Aus seinen Worten sprudelte blanker Hass.
Marv zerbrach sich den Kopf, woher er diesen Typen kannte, die Stimme, der Gang, die Figur … das alles kam ihm bekannt vor, aber er konnte es nicht zuordnen. Deswegen fragte er erneut, wobei er versuchte, seiner Stimme einen harten Klang zugeben, aber die Angst, die in ihm wütete und ihn langsam von innen auffraß, war trotzdem deutlich zu hören.
„Wer bist du?“
„Du kennst mich.“ Pause. „Aber nicht so gut, wie du dachtest.“
(was? Wer? Ich verstehe gar nichts mehr. Was will der –)
„Was willst du von mir?“
Der Gegenüber lachte. Es war ein kaltes Lachen, das gekünstelt wirkte.
„Was ich will?“, fragte er dumpf zurück, „was ich will, ist, dass du
verstehst, was für ein Arschloch du bist. Ein ehrloses Arschloch. So klein mit Hut“, er hob eine Hand und streckte Daumen und Zeigefinger aus, um zu zeigen, wie klein (mit Hut) Marv doch war, „Du sollst begreifen, was du mir angetan hast, die ganze Zeit hast du mich nur verarscht. Ich war immer für dich da, aber du“, es verschwand immer mehr der krasse Klang aus der Stimme und sie wurde immer normaler, „du hast mich hinten und vorne nur verarscht. Dachtest du wirklich… Dachtest du Idiot wirklich, ich würde nie dahinterkommen, dass du meine Freundin fickst?“
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„Greg?“
Bei diesen Worten zog sich der Entführer langsam die Maske vom Kopf. Dahinter tauchte Gregs, dünnes, ausgemergeltes Gesicht auf. Er sah nicht gesund aus, selbst für seine Verhältnisse, seine wässrigen Augen waren blutunterlaufen, die Haut kreidebleich. Wirre schwarze Locken fielen ihm ins Gesicht, die fahlen, dünnen Lippen waren nicht mehr als zwei Striche auf einem Whiteboard in der Schule. Seine Nasenflügel bebten und die Augen hatten etwas… verrücktes.
Greg schien, als wäre er nicht bei Sinnen.
„Greg? Was soll das?“
„Du musst für das bezahlen, was du getan hast!“
„Hey, hey bleib cool. Sie wollte es doch auch. Sie ist genauso schuld wie ich! Außerdem, bist du doch nicht besser“, Marv bekam Angst,
seine Knie fingen an zu zittern.
„Das ist was völlig anderes!“, brüllte Greg und spuckte dabei etwas auf die Oberschenkel des Gefesselten.
Das ist nichts anderes.
„Greg… bist du auf ‘nem Trip? Hast du Zustände?“
„Fick dich.“ Mit einem irren Blick wischte er sich die Lippen mit dem Handrücken ab.
„Ich kann dir helfen, Kumpel“, Marv versuchte, Greg zu beruhigen; wer konnte ahnen, was der Typ vor hatte oder was er vorher eingeworfen hatte, „du musst mich nur losmachen… Da- dann können wir ein Bier trinken gehen und alles ist gut. Ver- versprochen.“
„Du versprichst hier gar nichts mehr, Wichser“, seine Stimme schnitt durch die Luft wie eine stumpfe Säge, „ich will gar nicht wissen, wie oft du deinen kümmerlichen Schwanz in sie gesteckt hast. Sie tut mir leid.“
„Sie hat‘s doch auch gewollt!“
„Halt die Fresse! Jetzt rede ich. Wo war ich, ach ja… sie tut mir leid. Meine arme Jasmine, sie tut mir leid. Das hat sie nicht verdient.“
Fast hätte Marv ihm gesagt, wie sehr sich seine arme Jasmine über ihn lustig gemacht und ihr der harte Sex mit Marv viel besser gefallen hat als der Blümchensex mit ihm. Aber das erachtete er in seiner gefährlichen Situation nicht als sinnvoll.
Er wollte einfach nur nach Hause… Greg schien es ernst zu meinen. Todernst.
Marv hatte Angst. Todesangst.
Er wollte einfach nur … überleben.
„Wie … wie bin ich hierher gekommen?“ Diese Frage schien Greg sehr zu amüsieren.
„Ich weiß wo du wann nach der Arbeit in welchen Zug einsteigst. Ich saß schon drin und habe mich so versteckt, dass du mich nicht sehen konntest. Von meinem Dealer habe ich eine wunderhübsche Substanz, die nicht nur für Halluzinationen sorgt, sondern auch nach kurzer Zeit bewusstlos macht. Diese habe ich dir mit einer Spritze in den Nacken gepumpt als niemand geschaut hat
(das war dieses gottverdammte Piksen!)
und dann habe ich dich hierher geschleppt“, er grinste, stolz über seinen Plan, „wenn jemand gefragt hat, habe ich gesagt, du hattest einen Schwindsuchtsanfall und ich als dein Freund bringe dich heim. Schließlich bin ich ja auch dein Freund!“ Jetzt lachte er laut und schallend. Es war ein böses, ehrliches Lachen.
Der ist doch krank. Nur weil seine Freundin ihn mit mir betrogen hat.
„Du bist doch krank! Junge!“
„Na bekommst du etwa Angst?“, Greg grinste schief und bleckte dabei seine gelben Zähne.
Nein… Nein, Marv bekam keine Angst – er hatte bereits welche. Greg war wie ausgetauscht, er war so wütend, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Da war so ein kaltes Funkeln in seinen Augen.
„Was…“, eigentlich wollte Marvin es nicht wissen, andererseits
musste er einfach fragen, „was hast du jetzt vor?“
„Naja“, wieder dieses Grinsen, „du hast meine Freundin gefickt, jetzt ficke ich dein Leben.“ Das war kein Scherz, Gregs Gesicht war völlig ernst und ausdruckslos wie ein Stein.
Trotz der Kälte in diesem Raum schwitzte Marv, Angstschweiß. Ich
komme hier nicht mehr raus. Der Typ ist verrückt!
Schweißperlen liefen ihm die Schläfe hinunter und seine Augen waren unruhig.
„Wa- was soll das heißen?“, jegliche Stärke und der abgebrühte Klang, der sonst immer vorhanden war, waren völlig aus Marvs Stimme entschwunden.
Und wieder lachte Greg.
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„Wollen wir doch mal schauen“, sagte er unheilvoll und klatschte Marv auf die Innenseite seines Oberschenkels. Dieser zuckte stark, was von Greg nur mit einem Grinsen quittiert wurde.
Dann beugte er sich langsam nach links zu dem Karton und nahm den Deckel ab. Die ganze Zeit hatte er ein krankes Grinsen auf dem Gesicht, was Marv wahrhaftig an der psychischen Gesundheit dieses Mannes
(mein bester Freund)
zweifeln ließ.
Mit beiden Händen griff er langsam hinein und ließ sie dort ein paar Sekunden verweilen. Dann zog er sie langsam wieder hervor und starrte dabei bloß Marvin ins Gesicht, als wolle er dessen Reaktion um keinen Preis verpassen und sich an dieser ergötzen.
Dann hielt er die Hände zwischen seine und Marvs Augen, sodass dieser gezwungen war, drauf zu schauen, auf dieses lange, spitze Messer.
Es steckte noch in einer Lederscheide, wirkte aber aufgrund seiner bestimmt 15 Zentimeter langen Klinge bereits jetzt unglaublich bedrohlich.
Marvins Augen weiteten und sein Puls beschleunigte sich merklich. Was hat er nur damit vor? Hilfe!
„Hilfe!“, schrie er, auch wenn er wusste, dass es keinen Zweck haben würde.
„Hier hört dich niemand“, grinste Greg, „schrei so viel du willst. Das wirst du eh noch zu genüge tun.“
Er nahm den Griff des Messers in die rechte Hand und zog mit der anderen langsam die Scheide von der Klinge. Marv bekam eine einschneidige, dünne, bereits mit kleinen Rostpartikeln besetzte Klinge zu sehen.
Das Leder ließ Greg ruckartig auf die Innenseite von Marvs Oberschenkel klatschen, dort wo er kurz zuvor mit der Handfläche zu geschlagen hatte.
Marv schrie.
„Oh oh oh, wenn es dir jetzt schon so wehtut, tut mir das leid, was dir noch bevor steht“, säuselte er sarkastisch süffisant. Dann fuhr er mit dem Leder leicht über die Haut der Schenkel, den Bauch und die
Brust.
„Möchtest du erfahren, was dir gleich blühen wird?“, fragte er ebenso süffisant, „ich mein, für den Fall, dass du nicht alles davon mitbekommen wirst – denn glaube mir, das wird passieren.“
Arschloch.
Marv stieß Luft durch die aufeinander gepressten Lippen aus und versuchte seinen Puls zu beruhigen. Seine Brust hob und senkte sich schnell.
„Aaaaaalso“, holte Greg gekünstelt aus, während er aufstand und die Scheide auf seinen Stuhl legte. Dann begann er ganz langsam, um Marvin herumzulaufen, „also, ich habe hier dieses wunderbare, kleine Messerchen. Damit werde ich dir“, er warf einen abschätzigen Blick auf Marvs Genitalien, „erst deine hässlichen Eier abschneiden“, mit jedem weiteren Wort wurde der Angesprochene bleicher und seine Kehle schnürte sich zu bis er das Gefühl hatte, zu ersticken, „danach trennst du dich von deinem kleinen Schwanz, mit dem du schon so viel Unheil angerichtet hast und dann irgendwann – iiiirgendwann, wenn du aufgehört hast du schreien und bereits diesen kompletten, hübschen, gemieteten Kellerraum vollgeblutet hast. Ja, dann irgendwann schneide ich dir die Kehle durch“ – Marvs ganzer Körper zitterte so sehr wie noch nie, nicht mal als er, kurz nachdem er ausgerissen war, in einem Schuppen geschlafen hatte und dann mit dem Lauf der Schrotflinte des Eigentümers im Gesicht aufgewacht war, „denn so ein Hurensohn wie du hat es nicht verdient, weiter diese Welt mit seinem ekelhaften Gestank zu ver-
pesten!“
Greg steigerte sich verbal immer weiter hinein, aber körperlich war ganz ruhig. Er strich mit der stumpfen Seite der Klinge über Marvs Nacken, die Schulter und den Oberarm, bis er schließlich seine Runde beendet hatte und wieder an seinem Stuhl stand. Dann legte er das Messer auf Marvs Schenkel ab.
Dieser hätte es durch Wackeln mit seinem Bein herunterwerfen können – aber was hätte es ihm gebracht? Sein Kopf war völlig leer, er versuchte sich mit seinem Schicksal abzufinden, er konnte nicht entkommen.
Greg griff wieder in die Kiste und zog einen BDSM-Knebel heraus, diesen band er dem 27jährigen von hinten um und flüsterte ihm dabei ins Ohr „du könntest zwar so viel schreien wie du willst, aber ich glaube, irgendwann würde es mich nerven.“
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Greg hatte den Stuhl richtig herum gedreht und näher an Marvs herangezogen, um „besser hantieren“
(besser schneiden)
zu können.
Marv hatte die Augen geschlossen und hoffte, dass es schnell vorüber ging.
Greg machte es sich mit einem schiefen Grinsen gemütlich, griff mit der linken Hand unsanft nach Marvs Hoden und zog dessen Sack lang. Marv spürte, wie die kalte Klinge an diesem angelegt wurde.
Er zitterte und schwitzte und stöhnte durch den Knebel. Seine Augenlider flatterten wild und seine Augen wollten gucken, aber er zwang sich, sie geschlossen zu halten.
Er spürte wie Greg das Messer, ohne Druck auszuüben, langsam an der empfindlichen, faltigen Haut auf und ab gleiten ließ. Der fing an zu lachen, erst ganz leise, stetig lauter werdend bis es Marvs Kopf komplett ausfüllte, von der Schädelinnenseite abprallte und als Echo widerschallte und wieder zurückgeworfen wurde, bis sich die Schallwellen überlagerten und sein Kopf zu platzen drohte.
Von einer Sekunde auf die nächste verstummte das Gelächter.
Greg hielt das Messer wieder still und sagte hämisch: „Irgendwelche letzten Worte? Ach nee, Moment, du kannst ja eh nicht reden mit dem Ding im Mund! Verabschiede dich von deiner Zukunftsplanung!“
Plötzlich hörte Marv leichte Schritte draußen auf der Treppe und eine Stimme rief: „Greg? Greg! Gregory! Was machst du da drinnen?“ Es war die Stimme von Jasmine, Gregs Freundin.
(Rettung!)
Sie hämmerte mit den Fäusten an die Tür.
Greg lachte.
Jasmine schrie.
Marv stöhnte angsterfüllt.
Gregs Lachen wurde lauter und dann begann er zu schneiden. Solche Schmerzen hatte Marvin bisher nicht gekannt. Er schrie innerlich.
Und schrie.
Er konnte nicht mehr denken, das einzige, was seinen Kopf erfüllte, war unsagbarer Schmerz.
Und er weinte. War er doch ein Feigling?
- 15 -
Marvin, genannt Marv, Macintosh war nie gläubig gewesen. Aber in seinen letzten wachen Sekunden, die viel schneller gekommen waren, als sie gesollt hätten, formte er in seinem Kopf ein Stoßgebet.
- 16 -
Blut tropfte. Zu viel Blut.
Blut floss.
Es sprudelte unaufhaltsam.
- Ende -