Jo, dann starte ich hier mal direkt mit einem "hot take" Und ja, ich habe die Foren-Suchfunktion benutzt und glaube, dass ein Thread, in dem es speziell darum geht, wirklich nur einmal die Sinnhaftigkeit dieser "Faustregel" zu diskutieren, nicht existiert. Wenn ich mich damit irre, tut es mir Leid!
Aber schnüren wir die Badehose fest und springen mit den Backen zuerst ins Thema!
Prämisse: Es geht nur um Prosa, nicht um Drehbücher oder Grundlagen für andere multimediale Darstellungsformen.
These 1: "Show, don't tell" (im weiteren Verlauf kurz 'SDT') scheitert an einem semantischen Widerspruch.
These 2: Schreibökonomie.
These 3: SDT lenkt von den eigentlich wichtigen Kriterien des Schreibprozesses ab.
These 4: Der Eisberg.
These 5: Anton Tchekov fordert nicht SDT.
These 6: Auch für Schreibanfänger ist SDT kein guter Rat.
Zu These 1: Das können wir kurz machen. Nehmen wir SDT wörtlich, ist es völlig klar, dass wir ohne Illustrator oder persönliche Anwesenheit bei jedem Leseerlebnis nichts "zeigen" können. Wir schreiben nur Satz für Satz und machen so einen Text. Lassen wir uns darauf ein, SDT im übertragenen Sinne zu verstehen, werden hier zwei verschiedene Arten des Schreibens gegenüber gestellt, die beide einen Eigenwert haben. "Telling", "Erzählen", ist nicht gleichbedeutend mit "Berichten" - das wird aber gegenübergestellt. Völlig unklar bleibt dabei, wie eigentlich die "Mitte" zwischen "Sie war schön" und einem dreiseitigen Aufsatz über die innerlichen und äußerlichen Merkmale einer Figur aussehen soll.
Zu These 2: Das ist das häufigste Argument, das ich bei anderen wahrgenommen habe, die Kritik an SDT üben: "Man kann nicht einfach alles ausführlich beschreiben." Und das ist in jedem Fall wahr. Selbst, wenn ich eine Novelle über eine alte Frau schreibe, die ein Graffiti an einer Bahnhofswand anstarrt und sonst nichts passiert in dieser Novelle - ich werde niemals ALLES beschreiben können. Ich treffe IMMER eine Auswahl in meiner Darstellung - nach welchen Kriterien ich mich aber für meine Auswahl entscheide: das verschweigt diese Formel.
Zu These 3: Und damit sind wir beim Kern. Man könnte mir mittlerweile vorwerfen, dass ich SDT vorwerfe, nicht ein Allheilmittel zu sein, dass man Schreibern also bloß "SDT" zu sagen braucht und sie nie wieder einen Ratschlag für ihren Schreibprozess bräuchten. Vielleicht ist das so - aber ich würde dem entgegenhalten, dass in der Formel "Show, don't tell" in jedem Fall etwas ganz entscheidendes fehlt: Die Frage "Was denn überhaupt?" In anderen Worten: "Worauf willst du hinaus?" Und in noch anderen Worten: das Thema.
Den Unterschied zwischen "Thema" und "Plot" zu kennen, sollten alle Schreibenden als allererstes lernen. Wenn ich dich frage: "Worum geht es in deiner Geschichte?" Und du sagst mir: "Kyon wird von seinem Landherrn zu Unrecht ins Gefängnis gesteckt, weil die Ehefrau des Landherrn bei einem Volksfest mit ihm geflirtet hat. Er muss also im Gefängnis Freunde finden [...]" Dann hast du ein viel schwerer wiegendes Problem als "SDT" nicht zu beherrschen. In deiner Geschichte geht es um Unrecht, Rache - und wie Freundschaft/ Liebe uns davon abhalten kann, uns von der Rache innerlich auffressen zu lassen.
Warum ist das so viel wichtiger? Weil davon die Struktur deiner Geschichte abhängt. Es gibt keine vorgefertigte Struktur, aber die Lesenden entwickeln Erwartungen. Wenn jemand deinem Protagonisten Unrecht tut, erwarten sie, dass ihm irgendwie Gerechtigkeit widerfährt, oder, dass er daran zugrunde geht, kurzum: Dass die Geschichte sich mit diesem Unrecht auseinander setzt. Vielleicht machst du das bei der Entwicklung deines Plots intuitiv - aber du vergisst vielleicht, welchen Effekt das Unrecht auf die Psyche deines Protagonisten hat?! Unbewusstes Schreiben ist nur den Super-Genies vorbehalten, und da gehören wir beide nicht zu, glaubs mir.
Hehe, ja, das ist immer noch These 3. Aber machen wir den Sack zu: Warum ist das ein Grund gegen "SDT"? Wenn du zu einem (Zwischen-) Ergebnis gekommen bist, was das Thema deiner Geschichte sein soll, geht es erst los: Erzählte Zeit vs. Erzählzeit (hier wäre "Pacing zu verorten), Auswahl der Erzählperspektive, Entwicklung der Handlung, Sprachliche Niveaus/ deine "Stimme" als Erzähler/ die Stimme deiner Charaktere, Worldbuilding/ Recherche, Ausführlichkeit/ Knappheit.
Bsp. 1: Elaine stand vor der Tür. Sie trug eine Pappschachtel unter dem Arm.
Bsp. 2: Ich öffnete die Tür. Draußen stand Elaine mit einem Karton. Ihre Lippen bebten. Wir mussten von hier weg.
Bsp. 3: Ich nahm einen letzten Schluck lauwarmen Kaffee aus meiner "Boob Inspector"-Tasse. Wer klingelte um diese Uhrzeit? Ich warf mir meinen Bademantel über und schlurfte zur Tür. Durch den Spion starrte mich das von der Linse deformierte Gesicht Elaines an.
Bsp. 4: Elaine stand vor der Tür. Sie trug eine enge, dunkelblaue Jeans und das gelbe "Life is happy" Top aus unserem letzten gemeinsamen Urlaub. Unter ihren Schützen-Arm hatte sie eine Papp-Schachtel geklemmt. "Du hast deine Wohnung also endlich braun gestrichen, wie du es immer machen wolltest", stellte sie fest.
Keiner dieser Sätze ist schlechtes story-telling. Bsp. 1 könnte den Übergang zwischen zwei wichtigen Szenen markieren. Vielleicht geht es im Folgenden mehr darum, was in der Schachtel drin ist. Wie Elaine aussieht, wo sie herkommt, in welcher Beziehung sie zu dem Erzähler steht - alles gerade nicht wichtig!
Bsp. 2 bedient sich knapper Sätze, ist kurzatmiger. Der Karton ist erstmal Nebensache.
Bsp. 3 konzentriert sich darauf, den Erzähler, seinen Lebensstil und seine Sicht auf die Welt zu charakterisieren.
Bsp. 4 verrät uns, dass der Erzähler mal mit Elaine zusammen gewesen ist - und ausgehend davon, dass er ausführlicher über ihr Äußeres berichtet, kann man vermuten, dass sie immer noch in gewissem Maße attraktiv für ihn ist. Hier geht es viel mehr um die Beziehung zwischen den beiden und mit der insgesamten Ausführlichkeit, dem Dialog und den zusätzlichen Details wird klar, dass diese Passage in dieser Version einen deutlich höheren Stellenwert hat als in den anderen.
Wie erzeuge ich Kurzatmigkeit, ein schnelles oder gemächliches Erzähltempo? Welche Details und wie viele wähle ich aus? Erzählen ist multi-dimensional - und kein Gegenüber von "Show" vs. "Tell".
Zu These 4: Lies "Der alte Mann und das Meer" von Ernest Hemingway. Details wegzulassen, muss nicht faul sein - es kann bedeuten, dass du den Lesenden zutraust, die Lücken zu füllen. Das ist Hemingways Metapher vom "Eisberg": Die Erzählung ist nur die Spitze - der Rest, die Ideen, Konzepte, gemeinsamen menschlichen Erfahrungen, die liegen unausgesprochen zwischen den Zeilen. Aber selbstverständlich ist auch - oder vielmehr besonders - bei diesem Ansatz wichtig, dass du weißt, worum es in deiner Geschichte gehen soll.
Zu These 5: Ein Zitat von Anton Tschechow wird gerne als poetische Variation von "SDT" angeführt:
«Du erhältst eine Mondnacht, wenn du schreibst, dass auf einem Mühlenwehr wie ein kleiner heller Stern das Glasstück einer zerbrochenen Flasche aufblitzt und der schwarze Schatten eine Hundes oder Wolfs wie eine Kugel vorbeirollt usw.»
Die drei Dinge, die für ihn aber hinter diesem Schreibtipp an seinen älteren Bruder stehen, sind: Kürze, Objektivität, Originalität. Wenn die Mondnacht also keine Rolle für den geistigen Zustand des Erzählers spielt, wenn sie insgesamt in der Geschichte nur Randnote bleiben soll - dann ist eine so ausführliche Umschreibung ganz sicher nicht im Sinne Tschechows. Aber noch ein Zweites: "SDT" führt in krassem Kontrast zu Tschechows eigentlicher Absicht mit diesem Beispiel dafür, dass Schreibende zu abgedroschenen Formulierungen und seltsamen Vergleichen greifen, nur, um eine Empfindung oder einen Eindruck des Protagonisten etwas "plastischer" zu machen. "Die Liebe traf ihn wie ein LKW, der auf einen Kinderspielplatz bretterte: Erbarmungslos und unkontrolliert - aber überfällig" Das war zwar jetzt irgendwie unterhaltsam, aber meistens leider deshalb, weil es unfreiwillig komisch ist.
Zu These 6: Zum Schluss noch eine didaktische Sache. Wenn du mir nach dem o.g. zustimmst, dass SDT generell kein guter Rat, weil er den Schreibprozess zu stark vereinfacht und uns davon ablenkt, uns mit den Kernfragen unserer Geschichten auseinander zu setzen, dann solltest du mir auch hier zustimmen.
Ich habe mich persönlich dagegen entschieden, Latein zu unterrichten. Manche Aspekte des modernen Lateinunterrichts fielen mir unglaublich schwer. Trotzdem weiß ich, dass man den Schülern nicht in Klasse 6/ 7 sagt, "Dativ und Ablativ" sind das gleiche, um dann in Klasse 9 zu rufen: "Plot twist! Jetzt machen wir's doch anders."
Didaktische Reduktion, etwas für Einsteiger herunter zu brechen, rechtfertigt keine Verfälschung.
Und damit schließe ich mein Plädoyer. Hohes Gericht, "Show don't tell" hat uns über viele Jahrzehnte hinweg unnötige, dilettantische Metaphern aufgedrängt, lächerlich explizite und genre-fremde Vergleiche. Es hat junge Schreibende zur Verzweiflung getrieben, manche vielleicht sogar dazu gebracht, den Stift für immer nieder zu legen, weil sie glaubten, wenn SDT so wichtig sei, dann wäre auf dieser Welt wohl kein Platz für ihre Geschichte.
Ich fordere: Hang the Bastard, hang him high! (Zitat aus "Cannibal" - dem Musical von Trey Parker und Matt Stone)