Die Fremden
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Als Ingrim die »Kühlende Woge« betrat, fiel ihr Blick wie immer zuerst auf den Stammtisch. Normalerweise saßen dort die Älteren, die Anweiser oder die Versorgungsmeister bei einem wohltuenden Dünnbier oder Fruchtsaft, vertieft in Diskussion über das Wohl der Kolonie. Doch heute musste sie nicht einmal den finsteren Blick der Älteren, welche an einem anderen Tisch saßen, oder den der vierschrötigen Wirtin auffangen, um den Hecht im Karpfenteich zu erkennen. Am massiven Stammtisch saß lediglich ein einzelner Mann, unverkennbar einer der fremdartigen Neuankömmlinge. Ingrim war zu Ohren gekommen, dass sie aus dem Nordgebirge geflohen waren, angeblich weil ein besonders harter Winter die ohnehin spärlichen Wildvorkommen der Gegend noch weiter ausgedünnt hatte.
Sie setzte sich auf ihren gewohnten Platz hinter der Bonsai-Palme und begann, den Fremden mit vorsichtig neugierigen Blicken zu mustern, während die Wirtin ihr wortlos ihre übliche Schale Bananenmus vorsetzte. Am Auffälligsten waren die Beinkleider des Mannes am Stammtisch. Der Stoff wirkte dick und robust und bot vermutlich hervorragenden Schutz, aus einer Gürteltasche lugte ein dunkler Griff hervor. Kein Wunder also, dass hier alle so angespannt waren, schien der hagere Kerl doch bewaffnet zu sein. Niemand in der Kolonie trug Waffen bei sich, geschweige denn, dass er sie auch noch zeigte. Ingrim verspürte eine gewisse Faszination. Vielleicht liegt es an den wilden, langen schwarzen Haaren, dem üppigen Bart, überlegte sie, … oder an seinem markanten Kinn? Nichts an ihm passt hierher. Er scheint… hm… ob er die Feindseligkeit überhaupt bemerkt. Eine Weile sah sie ihm zu, wie er seinen hölzernen Becher schwenkte und nachdenklich in sein Getränk starrte. Er schien die gut zwanzig Augenpaare nicht zu bemerken, welche ihn allenthalben abschätzig fixierten.
Plötzlich kam Bewegung in die angespannte Situation. Am Nebentisch knallte der alte Gerlander, ein ehemaliger Fischermeister, seinen Becher auf den Tisch und erhob sich schneller als sein Dünnbier herausschwappen konnte. Hinter seinen haarigen Beinen sah Ingrim, wie sein Stuhl an die salzverkrustete Tavernenwand knallte. Ein zweiter Blick auf Gerlanders Taille verriet ihr, dass der Fremde sich wohl nicht umsonst wehrhaft gekleidet hatte.