Die Geschichte ist mir neulich eingefallen, nachdem ich hier irgendwo einen Post über ein Gesrpäch mit Kollegen (?) zum Thema Abtreibung gelesen habe. Ich möchte hier wirklich keine Grundsatzdiskussion anzetteln, aber ich wollte es trotzdem gerne mit euch teilen, zumal es das erste ist, was ich seit einige Zeit wirklich zu Papir gebracht habe. Würde mich besonders interessieren, was ihr von dem Dialog haltet (der ja eigentlich eher ein Monolog ist) und ob das Gefühl der Geschichte gut rüber kommt.
Ganz liebe Grüße
Ondine
Roborakel
Die Luft triefte vom künstlichen Geruch nach Veilchen, der sich bemühte, den beißenden Gestank des Desinfektionsmittels zu überdecken. Sam saß in dem makellosen Wartezimmer der Behörde und hoffte, die Zeit würde schneller vergehen. Sie war allein. An der Wand vor ihr war der obligatorische Bildschirm angebracht, über den die immer gleichen Bilder hinweg flackerten. Sam versuchte nicht hinzusehen, doch ihre Augen fanden immer wieder den Weg zurück. Gerade war es eine Sequenz zweier Türme, die umhüllt von Rauch und Staub in sich selbst zusammensackten. Sie sah, wie ein zweites Flugzeug einschlug, als ob es ihren Untergang endgültig besiegeln wollte. Als nächstes eine Menschenmenge, in der plötzlich Schüsse fielen. Leute rissen einander zu Boden, im Versuch zu fliehen, bis sie schließlich doch von einer Kugel getroffen wurden und auf den harten Asphalt aufschlugen. Blut spritzte. Das nächste Bild zeigte ein junges Mädchen in ihrem Zimmer. Ihre Füße berührten den Boden nicht, der Strick war an ihrer Deckenlampe angebracht, traurige Stofftiere sahen zu ihr auf. Sie sah alte Menschen am Straßenrand, in umgekippten Glasflaschen und ihrem eigenen Dreck schlafend. Junge Menschen, die Skeletten glichen, mit Nadeln im Ansatz. Schreiende Kinder, misshandelte Frauen, Tod, Leid, Zerstörung.
Dann endlich, Sam hatte das Gefühl, sie hätte nicht noch ein weiteres dieser Bilder ertragen können, ohne zu schreien, erschien das Logo. Das stilisierte Auge in der Glaskugel erschien wie ein Anker in einem Meer aus Hoffnungslosigkeit. Roborakel. Unmerklich atmete Sam auf.
LEID UND ELEND SIND VERGANGENHEIT!
Der Slogan blieb etwas zu lang auf dem Bildschirm hängen, gerade so, dass er sich in aller Ruhe in die Herzen der Menschen einbrennen konnte. Bilder von lachenden Kindern folgten, alte Menschen am Strand, eine junge Frau, die ihrem Mann in die Arme viel, eine strahlende Schwangere.
DU TRÄGST DIE ZUKUNFT IN DIR!
Wieder liefen die Bilder durch, diesmal in atemberaubender Geschwindigkeit. Tod und Zerstörung gefolgt von unglaublichem Glück.
SCHON HEUTE VERANTWOTUNG ÜBERNEHMEN, FÜR EIN BESSERES MORGEN. ES LIEGT AN DIR.
Das Logo erschien, der Spuk war vorbei. Zumindest bis sich die ewige Schleife aus Angst und Hoffnung in ein paar Minuten wiederholen würde.
Sam strich sanft über ihren gewölbten Bauch. Sie wollte nur weg von hier, wollte diesen Ort so schnell wie möglich hinter sich lassen. Gerade schloss sie die Augen und versuchte sich vorzustellen, sie säße daheim auf ihrer kleinen Veranda, als ein leises Sirren zu ihrer Rechten verriet, dass die Tür zum Besprechungszimmer aufglitt.
„Samantha Black?“
Ihr Herz machte einen Satz und begann zu rasen. So gut es ging wischte den kühlen Schweiß ihrer Hände an der Hose ab und betrat langsam das Büro. Hinter ihr glitt die Tür wieder in ihr Schloss.
„Mrs. Black, setzen Sie sich bitte.“ Die Stimme des Beamten war glatt und poliert, ebenso wie die spiegelnde Glatze und die winzigen Brillengläser.
Zögerlich ließ Sam sich auf einem der beiden Besucherstühle vor seinem Schreibtisch nieder. Mr. O. Johnson, war in ein kleines Täfelchen an seiner Brust graviert.
Johnson tippte noch einige Dinge in sein Visi-Pad ein, das durchsichtig vor ihm schwebte. Sam knetete unruhig ihre Hände. Der einzige Schmuck im weißen Raume war das Roborakel Logo hinter Johnsons Schreibtisch, Staatliche Behörde für Lebens- und Fortpflanzungsangelegenheiten, stand direkt darunter in bronzenen Lettern.
„Also, Mrs. Black“, begann Johnson und schob das Visi-Pad beiseite, um sie besser sehen zu können. „Ich habe Sie hierher bestellen lassen, weil noch einige Dinge bezüglich ihres Fortpflanzungsversuchs zu klären sind. Wir haben selbstverständlich alle Daten mit Roborakel auswerten lassen und einige der Ergebnisse bedürfen unserer Meinung nach noch eines kleinen Gesprächs. Ich sehe, Mr. Black ist nicht mitgekommen?“
„Nein, er ist heute leider verhindert“, murmelte Sam.
Johnson seufzte sichtlich genervt. „Nun, dann müssen wir zwei das wohl alleine klären.“
Er wedelte mit dem Arm durch die Luft und das Visi-Pad erschien wieder zwischen ihnen. Diesmal teilte er seine Ansicht, so dass auch Sam etwas erkennen konnte.
„Also, wie Sie hier sehen, ist bei den physischen Aspekten der Kindheit soweit alles in Ordnung. Roborakel hat erkannt, dass der Fortpflanzungsversuch Sommersprossen entwickeln wird, was natürlich einige Punkte Abzug gegeben hat, aber dann und das sehen sie hier ganz genau in den Daten, es gibt keinen Zweifel, wird er an Gewicht zulegen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, wird er während der High-School erhebliche Probleme in Mathematik und Chemie haben. Was das bedeutet, muss ich ihnen ja wohl nicht erklären?“ Er verminderte die Deckkraft des Visi-Pads und musterte Sam mit hochgezogenen Augenbrauen. In Sams Kopf drehten sich die Zahlen und Statistiken, die sie soeben zu ihrem ungeborenen Kind gesehen hatte. Hilflos suchte sie in Johnsons kritischem Blick nach Erklärungen. Dieser schüttelte den Kopf und seufzte.
„Es bedeutet“, fuhr er langsam und überdeutlich fort, als müsste er es einer Fünfjährigen erklären, „dass Ihr Fortpflanzungsversuch sich für Literatur interessieren wird. Jawohl! Und das führt bekanntlich zu allerlei Problemen. Allein hier sehen sie die vergeudete Zeit, die das Roborakel für die Zeit auf der Highschool bestimmt hat! Ganz zu schweigen davon, dass es Bücher auf Papier bevorzugen wird, und sie regelmäßig auf dem Schwarzmarkt wird besorgen müssen. Papier, Mrs. Black! Ich hoffe, Sie sind sich des ökologischen und sozialen Schadens bewusst, den Ihr Fortpflanzungsversuch damit anrichten wird! Und das ist noch nicht alles.“ Johnson holte tief Luft, als müsse er sich für das Kommende wappnen.
„Da es Schriftsteller werden wird“, er spie das Wort förmlich aus, „wird es dem Alkoholkonsum verfallen. Ebenfalls vom Schwarzmarkt, versteht sich. Sie haben Glück, dass es nicht allzu ausgeprägt ist, sonst bräuchten wir dieses Gespräch gar nicht zu führen.“ Er schnaubte entrüstet und seine wulstigen Lippen flatterten.
In Sams Kopf drehten sich die Worte des Beamten, vermischten sich mit den Zahlen und Daten, ergaben keinen Sinn. Sie wollte etwas erwidern, doch ihre Zunge konnte die Worte nicht finden.
„Aber… Sie wissen all das aus einm Abtrich?“, flüsterte sie schließlich mit erstickter Stimme.
„Mrs. Black, jetzt muss ich Sie aber bitten! Das Roborakel kennt alle Daten. Es hat jede Sequenz der DNA ihres Fortpflanzungsversuchs entschlüsselt und bis ins letzte Detail analysiert. Das Roborakel irrt sich nicht. Die Vorhersagen erfüllen sich zu einhundert Prozent, das hat es mehr als einmal bewiesen. So und deshalb kommen wir nun auch zum Kern unserer Verabredung hier.“ Johnson räusperte sich und zog geräuschvoll die Nase hoch.
„Was das Roborakel vorhergesagt hat, habe ich Ihnen ja nun schon erläutert. Sie haben Glück, denn der Schaden, den ihr Fortpflanzungsversuch verursachen wird, ist vergleichsweise gering. Wir haben keine größeren Straftaten, keine Krankheiten, Unfälle, übermäßige Hässlichkeit oder sonstige Anomalien, die nicht wünschenswert wären und der Gesellschaft Kosten bereiten würden. Von daher können Sie jetzt eine Anzahlung von einhundertzwanzigtausend Dollar vornehmen, mit denen die größten sozialen und ökologischen Kosten ihres Fortpflanzungsversuchs abgedeckt werden. Es wird sich natürlich nicht darauf beschränken, das ist klar, aber es dient uns als Absicherung.“
Johnson wischte das Visi-Pad beiseite und seine Augenbrauen wanderten seine Glatze immer weiter hinauf.
Einhundertzwanzigtausend Dollar.
Sam hatte es bei der gigantischen Summe den Atem verschlagen. Kalter Schweiß brach ihr aus. Der Raum begann sich zu drehen. Sie könnte niemals so viel Geld auftreiben. Es war unmöglich. In ihrem Bauch begann sich das Kind zu regen, was dazu führte, dass die Übelkeit zunahm und der Raum sich schneller und immer schneller drehte.
„Mrs. Black?“ Sichtlich genervt klopfte Johnson vor ihr auf den Schreibtisch. „Mrs. Black, jetzt reißen Sie sich bitte zusammen, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“
Sam hörte ihn, doch es war, als sei er in weiter Ferne. Auf einmal wurde das leise Sirren der Deckenbeleuchtung, das sie vorher gar nicht bemerkt hatte, sehr laut, schwoll zu einem gewaltigen Sturm an, der alles übertönte. Die junge Frau schüttelte den Kopf, um das Gefühl des Ertrinkens loszuwerden, doch es gelang ihr nicht.
„Vielleicht sollten Sie Mr. Black anrufen, um die Angelegenheit eben mit ihm zu besprechen“, schlug Johnson eine halbe Welt entfernt vor.
„Nein“, krächzte Sam. „Das ist nicht nötig – bitte!“
„Dann nehmen Sie das Angebot an?“ Johnsons Stimme hatte jede Nuance vorgetäuschter Freundlichkeit verloren.
„Nein ich-“
„Ich habe genug, Mrs. Black, ich werde ihn jetzt anrufen.“
„Das brauchen Sie gar nicht erst zu versuchen“, murmelte Sam. Sie spürte, wie heiße Tränen sich in ihre Wangen brannten. Der Schwindel hatte sich etwas gelegt, aber das Kind in ihr rebellierte. „Er hat mich verlassen. Er will mich nicht.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein sanfter Windstoß. „Oder das Kind.“
„Bitte, was?“ Johnson sprang beinahe in die Luft. Sein Kopf lief rot an, dass Sam sich für einen Moment sorgte, er würde zerspringen.
„Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?“ Wie ein Irrer hämmerte der Beamte auf das Visi-Pad ein. Schweißperlen bildeten sich auf der polierten Glatze und glänzten im Schein des künstlichen Lichts. Sam nahm von alldem nichts mehr war. Um sie herum verschwamm alles im Nebel, nur das Emblem des Roborakels hinter Johnsons Schreibtisch schaute kühl und anteilslos auf sie hinab.
Plötzlich flackerte etwas Rotes vor ihr auf. Johnson schüttelte erbost den Kopf, als er die Ansicht seines Visi-Pads mit ihr teilte
FAIL.
Das Wort stand, weiß auf rot, quer über den Statistiken und Diagrammen, die Johnson ihr noch so eben gezeigt hatte.
FAIL.
In Sam krampfte sich alles zusammen. Ein Abgrund tat sich unter ihr auf und sie stürzte ins bodenlose Nichts. Sie wollte schreien, doch kein Laut verließ ihre staubige Kehle.
„Es tut mir sehr leid, Mrs. Black, aber das ändert die Datenlage fundamental. Ein vaterloses Kind! Ich will mir gar nicht vorstellen, was für Kosten das für die Gesellschaft bedeutet. Und die Folgeschäden! Da kann ich nichts für Sie tun. Bitte gehen sie nach nebenan, dort wird man sich um Sie und Ihren Fortpflanzungsversuch kümmern.“
FAIL.
"Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag, Mrs. Black. Wenn Sie nun bitte gehen würden?“
FAIL.
„Mrs. Black?“
FAIL. FAIL. FAIL. FAIL.
Johnson seufzte, seine Geduld war am Ende.
„Security?“
Eine zweite Tür glitt auf und zwei stämmige Männer in weißen Kitteln kamen hinein. In diesem Moment kam Sam zu sich.
„Nein, das können Sie nicht machen!“, japste sie. „Das ist mein Kind! Es lebt und es gehört mir!“
„Bitte bringen sie Mrs. Black in das Nebenzimmer“, richtete sich Johnson gelangweilt an die beiden Männer. „Ihr Fortpflanzungsversuch ist soeben offiziell gescheitert. Bitte entfernen Sie es aus ihrem Unterleib.“
„Nein!“ Sam bäumte sich auf, als die Finger der Männer sich in ihre Oberarme bohrten. „Das können Sie nicht machen!“
„Doch Mrs. Black, das können wir!“ Johnson schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte und funkelte sie wütend an.
„Das Roborakel irrt nicht. Eine solche Gefahr wie das Ding, das Sie noch mit sich herumschleppen, ist für unsere Gesellschaft nicht tragbar. Und nun, einen guten Tag noch!“
Damit zog er demonstrativ das Visi-Pad vor sein Gesicht und machte eine unwirsche Handbewegung in Richtung Tür.
Sam schrie. Sie trat und wandte sich im Griff ihrer Wärter, doch sie konnte ihnen nicht entkommen.
„Geben Sie der Frau etwas zur Beruhigung, das ist ja nicht zu ertragen“, brummte Johnson noch. Dann schloss sich die Tür hinter ihr.