Ins kalte Wasser
Das war die dümmste Idee, die Argon je hatte. Und wie ausnahmslos jeder wusste, war sein Leben eine einzige Reihe unüberlegter Einfälle. Doch dieser war mit Abstand der Dämlichste.
Kopfschüttelnd stapfte er weiter durch die Bäume. Der Lärm an den Lagerfeuern hinter ihm ließ etwas nach und er erreichte den Rand der Klippe. Vorbeiziehende Wolken bedeckten den ganzen Himmel. Nur ab und zu spitzten der Mond oder ein Stern dazwischen hervor. Er ging vorsichtiger. Es wäre das Dümmste, was ihm jetzt passieren konnte, wenn er angetrunken beim Austreten die Klippe hinabstürzte und damit aus dem Leben trat. Argon schnürte seine Hose auf.
Er musste sein Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Er musste einen Weg aus diesem ganzen Schlamassel finden. Bestimmt gab es einen. Es gab immer einen. Aber er brauchte einen, der ihm erlaubte, sein Gesicht zu wahren. Er konnte nicht einfach nein sagen und hoffen, dass dann alles wieder beim alten wäre. Elivia würde es nicht zulassen. Sie würde ihn töten. Argon war sich nicht sicher, ob er Elivias Diener gewachsen war. Der Kerl schien zwar noch dümmer zu sein als Argon selbst, aber er überragte alle anderen Männer um zwei Köpfe und seine Oberarme waren stark wie junge Bäume. Nein, auch wenn Argon ein hervorragender Krieger war, es auf einen Kampf mit diesem Ungetüm ankommen zu lassen, war kein Ausweg.
„Ah…,“ seufzte Argon erleichtert. Wie lange es wohl dauerte, bis er das Plätschern hier oben hören würde? Wahrscheinlich konnte er es gar nicht hören, weil die Meute hinter ihm lautstark das Lied über die Bastarde vom Berglöwenvolk sang. Verdammte Spinner! Wie konnte man nur ernsthaft glauben, dass man von einem echten Berglöwen abstammte und daher besser wäre als alle anderen? Argon musste beim Gedanken an diese arroganten Vollidioten ausspucken.
Andersherum, wenn er nicht nein sondern ja sagte, dann würde sie ihn auch töten. Zwar etwas später und wie man hörte nach einigen langen, wilden Nächten, die sich durchaus lohnen mochten, aber sie würde ihn töten. Nicht umsonst nannte man sie die rote Elivia. Trauerrot stand ihr ausgezeichnet, das musste jeder Mann zugeben. Und die meisten Frauen auch. Es ging das Gerücht um, dass Elivia nicht nur Männer mit ins Bett nahm. Argon konnte sich das nicht so richtig vorstellen. Immerhin fehlte den meisten Frauen etwas. Gut, dafür hatten sie andere Vorzüge…
Argon schüttelte den Kopf. Anscheinend hatte er schon mehr getrunken als ihm bewusst war. Oder sie hatte ihm etwas ins Bier geschüttet, was seinen Geist in ungewohnte Bahnen lenkte. Ob sie schon vor der Hochzeit damit anfing, ihre Männer zu vergiften? Argon wäre ihr fünfter Mann. Zumindest hatte er von vier anderen Hochzeiten gehört. Wie viel Wahres daran war, konnte er nicht sagen. So jung wie Elivia aussah, konnte sie eigentlich höchstens einmal verheiratet gewesen sein. Andererseits waren da noch die dunkleren Gerüchte. Sie erzählten von schwarzer Magie in mondlosen Nächten, davon, dass Elivia eine Hexe war, die ihren Liebhabern ihre Lebenskraft raubte und sich so ewig jung hielt.
Das Lied an den Lagerfeuern kam zum Ende. Für einen Augenblick war Stille. Argon war dankbar dafür. Er lächelte. Dann hörte er das Plätschern. Er grinste und schloss die Augen.
Vielleicht war das doch der Ausweg. Einfach einen Schritt nach vorne wagen, den Sprung ins kalte Wasser. Was sollte schon passieren?
Sofort fielen im tausend Sachen ein. Er konnte sich an einem Stein den Schädel einschlagen und augenblicklich tot sein. Oder schlimmer, er brach sich beide Beine. Wenn seine Leute ihn dann fänden, dann wäre er ein Krüppel und müsste immer noch heiraten. Ob er dann noch wilde Nächte mit Elivia verbringen würde, bevor sie ihn aus dem Weg schaffte? Noch schlimmer wäre, wenn er...
Argon schnaubte. Was dachte er hier eigentlich? War er bescheuert? Natürlich war er das. Sonst würde er jetzt nicht hier stehen und darüber nachdenken, wie die schönste Braut der Welt mit seinem eigenen nahenden Tod zusammenhing und ob ein selbstmörderischer Sprung in eine dunkle Schlucht mit einem reißenden Fluss ihm das Leben retten konnte.
Argon schüttelte ab und schnürte seine Hose wieder zu. Hinter ihm stimmten sie an den Feuern lautstark das erste Hochzeitslied an. Es war höchste Zeit, dass er zurück ging. Die schönste und vielleicht tödlichste Frau der Welt wartete aufihn. Er drehte sich zum flackernden Schein der Lagerfeuer um und ging langsam wieder auf die Bäume zu.
Es war wirklich die dümmste Idee in Argons Leben gewesen. Siegestrunkene Männer und viel Bier war nie eine schlaue Kombination, auch wenn die Mehrzahl der Männer das anders sah. Natürlich war eine Frau wie Elivia begehrenswert, geradezu ein Traum. Aber welcher Mensch konnte wirklich wollen, dass ein Traum, der so schön war, wahr würde? War das Träumen nicht immer schöner als das Aufwachen? Vielleicht wäre Argon schon tot, wenn er am Morgen aufwachte. Das war das letzte, was er wollte, dessen war er sich sicher.
Ohne weiter darüber nachzudenken, drehte er sich wieder um und sprintete los. Wie weit war es noch gleich bis zur Klippe? Ah, hier kommt sie…
Argon blieb an einem Stein hängen, stolperte und sprang völlig unkontrolliert in die Dunkelheit. Dann fiel er.
Das Hochzeitslied wurde schlagartig leiser, das Rauschen seines drohenden, nassen Todes lauter und Argon dachte bei sich, dass das schon immer sein Problem gewesen war. Er dachte die Dinge nicht zu Ende.