Es gibt 46 Antworten in diesem Thema, welches 8.980 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (14. Juni 2020 um 21:47) ist von McFee.

  • Hallo Der Wanderer,

    hatte schon befürchtet, dass diese Zitate fäkaliter etwas zu starker Tobak sind für solch eine gebildete Leserschaft und ich verbaliter Prügel beziehe. Jetzt bin ich beruhigt.

    Bleib gesund!

    McFee

  • 7

    Dafür hatte sich das Volk jetzt vor der rechten Bühne versammelt, auf der ein Mann mit einem unmäßig geschwollenen Bauch stöhnend auf einem Stuhl hockte, und harrte lachend und schwatzend der Dinge, die da kommen würden.

    „Ziemlich mutig, dein Vater“, meinte Kevin, „hat er nicht Angst, Schwierigkeiten mit dem Hochweisen Rat zu bekommen?“

    „Solange er die Narrenfreiheit einhält, nicht, und die überschreitet er nicht eine Sekunde! Der Rat weiß sehr gut, was er an ihm hat. Die Leute sind mit den Verhältnissen unzufrieden und fangen bereits an zu murren. Und solch ein Schmäh nimmt für eine Weile Druck vom Kessel.“

    Jetzt bestiegen drei Männer die Bühne und bauten sich vor dem Dicken auf, der sich leise jammernd den Bauch hielt. Der größte von ihnen war wie ein Arzt gekleidet, die beiden anderen, wohl seine Knechte, trugen Gewänder nach der üblichen Landestracht.

    Der Lange trat vor und rief:

    „Hochlöbliches, ehrenwertes und frommes Publikum!

    Seht und hört das Spiel vom Kranken,

    der zu viele verdorbene Kuddeln gegessen hat und nun fürchterlich leiden muss!

    Aber ich, der hochberühmte, hochweise, hochgelahrte, hochfahrende,

    tapfere, galante, zu Fuß und Pferd gerechte Kavalier und Magister

    STOFFELIUS RABENBEIN

    weiß ein Mittel, den armen Mann, der gerade die Bekanntschaft mit dem Teufel macht

    (hier stöhnte der Dicke entsetzlich auf), zu kurieren! Hier ist es!“

    Bei den letzten Worten brachte der Schreihals eine Glasflasche mit einer trüb-milchigen Flüssigkeit hervor, die er prüfend hin- und herschwenkte. Dann zog er den Stöpsel ab, roch daran und brach in drollige Verzückung aus. „Hmmm, wie das riecht und duftet!“, rief er, „oh, wie ein Rosengarten, herrlich wie eine Sesamstraße, betörend wie eine Wiese im Mai! Dabei ist es nur ein altes Mittel gegen Verstopfung und Überfülle des Leibes!“

    Er wandte sich dem Kranken zu. „Hier, Herr, trinkt das, dann wird es Euch besser gehen!“

    Der Kranke nahm das Glas, roch daran und verzog angeekelt das Gesicht. „Pfui Deibel“, rief er, „nichts da! Ihr wollt mich wohl vergiften!“

    „Aber nicht doch, lieber Herr! Wie kommt Ihr auf vergiften! Das ist doch Euer Morgenurin, frisch aus Eurem Nachttopf, vermischt mit einer gehörigen Tracht Buttermilch, ein uraltes Hausmittel! Hat schon meine Mutter genommen, als sie von gebratenen Lammkeulen, eingelegten Trüffeln, geräucherten Ochsenbacken, geselchten Schweinshaxen so voll war, dass sie nicht niederkommen konnte!“

    „Mit Euch?“

    „Herr, wär ich dann auf der Welt? Trinkt jetzt!“

    „Nein, nein, und nochmals nein! Ich weiß genau, Eure Großmutter ist daran gestorben, denn sie lebt nicht mehr!“

    „An Altersschwäche, mein Freund, sie starb an Altersschwäche, und nicht an ihrem Urin, denn ich hab sie nie pissen gesehen!“

    „Ha! Das sagt Ihr jetzt, wo´s niemand bezeugen kann! Bei allen Heiligen! Ihr habt sie verdursten lassen! Denn es ist erwiesen, wer nichts trinkt pisst auch nicht.“

    „Ihr redet wie ein Magister der Urinologie! Trinkt jetzt!“

    „Nein!“

    Auf einen Wink des Arztes sprangen die Knecht herbei, hielten den Kopf des Dickbäuchigen fest und schütteten ihm den Ihnalt der Flasche in den Mund. Der schluckte, schnaufte, prustete, dann schrie er: „Verdammte Schurken, Euch soll der Teufel holen!“

    „Wer ruft mich?“

    Eine Klappe im Boden öffnete dich, ein weiß angemaltes Gesicht mit pechschwarzen Haaren erschien und blickte sich um. „Ha!“, rief das Gesicht, „wo bin ich hier? Die Hölle ist´s nicht – da komm ich ja gerade her – übrigens ziemlich eng da unten, der Himmel ist´s nicht – da will ich auch nicht hin, denn ich will ja nicht im Schimpf* zugrunde gehen – also, wo zum Teufel bin ich hier?“

    „Auf dem Lambertiplatz in Lüneburg, Teufel!“, rief eine Kinderstimme.

    „Wer bist du, mein Kind?“

    „Ich bin Hinnak Babendererde. Bist du der Teufel?“

    „Ja, der bin ich! Ich bin Satanas, der Herr der Unterwelt!“, rief der Teufel mit Stentorstimme.

    Jetzt sprang auch der Rest, eine schwarz gekleidete Gestalt, heraus und verbeugte sich. Ganz eigenartig war der Anblick, als sie sich wieder aufrichtete: Vor dem mit dunklen Tüchern verhängten Hintergrund war nur das weiße Gesicht zu sehen, das durch die Luft schwebte. Eigenartig war auch die Reaktion des Publikums; es begrüßte den Teufel wie einen alten Bekannten; Worte fielen wie: Hast auch schon mal besser ausgesehen, Teufel; was macht den deine Großmutter; wenn man vom Teufel spricht ist er auch schon da und dergleichen mehr. Aber auch der Teufel ließ sich nicht lumpen und zahlte mit barer Münze; „he, du da“, rief er, „willst meine Großmutter sehen? Komm mit, ich zeig sie dir! Hat Haare auf den Zähnen, damit kehrt sie die Hölle aus, und einen Buckel wie eine Wendeltreppe! Hab übrigens noch ein paar Plätze frei, müsst euch aber beeilen, sonst sind sie belegt! Gehen nämlich weg wie die warmen Semmeln! Ha, meine Kalfater°, die hacken schon tüchtig Holz, euch gehörig einzuheizen!“

    „Nein danke!“, rief jemand, „uns ist warm genug! Könnte sogar ein wenig kühler sein!“

    Der Arzt fragte den Patienten: „Nun, mein Freund, geht es Euch besser? Verspürt Ihr bereits Luft? Dann nur heraus damit, auch ein kleiner Wind kann das Wetter ändern!“

    Doch der Patient fing wieder an zu jammern und sich den Bauch zu reiben. „Ohh... AHHH... HUUU... wie das kneift und zwickt, wie das kneift und zwackt... lang halt ich´s nimmer aus!“

    „Dann hilft nur eins!“, rief der Arzt über Menge hinweg, „Teufel, das Werkzeug!“

    Der schwarze Mann mit dem weißen Gesicht zog ein riesiges Messer aus dem einen Ärmel seines weiten Gewandes, eine große Zange aus dem anderen, hielt beides hoch und rief: „Seht ihr´s, Leute? Seht ihr das Werkzeug? Damit wird er aufgeschnitten, der Satansbauch, und alles Überflüssige wird gnadenlos herausgezogen! Wenn das nicht hilft, hilft nichts!“

    Die Menge stöhnte wohlig auf, doch Taifan rief: „Nee, nicht schon wieder! Mir reicht´s jetzt! Dieses ewige Stechen, Schneiden und Brechen halt ich nicht mehr aus. Ich gehe!“

    „Mannomann, bist du blind“, fuhr sie Kevin an, „mach deine Gucker doch mal richtig auf! Messer und Zange sind angemaltes Holz!“

    „Ist mir doch wurscht! Mir reicht schon der Anblick!“

    „Es ist eine Komödie“, griff Ursula ein, „heißt 'Das Narrenschneiden' und ist völlig harmlos. Ein famoser Erfolg der Truppe. Dies ist jetzt schon die zehnte Aufführung hintereiander. Lass uns doch wenigstens –“

    Ein Schrei schnitt Ursula die Rede ab. Er kam von dem dicken Komödianten, dem die beiden Knechte ein Tuch über den Kopf warfen und festhielten. Der 'Arzt' trat an den zappelnden Patienten heran, tat so, als schnitte er ihm den Bauch auf, setzte die Zange an, zum Vorschein kam – eine Puppe mit wirren Haaren und schlacksigen, wurstförmigen Giedmaßen, aus deren Rumpf Stroh herausquoll.

    Der Gegensatz zu den vollmundigen Ankündigungen des Teufels brachte sogar Taifan zum Schmunzeln.

    Der Doktor fasste die Puppe am Schopf, hielt sie hoch und rief: „Das ist Gula, die Mutter der Völlerei! Schaut sie an, wie ihr die Därme heraushängen! Kein schöner Anblick, wie? Vom Übermaß an Nahrung, will sagen, vom Fressen ist ihr der Bauch geplatzt!“ Wieder setzte er die Zange an und zog die nächste Puppe heraus. „Was haben wir doch hier? Aha, Superbia, des Stolzes hässliche Braut! Und hier Invidua, der Neid, und hier... und hier...“ Im hohen Bogen flogen die Puppen heraus, wobei der Bauch des Patienten immer mehr abnahm.

    „Wie machte er das?“, tuschelte Kevin Ursula ins Ohr, „ich dachte, es wären Kissen.“

    „Er hat aufgeblasene Ziegenbälger unter dem Hemd und lässt die Luft heraus.“

    „Hey!“, rief Kevin vergnügt, „allmählich begreife ich, wie Mittelalter funktioniert!“

    Jetzt steckte der Arzt die Hände in den Bauch seines Patienten, wühlte mit ah! und oh! darin herum. Schließlich zog er ein Bündel hölzerner Figuren heraus. „Ein Advokat!“, rief er und warf die Figur auf dem Bühnenboden, „und hier ein Mönch...!“

    „Was kommt jetzt!“, fragte Kevin.

    „Die moralische Belehrung“, antwortete Ursula, „warum die Laster der Seele schaden und dass die Obrigkeit, obwohl sie einem machchmal quer vor dem Magen liegt, von Gott gesandt ist.“

    „Puh, ist das langweilig!“, stöhnte Taifan, „kommt, lasst uns gehen.“

    „Eins noch, bitte.“ Kevin. „Was wird auf der dritten Bühne gegeben?“

    „Ein Mysterienspiel“, sagte Ursula. „Das Leiden, Sterben, Wiederauferstehen und die Himmelfahrt unseres Herrn Jesus Christus, mit Trommeln, Zinken, Krummholzen und allerlei wundersamen Begebenheiten.“ Ihrer Stimme war anzuhören, wie sehr sie das Thema bewegte. „Noch bis vor wenigen Jahren fand es in der Johanniskirche statt, doch seitdem der Andrang an Ostern so groß ist, wird hier draußen gespielt.“

    Ursula wandte sich ab, um eine Bekannte zu begrüßen.

    Kevin grinste.

    „Was grinst du so?“, zischte Taifan, „heilige Dinge sind nicht lächerlich, auch wenn einer wie du nicht daran glaubt.“

    „Glaubst du denn?“

    Taifan zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht... Hab noch nicht darüber nachgedacht... Irgendetwas Wahres wird schon dran sein.. Trotzdem kein Grund zu grinsen.“

    „Ich grins ja auch nicht darüber.“

    „Sondern?“

    „Ich stelle mir vor, wie der Auferstandene aus dem Grab fährt und in den Himmel aufsteigt.“

    „Und?“

    „Eine Klappe im Boden öffnet sich, und sie ziehen ihn in wallende Tücher gewickelt an Seilen zum Dach hinaus.“

    „Genauso ist es!“, bestätigte Ursula, die wieder bei ihnen war. „Die Wirkung ist nach wie vor umwerfend. Die Leute umarmen sich, fallen auf die Knie, loben und preisen den Herrn, manche vergießen Tränen.“

    „Versteh ich nicht“, brummelte Kevin, „sind die Leute wirklich so fromm oder tun sie nur so?“

    „Was meinst du?“

    „Ich... ähhh... wundere mich. Einerseits diese himmel... himmel...“

    „... hochjauchzende...“

    „... himmelhochjauchzende Gläubigkeit, dann wieder diese rohe Ausdrucksweise... da wird gefurzt, geschissen, gekotzt, gef... dass einem die Ohren klingen.“

    „Dir auch gerade!“, murmelte Taifan.

    „Ich weiß nicht, was du willst“, meinte Ursula. „Die Leute reden halt so. Sogar die Prälaten machen da keine Ausnahme. Letzten Sonntag noch redete der Prediger in der Nikolai-Kirche von Männern aus dem Stamme Juda, 'so an die Wand pissen'+.“

    Kevin blickte Ursula erstaunt an. „Du redest wie eine... wie eine...“, stammelte er.

    „Na, mein Lieber, immer noch nicht kapiert? Wie red ich denn? Frisch, fromm, fröhlich, frei, wie die Tochter eines freischaffenden Stadtnarren!“

    „Leute, ich kann nicht mehr“, stöhnte Taifan, „kann man sich vielleicht hier irgendwo ein Weilchen hinlegen? Ich hab das Gefühl, mein Rücken bricht gleich durch.“

    „Ja, im Badhaus. Eine Muhme von mir arbeitet dort als Küchenfee, die wird uns bestimmt eine Bank freimachen.“

    Kevin, lachend: „Eine Muhme als Küchenfee in einem Badhaus! Noch nie gehört! Klingt ja hochinteressant! Hihi, hab das Gefühl, dass es da ziemlich hoch hergeht! A propos Küchenfee... was sind eigentlich Kuddeln, und wieso kann man sich daran so fürchterlich den Magen verderben, dass man wie ein Kürbis aufschwillt?“

    „Kuddeln sind Klöße aus den Eingeweiden fetter Schlachttiere. Bei der gegenwärtigen Hitze verderben sie schnell und fangen an zu stinken, deshalb müssen sie schnell gegessen werden. Und wenn einer davon zu viel isst... einem Neffen von mir ist auf diese Weise der Bauch geplatzt.“

    „Ach! Und, lebt er noch?“

    „Das schon. Aber sein Bauch ist jetzt so schlaff wie ein leerer Hafersack.“

    „Na dann! Auf zum Badhaus!“

    _________________________

    *Müßiggang

    °Heizer

    +Hier irrt Ursula. Der Prediger lebte ein Hektojahr später und hieß Martin Luther.

    Forts. folgt

    Einmal editiert, zuletzt von McFee (19. April 2020 um 11:37)

  • 8

    Dem Badhaus sah man sein Alter an. Es war ein windschiefes, zweigeschossiges Fachwerkhaus mit Butzenfenstern, einem Fundament aus Hausteinen und mit Efeu berankt. Verschüchtert duckte es sich an die Stadtmauer und qualmte heftig aus dem Schornstein. Aus dem kleinen Garten neben dem Haus ertönte frohes Lachen; leicht betuchte oder auch nicht betuchte Männlein und Weiblein jeglichen Alters sprangen mit hitze-geröteter Haut um einen einen Brunnen herum und begossen sich mit kaltem Wasser.

    Ursula führte unsere beiden Freunde an den Reinigungsbädern vorbei auf eine Galerie im Obergeschoss, von wo aus sie die zentrale Badestube mit den Wannen- und Schwitzbädern überblicken konnten. In großen Zubern saßen paarweise Männer und Frauen, ein langes Brett mit Bechern und Tellern zwischen sich, aßen und tranken, scherzten und schäkerten, wobei es ziemlich deftig herging. Weiß gekleidete Frauen mit großen Hauben auf dem Kopf sorgten dafür, dass die Teller und Becher nicht leer wurden.

    „He, Koch!“, brüllte einer, „für mich ein Dutzend Wachteleier, aber dalli!“ – „Wo bleibt der geselchte Schafskopf?“, ein anderer. – „Selber Schafskopf!“ – „Hoho, das nimmst du sofort zurück, Schwager!“ – „Hallo, Jungfer Theuerkauff! Die Butte hier gefüllt, aber nicht mit Wasser! Muss die Kaldaunen von heute Morgen feucht halten, vertragen keine Trockenhei!“ – „Alter Trinkaus, sauf nicht so viel, sonst pisst du noch in den Zuber!“ – „Da hab mal keine Sorge, Onkel, geht alles ins Blut, in der Blase kommt nichts an!“ – Eine Frauenstimme kreischte: „IHHH! Herr Nachbar, nehmt gefälligst Euer Bein von meiner Hüfte!“ – „Ist nicht mein Bein, mein Täubchen, ist mein –“

    So ging es lustig hin und her.

    In dem gepflasterten Gang davor standen plaudernd zwei schwarz gekleidete Herren, dabei gingen ihre kecken Blicke eifrig hin und her; zwei pudelnackte Kinder spielten mit einem Hund, dem immer wieder Essensreste vorgeworfen wurden. In einer Nische mühte sich ein schwitzender Sänger mit seiner Laute ab. Angenehme Düfte von aromaischen Kräutern und harzigen Essenzen erfüllten die Luft. Und da war auch ein weicher, sanfter, süßer Geruch, der Kevin bekannt vorkam, nur wusste er im Moment nicht woher.

    „Dort hinten, über den Dampfbädern, sind Sitzbänke, da könnt ihr euch ausruhen“, sagte Ursula, „ich schau mal nach meiner Gevatterin!“

    Eines der kleinen verglasten Fenster wurde dunkel, ein bärtiges Gesicht erschien und betrachtete mit Stielaugen die Szenerie. Nach einiger Zeit geriet der Kopf, zu dem das Gesicht gehörte, in verdächtige rhythmische Bewegungen...

    Das Schwitzbad unter ihnen war mit Tüchern verhängt, dahinter prustete und klatschte es munter; auch ein mit wenig Fantasie begabter Mensch konnte sich vorstellen, dass dort nicht unbedingt nur Körperpflege – zumindest nicht nur zum Zecke der Reinigung – betrieben wurde.

    Taifan ließ sich sofort auf eine Liege fallen und machte sich lang. „Ah, tut das gut“, stöhnte sie, „noch einen Schritt mehr, und ich wäre umgefallen!“

    Kevin betrachtete seine Schwester. „Siehst auch ziemlich migenommen aus, Schwesterchen“, sagte er, „ruh dich aus, dann wird´s schon wieder. Ich vermute mal, Ursula hat noch einiges mit uns vor –“

    Er stutzte. Jemand ganz in ihrer Nöhe sagte: „Hei! Hallo Jungfer! Warum so eilig! Setzt Euch doch!“

    Taifan dreht sich um. Die Bretterwand hinter ihnen war offensichtlich so dünn, dass man jedes Wort verstehen konnte.

    „Mein Herr, was wollt Ihr?“

    „Mit Euch plaudern!“

    „Ich bin ein ehrbares und tugendhaftes junges Fräulein –“

    Kevin legte den Finger an den Mund und grinste. „Pssst“, flüsterte er, „klingt vielversprechend!“

    „Und ich ein tugendhafter sittsamer junger Mann!“, kam es durch die Wand.

    „Nur plaudern? Die Mutter wartet –“

    „Ach was! Mir gefällt Euer Gesicht! Es ist schön und glatt wie das Antlitz eines Engels.“

    „Woher wisst Ihr das? Ihr habt es ja noch gar nicht richtig gesehen!“

    „Das Wen´ge, was ich sah, verschlägt mir schon den Atem. Es ist die Laute und nicht das Futteral wie bei den anderen.“

    „Welche anderen meint Ihr, Herr?“

    „Ähh... hmm... war nur so dahergesagt.“

    „Redet keinen Unsinn!“

    „Na gut. Meine Schwestern.“

    („Arschloch!“, murmelte Taifan,)

    Schweign. Dann die Frauenstimme: „Euch gefällt mein Gesicht?“

    „Bei Gott! Ich schwöre! Hab doch Augen im Kopf und kann im hellen Tag eine Kirche schon von Weitem von einem Ziehbrunnen unterscheiden!“

    Lachen. „Ihr seid ein Narr und Aufschneider!“

    „Ihr nennt mich Narr? Ich bin nur frei! Zu viel der Sorge tut nicht gut, macht bleich und dürr und dünnt das Blut!“

    „Und ein Komödiant dazu!“

    „Wie kommt Ihr denn darauf?

    „Warum redet Ihr denn so?“

    „Da habt Ihr Recht! Bin ein Komödiant, der ein herzig Fräulein fand! Jetzt nehm ich´s bei der Hand – – he du da! Bring Wein, aber vom besten!“

    (Taifan, leise: „Der geht aber ran!“)

    Man hörte das Rascheln von Kleidern und das Knarren von Holz.

    (Kevin: „Und wie man hört, nicht ohne Erfolg!“)

    „Guter Herr, nicht so stürmisch! Ich will sanfter beworben werden! Bin doch kein Stück Holz, das man ohne zu fragen verheizt!“

    (Taifan: „Die weiß genau, was sie will!“)

    „Na gut, dann sing ich Euch ein Lied!

    Was ist die Liebe doch so flüchtig!

    Gleich genossen ist vernünftig,

    Was noch kommen soll ist weit!

    Welcher Mensch könnt sagen doch:

    Morgen, Lieber, lebst du noch?

    Wenn ich zaudre, dann verscherz ich;

    komm denn, Liebchen, küss mich herzig,

    Jugend hält so kurze Zeit!“

    (Kevin, grinsend: „Und man ist so lange tot!“)

    „Hahah, Lied nennt ihr das? Wäret Ihr ein Hund, hätte man Euch wegen dieses Gejaules erschlagen!“

    „Ich kann´s nicht besser.“

    „Dann singt nicht mehr.“

    „Aber gerne! Dein Urteil, schönste aller Frauen, sei mir Befehl!“

    Heftiges Keuchen, dann: „Der Schimmer deines Nymphenfleischs bringt mich noch um den Verstand!“

    „Finger weg, sonst schreie ich!“

    (Kevin: „Ha, da bin ich aber gespannt!“)

    „Dann schrei doch! Der Bader hört schlecht, und die Gäste stellen sich taub!“

    „Das geht mir etwas zu schnell! Ich brauch Besinnung.“

    „Unsinn! Ich seh es doch am Tempo deiner Atemzüge, dass du es magst! Bin ich ein ungewollter Eindringling, dann sag es nur, und ich werde Mönch!“

    Spitzes Lachen. „Ihr und Mönch! Eher mache ich einen Spaziergang in den Schuldturm.“

    „Erhöre mich, und der Schuldturm bleibt dir erspart.“

    Das Knarren verstärkte sich.

    (Kevin: „Hoffentlich hält die Bank!“)

    „Herr, seid Ihr wahnsinnig?“

    „Ja, das ist das rechte Wort! Wahnsinnig! Ja, ich bin wahnsinnig wahnsinnig! Nach dir, mein schönes Kind! Komm. lass mich deine Grotte –“

    „Sprecht leise, ich glaube, man belauscht uns. Da nebenan hat gerade jemand geflüstert.“

    „Na wenn schon! Warum soll ich leise sprechen? Ich sag nichts Unanständiges, ich sage nur, was ich allen sage.“

    Taifan: „Mir reicht´s jetzt! Der aufgeblasene Kerl ist ja widerlich! Und die Frau – eine Schande! Sowas muss ich mir nicht anhören.“

    „Dann halt dir doch die Ohren zu oder nimm ´ne andere Bank. Ich schau mir den Laden hier mal näher an.“

    „Bist du denn garnicht müde?“

    „Ein bisschen schon, aber ich werd doch diese einmalige Gelegenheit nicht verpennen!“

    Kevin tätschelte seiner Schwester liebevoll die Wange. „Na dann bis gleich, alte Zicke“, und weg war er.

    Forts. folgt

  • *

    Kevin ging wieder hinunter ins Untergeschoss, zu den Badezubern mit den Tischen, an denen heftig geschnäbelt, gescherzt, gegessen und getrunken wurde. Da er jetzt nicht den Helden spielen musste, setzte er sich in eine Nische, machte die Beine lang und legte sich wohlig zurück. Die beiden Schwarzdrosseln kamen auf ihn zu und setzten sich neben ihn, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Kevin wollte aufstehen und weggehen, doch jetzt merkte er, wie müde er war und blieb sitzen.

    „Die Gnade, die Gott uns erwies, indem er uns zu solch einem erhabenen Stande berief, ist eine überaus große, da die Schrift sagt, dass er die so Berufenen aus allem Fleische erlöst.“

    Was war das denn?

    Kevin blickte den Sprecher verwundert an. Es war ein älterer Mann mit glattem Gesicht, feisten Wangen und einer kahlen Stelle auf dem Kopf, offenbar ein Mönch. Im Badhaus?

    Indessen fuhr der Mönch fort: „Deshalb frage ich dich, mein Sohn, warum wähltest du gerade diesen Ort, den Ort der Sünde und des Fleisches, und nicht die Anstalt der Beichte oder des Gebetes?“

    „Ich habe, ehrwürdiger Bruder“, ließ sich jetzt eine jugendliche Stimme vernehmen, „lange überlegt, ob ich Euch diesen Ort zumuten kann. Zwei Gründe haben mich dazu verleitet: Primo, weil ich denke, dass Eure Andacht schon lange aus der Versuchung ist, secundo, weil ich mich prüfen will. Denn heute muss die Entscheidung fallen. Aber nur der, welcher die Gefahr kennt, kann ihr auch wirkungsvoll begegnen.“

    Kevin versuchte, einen Blick auf den Besitzer dieser jungen Stimme zu werfen, doch der verschwand neben dem dicken Mönch fast vollständig. Lediglich eine spitze Nase und ein langes Kinn mit einem Grübchen, in das eine Linse hineingepasst hätte, waren zu erkennen.

    „Recht gesprochen, mein Sohn! Ich war voll Verwunderung darüber, sagte mir aber, meiner Seele wird´s nichts schaden, also sei´s drum! Sprich, mein Sohn, was hast du auf dem Herzen!“

    „Ich brauche Euren Rat, ehrwürdiger Bruder. Ihr seid ein Mann Gottes, auserwählt, auserkoren, auserlesen –“

    „Ei, sprich!“

    „Ich bin im Zweifel, ob ich heiraten oder Priester werden soll.“

    Der Befragte schwieg, umso lauter war das Getümmel bei den Zubern mit den Tischen zu hören. Jemand rief: „Kenn ein probates Mittel gegen den Durst! Sei schneller als er, trinke, bevor er dich eingeholt hat, denn der Durst verliert sich durchs Trinken!“ – „He, Schenke, hierher und immer eingegossen! Die Zunge klebt mir am Gaumen! Das Austrocken ist keine angenehme Sache!“ – „Puh, schmeckt ja wie Fichtenholz!“ – „Hast Recht, Landsmann, der Tropfen ist nicht echt! Doch gut gepanscht ist halb veredelt!“ Dazwischen kreischende Frauenstimmen.

    Während die Trinksprüche so hin- und hergingen, fuhr der Mönch unbeirrt fort: „Mein Sohn, du verlangst meinen Rat; aber zuvor ist es nötig, dass du mir Auskunft über gewisse Dinge gibst. Item: Fühlst du den Stachel des Fleisches in dir? Sprich offen, du sprichst zu einem väterlichen Freund.“

    „Ach ja, nicht immer, aber zuweilen sehr, wenn Ihr es mir nicht übelnehmen wollt.“

    „Keineswegs, mein Freund, warum sollte ich? Wir sind alle Sünder! Quamquam... besitzt du in der Drangsal nicht das Gnadengeschenk der Enthaltsamkeit?“

    „Wenn ich ehrlich bin, dessen kann ich mich wohl weniger rühmen.“

    „Ei, das nenn´ ich brav gesprochen und nicht um den heißen Brei herumgeredet!“, rief der Mönch. „Nun, so ist es besser, du heiratest, mein Sohn! Denn wahrlich, es ist ehrenvoller zu heiraten, als unseren heiligen Stand zu verleugnen! Das Fleisch wird bei schwachen Menschen oft zum Raubtier, das ständig gefüttert werden will! Denn siehe, durch die Gnade des Herrn ist der Priester die Wohnung Gottes und das Keuschheitsgelübde ein Gefäß, in das er sich einschließt, um sich dieser Aufgabe würdig zu erweisen. Ja, wir können gewissermaßen sagen, dass wir Priester Gott hervorbringen und schaffen: Welch ein Grund zu ausgezeichneter Lebensführung! Der Priester muss ein königliches Amt üben, muss ein König sein, der seinen Leidenschaften gebietet, er muss sich selbst beherrschen, bevor er über andere herrscht. Denn wir Priester sind Könige auf Erden, doch nicht Könige, welche um des Herrschens Willen herrschen, sondern solche, die Christus auf den Armen tragen. Wer besäße so ein kostbares Reich? Daher tragen die Priester eine Krone* auf dem Haupte.“

    Kevin vernahm die letzten Sätze wie aus weiter Ferne, denn er war kurz davor, einzuschlafen. Da knallte es zweimal hintereinander, ein Sektkorken flog ihm vor die Füße, und überschäumendes Hallo! und Helau! erscholl. Er wollte aufstehen und weitergehen, denn was die beiden da verhackstückten, das war dann doch einfach zu abstrus. Allein diese Ausdrucksweise! Denn siehe, Stachel des Fleisches, item und quamquam... Doch es ging nicht, er kam einfach nicht hoch. Erschöpft ließ er sich wieder zurück auf die Bank fallen.

    Die beiden neben ihm schien der Lärm nicht zu stören. „Das Problem ist nur“, fuhr der Jüngere fort, „meine Familie hat mich für das Prieseramt bestimmt. Mein ältester Bruder ist bei den Soldaten des Herzogs, der zweitälteste macht bei den Fuggern in Nürnberg eine Banklehre, mein jüngster studiert Jura beider Rechte in Würzburg, und ein Oheim ist Arzt am Wiener Hof. Nur ein Priester, der für das himmlische Wohl der Familie sorgen soll, fehlt noch.“

    „Hmmm... dann ist deine Familie wohl sehr wohlhabend, wie?“

    „Nun ja, wir nagen nicht am Hungertuch.“

    „Dann ist es besser, du trittst in den geistlichen Stand ein.“

    „Danke, frommer Bruder! Nur was mach ich, wenn mich die Versuchung übermannt und die Geißel des Fleisches quält?“

    „Erneuere immer wieder deine guten Vorsätze, verdoppele deine Anstrengungen, wende alle Waffen des Geistes und des Körpers an, um die verkehrte Leidenschaft zu bekämpfen! Bete und faste, faste und bete! Geißle deinen Leib mit Riemen, bade in eisigem Wasser! Begib dich unter den Schutzschirm der heiligen Mutter Kirche! Denn der Herr spricht: Ich will deine Feinde verfolgen, bis sie überwunden sind! Es wird dir Mühe kosten, mein Sohn... nihilominus, das Himmelreich ist nicht das Reich der Trägen und Feigen, sondern der Standhaften. Wer Christus liebt, schält sich aus dem Fleische!“

    „Wie Ihr das so sagt, ehrwürdiger Bruder, hört es sich einfach an. Doch was mach ich, wenn ich mich nicht aus dem Fleische schälen kann? Ich merke schon, der Anblick dort –“

    „Dann heirate!“

    Der Junge klatschte in die Hände. „Also werde ich heiraten, abgemacht, und ich lade Euch hiermit zu meiner Hochzeit ein! Beim heiligen Sakrament, da wollen wir uns nichts abgehen lassen! Eine Hochzeitsschleife sollt Ihr kriegen, und, potztausend, eine Gans wollen wir schmausen, die meine Braut gebraten hat, mit brauner Soße und rotem Schmalzkraut.“ Der Junge schwieg abrupt. Dann: „Nur, was wird meine Familie dazu sagen? Die Enttäuschung wird groß sein, sie werden mich einen undankbaren, einen untreuen Sohn schimpfen, einen profugus**, und mir die Tür weisen!“

    „Dann werde Priester, mein Sohn! Denn auch die Familie ist heilig, und wer der Familie dient, dient Gott!“

    „Hmm... nun ja... das ist ein guter Rat, und ich bin Euch dafür dankbar. Gleichwohl... Ein vollkommen gottgefälliges Leben ist eine Köstlichkeit, die nur ganz wenigen begnadeten Menschen, so wie Ihr einer seid, lieber Herr Bruder, vergönnt ist. Doch ich fühle immer mehr, je länger ich in mich hineinhorche, dass ich nicht zu diesen Auserwählten gehöre. Versteht mich recht, ich will mich nicht davonstehlen wie der Dieb in der Nacht, aber ich befürchte, ich kann nicht!“

    „Dann tätest du besser daran, zu heiraten!“

    „Ja, meint Ihr? Ach, da fällt mir ein Stein vom Herzen! Ehrwürdiger Bruder, ich bin Euch ja so dankbar! Ihr seid wahrhaft ein Freund! Autem... da ist noch ein winziger Zweilel, ein klitzekleines Bedenken, ein harmloser Skrupel, der beseitigt werden muss. Kaum wag ich´s, es Eurer Andacht ins Gesicht zu sagen, aus Furcht, Ihr könntet mich auslachen.“

    „Der Herr verlacht nicht die Schwachen, er hilft ihrer Schwachheit auf.“

    Tum deinde. Wie kann ich sicher sein, dass meine Frau mich nicht zum Hahnrei macht, wenn ich einmal für längere Zeit von ihr abwesend sein muss und ihr keine natürliche Gesellschaft leisten kann? Allein der Gedanke daran schreckt mich!“

    „Ei, nicht jeder, der will, kann einen Hahnrei machen, das ist garnicht so leicht! Außerdem wüsst´ ich ein probates Mittel dagegen!“

    „Ihr meint einen Keuschheitsgürtel?“

    „Ganz recht, mein Sohn, fest geschmiedet und nicht zu locker, denn der Teufel nutzt die kleinste Nachlässigkeit, um ans Ziel zu gelangen.“

    „Hmm, da sagt Ihr nichts Falsches. Ein Keuschheitsgürtel... Nur was ist, wenn ich den Schlüssel verliere? Ist einem Nachbarn passiert, seitdem kackt seine Frau durch das Eisenloch und verschmiert sich dabei jedesmal den Hintern.“

    Der fromme Bruder machte ein abwehrende Handbewegung, „Mein junger Freund, warum so ängstlich? Nicht jeder Mann macht einen Hahnrei, und nicht jede Frau lässt sich hahnreien. Willst du ganz sicher vor der Hahnreischaft sein, gilt es einige Dinge zu beachten, die ich dir jetzt erklären werde. Also pass gut auf! Primo omnio solltest du eine Jungfrau freien, die ein Kind ehrlicher Leute ist, ein Mädchen, aufgezogen in Tugend und Redlichkeit, das stets nur Umgang gepflogen mit sittenreinen Menschen, das Gott liebt und fürchtet, das darnach strebt, ihm durch den Glauben und die Befolgung seiner heiligen Gebote zu gefallen, hingegen fürchtet, ihn durch Mangel an Glauben und Übertretung seiner göttlichen Gebote – –“

    Kevins Kinn sank auf die Brust, er war eingeschlafen. Indes fuhr der Mönch fort: „– zu verscherzen, welche Gebote ihr streng vorschreiben, den Ehebruch zu fliehen und einzig und allein ihrem Mann anzuhangen und nächst Gott nur ihn zu lieben und ihm zu dienen. Um sie aber auf diesem Weg zu erhalten, musst du ihr, mein Sohn, selbst ein gutes Beispiel sein; musst ein reines, keusches, tugendhaftes Eheleben führen, wenn du willst, dass sie es auch führe. Denn wie nicht der Spiegel der beste ist, der einen reich verzierten Rahmen hat, sondern der, welcher die Gegenstände am getreulichsten abbildet, so ist auch nicht die Frau am werthaftesten zu schätzen, die reich, schön, zierlich und von vornehmer Herkunft ist, sondern die, welche sich bestrebt, Gottes Wohlgefallen zu erlangen, und die sich an ihren Mann schmiegt.“ Der Mönch schnaufte mehrmals und schwieg.

    „Sapperlot, vortrefflich gesprochen!“, rief der Andere, „ich wünschte, ich könnte so reden wie Ihr, Ehrwürden! Allein, wenn ich Eure Worte recht überlege, dann läuft es darauf hinaus, dass ich ein Musterweib heiraten soll, dem ich, straf mich Gott, noch nirgendwo begegnet bin, weil es womöglich auf der Welt nicht existiert. Und das mit dem guten Beispiel, ich weiß nicht –“

    „Ei, dann werde Priester.“

    Ein abgenagtes Hühnerbein landete auf dem Schoß des Mönchs; jemand rief feucht fröhlich: „Hey, Merkwürden, redet nicht so viel, das gibt einen trockenen Hals und einen harten Stuhl! Herunter mit der Sutane und hereingehupft!“

    „Ich liebe alte Männer!“, schrie eine Frau, „sie sind je länger desto sanfter!“ – „Für mich den Knaben!“ – eine andere, „die Spargelstange ist am knackigsten, wenn sie frisch ist!“ – „Und ständig feucht gehalten wird!“, assistierte eine Dritte. Brüllendes Gelächter.

    „Komm, mein Sohn“, sagte der Mönch naserümpfend und erhob sich, „in dieser Lasterhöhle sind Sodom und Gomorrha unter einem Dach. Gehen wir in die Kirche und beraten wir dort weiter.“

    Kevin war aufgewacht und schüttelte sich. Irgendetwas stimmte nicht. Wieso dröhnte sein Kopf, wieso waren seine Beine so schwer?

    Ursula erschien. „Kevin, alles in Ordnung?“, fragte sie, „du siehst ziemlich mitgenommen aus.“

    „Ich wurde plötzlich so müde und bin wohl eingeschlafen. Sag mal, wonach riecht das hier? Mir ist irgendwie so drömmelig im Kopf.“

    Ursula steckte den Kopf in die Nische, schnüffelte, dann rief sie: „Ach herrje! Ich hätte dich warnen müssen! Dahinter liegt die Schlafstube – ja, Schlafstube, du hast richtig gehört! Dort werden Leute, die an Schlaflosigkeit leiden, mit Schlafschwämmen abgerieben. Die Opiumdämpfe beruhigen sie, und die löchrige Bretterwand hier – was ist?“

    Taifan kam angerannt. „Da oben geht es aber ordentlich zur Sache! Mannomann! Hätt ich nicht gedacht. In einer Badeanstalt! Wie geil ist das denn!“

    „Was meinst du?“, fragte Ursula.

    „Na, die Liebesleute hinter dem Bretterverschlag!“

    „Liebesleute? Ach so! Wahrscheinlich Ratsherren oder Pfaffen, der nicht erkannt werden wollenl. Die Frauenhäuser sind solchen Leuten zu öffentlich.“

    „Können wir jetzt weiter? Ich hab genug von dem Gestöhn.“

    Doch so schnell sollte sie das Badhaus nicht freigeben. Unten im Vorbad trat der Sänger mit der Laute auf sie zu. „Grüß Euch Gott, Jungfer Schreyvogel!“, rief er und verbeugte sich tief, „wollt Ihr schon gehen? Ja? Dann sing ich Euch ein Abschiedslied!“ Der Sänger hockte sich auf einen Schemel, legte sich sein Instrument zurecht, zog ein paar Saiten nach und begann:

    „Seufzt nicht, Mädchen, seufzet nimmer,

    denn die Männer täuschen immer!

    Ein Fuß im Meer, ein Fuß an Land,

    der Sinn ist frei, das Herz voll Tand!

    Der Lockung folgt ein mutig Wesen,

    erfülltes Herz heißt glücklich leben.

    O seelig sind doch die zu preisen,

    die sich am End als treu erweisen.

    Ich schlag der Laute Schafsgedärm

    dass ich der Jungfer Herz erwärm!

    Es fliehen die Jahre wie flüchtiges Wild.

    O komm doch wieder, du köstliches Bild!

    Meine Verehrung an den Herrn Vater!“

    _______________

    *Tonsur

    **Abtrünniger

    Forts. fogt

    2 Mal editiert, zuletzt von McFee (9. Mai 2020 um 17:23)

  • Heyho McFee

    Das war mal wieder ein sehr schöner Part!

    Das Zwiegespräch zwischen Pfaffe und unschlüssigem Priesteramts-/Heiratsanwärter - ich hab's genossen!:D

    Immer, wenn's um weltlichen Reichtum geht, wird der klerikale Weg angepriesen und vice versa.

    „Hmmm... dann ist deine Familie wohl sehr wohlhabend, wie?“

    „Nun ja, wir nagen nicht am Hungertuch.“

    „Dann ist es besser, du trittst in den geistlichen Stand ein.“

    Und dieser "geistliche Stand" ist alles andere als heilig, wenn man sowas liest:

    Ja, wir können gewissermaßen sagen, dass wir Priester Gott hervorbringen und schaffen: Welch ein Grund zu ausgezeichneter Lebensführung! Der Priester muss ein königliches Amt üben, muss ein König sein, der seinen Leidenschaften gebietet, er muss sich selbst beherrschen, bevor er über andere herrscht. Denn wir Priester sind Könige auf Erden, doch nicht Könige, welche um des Herrschens Willen herrschen, sondern solche, die Christus auf den Armen tragen.

    Da nutzt auch die Abschwächung am Ende nicht mehr viel...

    Hat mir wieder viel Spaß gemacht, allerdings habe ich nicht verstanden

    „Entschuldige, aber jetzt weiß ich wieder, woher ich den Geruch kenne!“

    woher Kevin den Geruch von Opium kennen könnte. Hilfst Du mir da mal raus??(

    Danke.

    Und ein paar Fehler habe ich gefunden. Guckst Du hier:

    Spoiler anzeigen

    Es wird dir Mühe kosten, mein Sohn...

    dich

    Eine Hochzeitsschleife sollt Ihr kriegen, und, potztausend, eine Gans wollen mir schmausen,

    wir

    und verschmiert sich dabei jedesmal dan Hintern.“

    den

    das stets nur Umgang gepflogen mit sittenreinen Menschen, das Gott liebt und fürchtet, das darnach strebt, ihm durch den Glauben

    danach

    Um sie aber auf diesem Weg zu erhalten, musst du ihr, mein Sohn, selbst ein gutes Beispiel sein; musst ein reines, keusches, tugendhaftes Ehehleben führen,

    Eheleben

    Herunter mit der Sutane und hereingehupft!“

    Soutane

    „Ich liebe alte Männer!“, schrie eine Frau, „sie sind je länger desto sanfter!“

    "älter"?

    „Komm, mein Sohn“, sagte der Mönch naserümpfend und erhob sich, „in dieser Lasterhöhle sind Sodom und Gomoffha unter einem Dach.

    "Gomorrha"

    Güße vom Korinthenkacker!:D:D:D

    Bin gespannt auf den nächsten Teil...:thumbup:

  • Hallo lieber Korinthenkacker,

    entschuldige, dass ich dir erst jetzt antworte, hatte arg viele andere Dinge im Kopf, und vielen Dank für die Fehlersuche.

    Allerdings: Sutane geht lt. Duden auch, und darnach... Ich habe von meinem Vater (Diakon!) ein altes Buch aus 1863 geerbt, die "Muster des Predigers", in dem genau der altertümliche Stil gepflegt wird, der mir zu der Erzählung passend schien, u. a. mit darnach. Alles andere werde ich verbessern. Der von dir rot zitierte Passus stammt aus einer dieser Predigten, und ich war fassundslos über die Arroganz dieser Gottesmänner (damals?), die noch größer ist als die deutscher Automobilbauer und Bankvorstände, und wollte es euch nicht vorenthalten.

    woher Kevin den Geruch von Opium kennen könnte. Hilfst Du mir da mal raus?

    Er ist siebzehn und ich denke, er hat schon mal gekifft. Belehre mich, wenn der Geruch nicht passt.

    Sie sind je länger desto... Sie meint, lange Schwänze sind nicht so hart. Möglicherweise ein Vorurteil dieser Dame...

    Bis Morgen.

  • Heyho McFee

    Ich kenne den Geruch von Cannabis, sowohl im Rauch als auch an der wachsenden Pflanze. Was jedoch Opium betrifft bin ich schon deswegen raus, weil nur 6 Länder weltweit das Zeug legal erzeugen können. Das Zeug ist eines der stärksten Rauschmittel auf natürlicher Basis (Schlafmohn) und enthält mit dem Alkaloid Morphin eines der stärksten Schmerzmittel.


    Ich habe keine Ahnung, wonach das riechen könnte, bezweifele aber, daß Kevin, gleichwohl mit Kiff bekannt, jemals Opium geraucht oder gerochen hat.

    Ich kann's natürlich nicht generell widerlegen, nehme aber trotzdem an, daß sich der Geruch von brennendem Opium sehr von brennendem Cannabis unterscheidet.

    Ich stelle mir das so vor, als würde ich den Geruch von Bier mit dem von Wein vergleichen, würde also nicht sagen können, daß mir der Geruch von Wein bekannt vorkommt, wenn ich bis dahin nur Bier getrunken habe...

    Was die "Sutane" oder "darnach" betrifft:

    Ich bin Oldschool im Rechtschreibgebiet und finde die "neue deutsche Rechtschreibung" mit ihren Vereinfachungen einfach nur grottenscheiße. Deswegen schreibe ich "Telephon" auch noch mit "ph".

    Korrekturen meinerseits in dieser Richtung sind daher natürlich subjektiv. Aber nur weil's der Duden zulässt, bedeutet das nichts.

    Wenn Du "Sutane" googlest und den ersten Eintrag bei Wiki anklickst, wird's lustig.:D:D:D

    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Sutane?ti…ane&redirect=no

  • Das mit dem Geruch ändere ich ab.

    Ich bin Oldschool im Rechtschreibgebiet und finde die "neue deutsche Rechtschreibung" mit ihren Vereinfachungen einfach nur grottenscheiße. Deswegen schreibe ich "Telephon" auch noch mit "ph".

    Darfst du lt. Duden doch, und auch "das kostet dir" sagen.

    Ansonsten bin ich da ganz auf deiner Linie. Ich weigere mich, "selig und "gar nicht" zu schreiben. Haarig heißt´s im Duden, warum also selig?! Vielleicht erklärt mir mal jemand, warum. Gar nicht hat eine andere Betonung als garnicht. Noch schlimmer ist Lache (Pfütze) und Lache (Gelächter). Jemand, der es wissen muss, sagte mir mal: Vom Duden abweichende Schreibweisen werden bei häufigem Gebrauch anerkannt. Es besteht also noch Hoffnung.

  • Kevin war aufgewacht und schüttelte sich. Irgendetwas stimmte nicht. Wieso dröhnte sein Kopf, wieso waren seine Beine so schwer?

    Ursula erschien. „Kevin, alles in Ordnung?“, fragte sie, „du siehst ziemlich mitgenommen aus.“

    „Ich wurde plötzlich so müde und bin wohl eingeschlafen. Sag mal, wonach riecht das hier? Mir ist irgendwie so drömmelig im Kopf.“

    Ursula steckte den Kopf in die Nische, schnüffelte, dann rief sie: „Ach herrje! Ich hätte dich warnen müssen! Dahinter liegt die Schlafstube – ja, Schlafstube, du hast richtig gehört! Dort werden Leute, die an Schlaflosigkeit leiden, mit Schlafschwämmen abgerieben. Die Opiumdämpfe beruhigen sie, und die löchrige Bretterwand hier...

    Das nenne ich jetzt mal eine sehr starke Erweiterung/Änderung/Verbesserung. Very impressive!

    Spoiler anzeigen

  • Danke, Herr, setzt den Bowler wieder auf und steht bequem!


    9

    Auf dem Weg zu Turniergelände kamen sie auf einen dreieckigen Platz mit einer mächtigen Kirche. Um den Platz herum standen dicht gedrängt schmale, spitzgiebelige Häuser; es sah aus, als hüte eine dicke Henne ihre mageren Küken.

    Vor einer Backsteinmauer hockten fünf seltsame Gestalten. Aus der Ferne war nicht zu erkennen, ob es sich um Tiere, Kobolde oder Wesen aus einer anderen Welt handelte. Doch bei genauerem Hinsehen zeigte es sich: Es waren Menschen, Krüppel, zum Teil auf Krücken gestützt.

    Als sich Ursula und ihre beiden Begleiter den bedauernswerten Geschöpfen näherten, brach ein entsetzliches Geheul aus, in dem Rufe zu hören waren wie: „Christen, übt Barmherzigkeit“, „Erbarmt euch und gebt Almosen“, „Gott wird es euch danken!“, „Seid Christen und keine Geizhälse!“ „Wir werden für euer Seelenheil beten!“ Eine dieser Gestalten, ein kleiner, dick vermummter Klumpen, rollte, unverständliche Laute ausstoßend, auf Ursula zu und versuchte, ihr die Schuhe zu küssen.

    Taifan hielt entsetzt den Atem an: Der Klumpen war ein Mensch ohne Arme und Beine. Zwei sohlenartige Lederlappen ersetzten ihm die Füße. Ein anderer, mit Armen, aber ohne Beine, machte einen Handstand und präsentierte seine Beinstümpfe, aus denen blutiger Eiter quoll. Die nächste dieser entsetzlichen Kreaturen – nach den wilden, üppig verfilzten Haaren zu schließen wohl eine Frau – versuchte heulend und stöhnend, sich auf ihren zwei Krücken aufzurichten, es gelang ihr

    nicht, ihr Nachbar fing sie auf, kapp bevor sie hinstürzte. Der, zwar mit allen Gliedmaßen, aber mit entsetzlich entstelltem, aufgedunsenen Gesicht und schwarzen Augenklappen, begann so jämmerlich zu husten, als wollte er seine Innereien auskotzen. Taifan blickte ihn an und erstarrte: – von einem Ohr zum anderen verlief eine klaffenden Wunde, die Nase fehlte. Der Fünfte dieser grauenhaften Truppe schließlich, in offenem Hemd und zerfetzten Beinkleidern, Waden und Oberschenkel frei, war über und über mit schwarzen, eiternden Geschwüren bedeckt. Von seiner Nase war nur noch ein blutiger Stumpf übrig.

    Weitere Passanten, offensichtlich von dem Lärm neugierig gemacht, waren auf den Platz gekommen, und jetzt verstärkte sich noch das Geheul; die Krüppel gerieten außer Rand und Band. Wie wahnsinnig gewordene Affen in zu engen Käfigen schaukelten ihre Körper; der Handständige lief aufgeregt hin und her, Eiter tropfte aus seinen Stümpfen, der Hustende brach ohnmächtig zusammen, die Frau warf sich Zeter und Mordio schreiend über ihn; der mit den Geschwüren kratzte sich wie ein verlauster Köter und stieß, einen blutigen Lappen schwenkend, wilde Verwünschungen aus. In der Luft lag ein infernalischer Gestank.

    Taifan warf sich schluchzend in die Arme ihres Bruders. Der, anscheinend selbst bis ins Mark getroffen, strich ihr mit unsicherer Hand über die Haare, sogar in Ursulas Gesicht arbeitete es. Schließlich würgte Kevin mit zitternden Lippen hervor: „Das... das glaub ich nicht! Ursula, sag, dass es nicht wahr ist! Das darf nicht sein! Was ist das für ein Gott, der solch eine Elend zulässt!“ Auf einmal rief er entsetzt: „Ursula, du grinst doch nicht etwa?“

    Doch, Ursula grinste.

    „Kommt erst mal weg von hier,“ sagte sie. Nach einer Weile (während Kevin sie mit zusammengezogenen Augenbrauen von der Seite ansah): „Ihr müsst jetzt sehr tapfer sein, ihr beiden. So schlimm, wie es aussieht, ist es nicht... eher ein Schauspiel der besonderen Art.“

    Kevin blieb abrupt stehen. „Wie... was... das war nur gespielt? Aber... aber der eine hatte doch keine Beine, und diese Geschwüre... diese entsetzlichen Schreie... das alles soll nicht echt sein?“

    „Das hab ich nicht behauptet. Der angeblich Beinlose ist ein armer Mann, der von Geburt an so verkrüppelt ist, dass sein Körper in dem Sack tatsächlich wie ein Torso aussieht. Dem mit den Augenklappen hat ein Starstecher die Auge verpfuscht. Die Geschwüre sind auch da, aber bei der Wunde, dem Blut, dem Eiter, da wurde kräftig nachgeholfen... Alles aus den Schminktöpfen der Komödiantentruppe. Glaubt ihr wirklich, der Stadtrat würde Aussätzige mit eiternden Wunden in seinen Mauern dulden? Damit ein Jahr später die halbe Stadt an den Schwarze Blattern oder der Pest gestorben ist? Die wirklich Kranken sind in den Leprosorien und Spitälern der umliegenden Klöster untergebracht. Und da können wir nicht hinein.“

    „Ist auch jetzt nicht mehr nötig“, meinte Kevin „das da eben hat mir schon gereicht.“

    „Und was soll das fürchterliche Spektakel?“, fragte Taifan.

    „Es sind berufsmäßige Bettler, mit der Erlaubnis, zwei Stunden vormittags und zwei Stunden nachmittags ihre Künste darzubieten. Und der schreckliche Anblick soll die Bereitschaft erhöhen, Almosen zu geben.“

    „Ja zum Teufel“, begehrte Kevin auf, „wissen die Leute denn nicht, dass sie hereingelegt werden?“

    „Ach was, hereingelegt ist nicht das richtige Wort... Das siehst du völlig falsch! Anscheinend ist dir entgangen, dass die Leute reichlich in den Hut getan haben. Manche sind den Krüppeln sogar noch dankbar, weil die ihre Barmherzigkeit geweckt und ihr schlechtes Gewissen beruhigt haben! Und die sind ja wirklich arm und krank! Barmherzigkeit ist die größte Tugend des Christen, und mit den Tugenden... na ja... da hat es so seine Bewandtnis.Viele reden von ihnen, noch mehr denken daran, wenige üben sie. Da nimmt man eine kleine Aufmunterung, auch wenn sie nicht ganz echt ist, gerne hin!“ Ursula grinste schalkhaft. „Nun ja, ich will ehrlich sein. Ich habe auch schon gegeben, weil ich die eindrucksvolle Darbietung belohnen wollte.“

    „Warum stinken sie dann so fürchterlich?“, fragte Taifan, die sich wieder etwas erholt hatte.

    „Weil die ganze Stadt stinkt, müssen sie noch stärker stinken, damit erhöht sich ihre Glaubwürdigkeit. Sie schmieren sich mit einem Gemisch aus ranziger Butter und Hundekot ein.“

    „Und der Stadtrat lässt diesen... diesen Mummenschanz zu?“

    „Noch, aber möglicherweise nicht mehr lange. In Münster sind solche Darbietungen mittlerweile verboten.“

    In einer Toreinfahrt stand ein Mann mit einem Kasten vor dem Bauch, in dem allerlei Kleinzeug auslag. Als er Ursula und noch ein paar andere Flaneure kommen sah, fing er an zu schreien. „He, ihr guten Leute, kauft Bisamäpfel gegen den Pesthauch! Frisch aus dem Morgenland eingetroffen! Und hier, Jungfer, feinste rocken muter*! Das Beste gegen Bauchgrimmen und fur die belf muter. Item fur die heffmutter oder permutter. Nymt lorper wurcz vnd weydwurcz rocken muter gepuluert vnd yn wein getruncken warm**.“

    „Schönen Dank, Gevatter Beinhard“, rief Ursula, „werd darauf zurückkommen, wenn es soweit ist!“

    „Was wollte der denn?“, fragte Kevin im Weitergehen.

    „Ach der! Wollte mir ein Mittel gegen schmerzhafte Wehen verkaufen.“

    „Und was sind Bisamäpfel?“

    „Kleine metallene Lochkugeln, die allerlei Duftstoffe, Bisam genannt, enthalten. Sollen angeblich gegen die Pest helfen. Mein Vater hält das für Humbug. Er meint, die Leute sollten weniger schnabulieren, sich dafür öfter waschen und nicht so viel in der Welt herumfahren. Aber wer hört schon auf einen Narren.“

    „Ha!“, rie Kevin und klatschte sich auf den Schenkel, „das nenn ich geschäftstüchtig! Erst den Horror verbreiten, dann das Gegenmittel dazu verkaufen! Diese Stadt wird mir langsam unheimlich! So hab ich mir das christliche Mittelalter nicht vorgestellt. Genau der gleiche Lug und Trug wie bei uns.“

    Ursula zuckte mit den Schultern. „So ist nun mal die Welt, sie war noch nie anders.“ Sie blickte die beiden ernst an. „Ich weiß nicht, ich weiß nicht“, sagte sie nachdenklich, „wenn ich euch so ansehe... und eure Reaktionen vorhin... Vielleicht ist das Turnier doch nicht das Richtige für euch.“

    „Wie kommst du denn auf einmal darauf?“

    „Ihr seid ziemlich zart besaitet, scheint mir, und so ein Gesellenturnier... Da geht es ordentlich zur Sache! Geschwollene Augen, gebrochene Nasen und Blutergüsse sind noch das Geringste. Und ein Tierfreund darf man erst recht nicht sein!“

    „Zart besaitet? Ich doch nicht!“, prahlte Kevin.

    „Und was war das eben?“

    „Hmm... Nun ja... Eben... Da war ich – na gut, ich war beeindruckt, aber keineswegs erschüttert! Und so ein echtes mittelalterliches Turnier – hautnah und nicht so harmlos wie auf dem Marktplatz – das lass ich mir auf keinen Fall entgehen! Taifan kann ja inzwischen – – die Stadtmauer besichtigen.“

    „So weit kommt´s noch!“, protestierte Taifan, „du bestimmst, was Taifan macht! Taifan kommt natürlich mit!“

    _________________________________

    *Mutterkornpilz, ein toxischer Getreideschädling

    ** belf mutter... Verschiedene Komplikationen bei der Geburt. Nimm Lorbeer und Weißwurz und pulverisierte Roggenmutter und trinke es warm in Wein.

    Forts. folgt

  • Ihr seid ziemlich zart besaitet, scheint mir,

    Also das würde ich nun gar nicht sagen! Ich finde, die Kids reagieren nach wie vor erstaunlich gelassen angesichts der ganzen Schrecken des Mittelalters. Ich bekomme ja selber hin und wieder eine Gänsehaut beim Lesen, auch wenn ich das Spektakel gar nicht direkt vor mir habe...

    Was ich schreibe: Eden

  • Hallo Stadtnymphe,

    wenn dir jetzt auch noch Mittelalter-Gestank durch die Nase zöge, dann wäre die Erzählung perfekt...


    10

    Schon von Weitem hörten sie den brausenden Lärm einer Menschenmenge, vermischt mit dem wütenden Gekläff von Hunden und dem Schnauben von Pferden. Aber auch andere Töne waren zu hören. Krähte da nicht ein Hahn? Brummte da nicht – ein Bär?

    Aus einem Gebüsch erhob sich mit aufgeregtem Krah-Krah und Jack-Jack ein Schwarm schwarzer Vögel, drehte eine Runde und fiel wenig später ins selbe Gebüsch wieder ein.

    Hinter dem weiten Platz ragte ein Berg mit einer Burgruine mit geschwärztem Mauerwerk auf, die Kevin interessiert betrachtete. „Sieht wie frisch abgebrannt aus“, sagte er.

    Wenn du mit frisch zehn Jahre meinst, dann stimmt´s.“

    „Was ist da passiert?“

    „Den Bürgern dieser Stadt war die Abgabenlast an den Fürsten zu hoch. Als der sich nach mehrenen Petitionen immer noch taub stellte, legten sie die Burg kurzentschlossen in Schutt und Asche.“

    „Im Ernst?“

    „Warum sollte ich lügen? Gefällt dir das nicht?“

    „Doch doch, im Gegenteil! Ich stelle mir nur gerade vor, wie die Bürger Lüneburgs das Finanzamt niederbrennen! Müssen verdammt mutige Leute gewesen sein, damals.“

    „Hör auf zu spinnen!“, schalt Taifan, „damals ist damals nicht heute!“

    Nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch allerlei Buden und Ständen füllten den Platz, die Sülzwiesen. Hier und da stiegen Rauchsäulen auf; der Geruch kochender Suppen und gebratenem Fleisch vermischte sie an einigen Stellen mit dem menschlicher und tierischer Ausscheidungen. Ambulante Händler liefen fix herum und boten ihre Waren feil – „Leute kauft! Billig billig!“ Einer, mit einer Kiste vorm Bauch, schrie unentwegt: „Das Los ein Pfennig – drei Lose zwei Pfennig!“ In einem nach vorne offenem Zelt saß ein Mann mit einem spitzen Hut auf dem Kopf – einer Schultüte ähnlich – und schrieb. Dabei tauchte er immer wieder den Kiel einer langen weißen Feder in ein Tintenfass, zog ihn heraus, fragte den Mann vor ihm: „Wie heißt Ihr?“, setzte die Feder auf ein gelbes, dicht beschriebenes Blatt Papier und kritzelte. Dann schob er den Bogen dem Mann hin. „Unterschreibt hier!“, sagte er, wobei er mit einem gichtigen Finger auf eine Stelle unter dem Geschreibsel zeigte. Der Kunde nahm die Feder – und machte unbeholfen drei Kreuze, was nicht ohne Tintenkleckse abging. Er ließ ein paar Münzen auf den Tisch fallen, dann stiefelte er freudestrahlend davon.

    Kevin drehte sich mit fragendem Gesicht zu Ursula um.

    „Der Mann hat gerade einen Ablass gekauft“, sagte sie.

    „Einen Ablass?“

    „Mit seiner Unterschrift sind ihm seine Sünden vergeben.“

    „Hmm... Geht das denn so einfach?“

    „Was? Das Sündigen?“

    „Nein. Das Ablassen.“

    „Offensichtlich ja.“

    „Und wer entscheidet das?“

    „Der Papst in Rom. Es ist ein Handel wie jeder andere auch. Der Schreiber ist Ablasskrämer und besitzt die Lizenz, Ablässe zu verkaufen. Einen Teil des Geldes behält er für sich und seine zahlreiche Familie, den anderen führt er ab. Es gibt allerdings Leute, die das alles für Humbug halten.“

    „Und du? Hältst du das auch für Humbug?“

    „Mein lieber Freund“, sagte Ursula streng, „es ist nicht Sache des Christen, sich über Glaubenswahrheiten den Kopf zu zerbrechen! Dafür ist das Heilige Offizium zuständig.“

    „Das ist ja ´n Onk!“, rief Taifan, „dann kann der Kerl also seine Frau prügeln oder seinen Nachbarn umlegen, dann kauft er sich solch einen Wisch –“

    „Und landet trotzdem im Turm“, unterbrach sie Ursula ärgerlich. „Was redest du da! Er landet im Turm, und zwar nicht, weil er seine Frau geprügelt hat, denn schließlich ist die Frau dem Manne untertan - so steht´s jedenfalls in der Bibel - aber für den Totschlag. Kirchliches und weltliches Recht sind zwei verschiedene Hüte.“

    Drei Stände weiter war anscheinend heftiger Streit ausgebrochen. Ein Mann und eine Frau gingen wie die Kampfhähne aufeinander los; sofort waren zwei berittene Gerichtsdiener zur Stelle und führten sie ab.

    „Das ist auch etwas, das ihr kaum verstehen werdet“, sagte Ursula, „dort steht die Verkaufsbude mit den Reliquien.“

    In der Verkaufsbude mit den Reliquien thronte ein dicker Mönch auf einem Stuhl mit hoher, reich verzierter Lehne. Neben ihm stand ein anderer Mönch, ein blutjunger Mann noch, ein Novize. Vor ihm, auf einer Lade, lagen nebeneinander etliche Kästchen mit verglasten Deckeln, mit Ketten befestigt. Mit Argusaugen beobachteten die beiden Mönche die Hände der Leute, die vor der Lade standen und sich neugierig die Hälse verbogen. Kam jemand einem dieser Kästchen zu nahe, rief der Dicke scharf: „Ich bitt´ Euch, Herr/Frau, tretet zurück!“

    Die Geschwister waren vor die Lade getreten, warfen einen Blick in eines der Kästchen und blickten sich verblüfft an. Da lagen lauter Holzsplitter, Stoffreste, Eisenteile, Nägel, Zähne, Knochensplitter, sogar ganze Knochen... Doch bevor eines etwas sagen konnte, sprang der dicke Mönch mit einer Behändigkeit, die wegen seiner Körperfülle äußerst überraschend wirkte, auf und begann seine Ware anzupreisen. Er öffnete ein Kästchen, nahm einen der Holzsplitter, die darin lagen, heraus, drückte ihn an die Lippen und rief mit verfetteter Stimme: „Ein Splitter vom Kreuz unseres Herrn Jesu Christi, gerade aus Jerusalem eingetroffen! Sehr gut, seht gut gegen Gliederreißen und Frieselfieber! Oder belieben der Herr einen Knochensplitter aus dem Grab des Apostel Paulus? Mit Expertise des Heiligen Offiziums, vom Papst unterschrieben! Der Preis? Edler Herr, wer redet denn von Preis!“ Er legte den Splitter vom Kreuz des Herrn Jesu Christi vorsichtig, als handele es sich um ein rohes Wachtelei, wieder zurück, öffnete eine andere Schatulle und brachte die abgebrochene Spitze einer Lanze, an der offensichtlich noch Blut klebte, zum Vorschein. Mit grenzenloser Begeisterung und mehrmaligem Zungenschnalzen rief er: „Hochedler Herr! Eine absolute Rarität mit unendlicher Heilkraft! Ein Teil der Lanzenspitze, die unserem Herrn und Heiland die Seite geöffnet hat! Kommt ruhig näher und schaut! Ja es ist echt! Das Blut, was Ihr da seht, ist das Blut des Herrn!“ Der Mönch stand kurz davor, in Tränen auszubrechen; aus einem Ärmel zog er ein besticktes Tuch hervor und wischte sich die Augen. „Ja, ich schäme mich meiner Tränen nicht!", rief er, "ich vergösse gerne ein Meer von Tränen, könnte ich damit die Füße des Herrn waschen! Diese lieben Füße, die ihn an Palmsonntag nach Jerusalem getragen haben, um dort SEIN Reich zu errichten, aber die Seinigen haben ihn nicht erkannt!“ Der Mönch schwieg und lauschte; er vernahm beifälliges Gemurmel und setzte seinen Sermon mit erhöhter Stimmlage und blitzenden Augen fort. „Oh,oh,oh!“, rief er, „mir bricht es das Herz, wenn ich daran denke, wie der HERR gestorben ist! Die Juden haben ihn umgebracht!“ – er schluchzte kurz auf – „und mit dieser Lanzenspitze hat ihm einer die Seite geöffnet! Immer, wenn ich daran denke – und ich denke fast immer daran – erfasst mich Verzweiflung!“ Er schien am Ende seiner Kräfte, führte die Lanzenspitze an den Mund und küsste sie.

    Plötzlich sah er in Kevins Richtung und sagte: „Hochedler Herr, alle drei zusammen ein Pfund kölnisch Silber!“

    Kevin drehte sich um. Hinter ihm stand ein würdiger Herr mit gefederten Barett und einem golddurchwirkten Mantel.

    Ursula zupfte Kevin am Ärmel. „Komm“, sagte sie, „schauen wir uns die Lanzenreiter an.“

    „Reden kann er, der Dicke“, meinte Taifan.

    Ursula blickte betreten zur Seite und schwieg.

    „War das auch schon wieder falsch?“, fragte Kevin.

    „Wie? Nein, nein, Ich dachte nur an den alten Spruch: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“

    „Versteh ich nicht.“

    „Manchmal ziehen die Leute, aufgehetzt durch solche Reden und aufgestachelt durch die Turnierkämpfe, grölend durch die Stadt und werfen den Juden die Läden ein. Sogar Plünderungen und Morde sind schon vorgekommen.“

    Forts, folgt

    2 Mal editiert, zuletzt von McFee (17. Mai 2020 um 20:06)

  • […] Jemand, der es wissen muss, sagte mir mal: Vom Duden abweichende Schreibweisen werden bei häufigem Gebrauch anerkannt. Es besteht also noch Hoffnung.

    Interessant dazu: Bei den Franzosen ist die Sprache tatsächlich durch die Académie française normativ normiert (So isses dann). Für uns Deutsche hat der Duden rein deskriptive Funktion: Niemand hat hier also das ›letzte‹ Wort in Sprache und Schreibung (Verleger vielleicht ;) ). Die Vereinheitlichung ist schätzenswert – berechtigt finde ich Abweichungen aber unbedingt, wenn etymologisch begründet, wie obig! Findiges Bsp. dazu: einbleuen vs. einbläuen.

    Grüßchen!

  • Ich habe jetzt mal etwas quergelesen, auch in den Kommentaren.

    Bist Du Dir ganz sicher, das Kevin 17 ist? Mir kommt er rüber wie 7 oder 8. Sorry.

    Der Unterschied zwischen dem, was Du bist und dem, was Du sein möchtest, liegt in dem, was Du tust.
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    Was würdest Du tun, wenn Du keine Angst hättest?

  • Hallo, Cory Thain.

    Bist Du Dir ganz sicher, das Kevin 17 ist?

    Nein. Vielleicht ist er ja erst 13, und seine Schwester 12. Auf die 17 kam ich nachträglich wegen des Kiffens, aber das hat sich ja nun erledigt. Wobei du mich wahrscheinlich belehren wirst, dass auch schon 12-Jährige kiffen. Trotzdem werde ich mir einen Rest Gutgläubigkeit erhalten.

  • Ich werd Dich gar nicht belehren, da ich nicht weiß, ab wann es in Deutschland üblich ist, zu kiffen. Das werde ich Dir auch nicht vorschreiben wollen.

    Aber selbst 13 erscheint mir zu alt für einen Jungen, der am Morgen Angst vor den Schattenhänden eines Baumes hat...

    Und

    Nein. Vielleicht ist er ja erst 13, und seine Schwester 12.

    ... vielleicht solltest Du Dir erst mal selber klar werden, wie alt er ist?

    Nur mal so als Gedankengang.

    Der Unterschied zwischen dem, was Du bist und dem, was Du sein möchtest, liegt in dem, was Du tust.
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    Was würdest Du tun, wenn Du keine Angst hättest?

  • Heyho McFee

    Was ich mittlerweile sehr liebgewonnen habe am "Blauen Turm":

    Jedes Kapitel scheint einen kleinen Teilbereich des mittelalterlichen Lebens zu beleuchten, zwar nur recht oberflächlich (NICHT im qualitativen des Berichteten!!!). Und so langsam kristallisiert sich damit ein sehr schönes Konzept für mich heraus.

    Was jetzt den Abschnitt über den Reliquienhandel angeht, fühlte ich mich sofort an Teile von Karlheinz Deschners überragendem Werk "Kriminalgeschichte des Christentums" erinnert.

    Da finden sich bereits im dritten Band hochinteressante und -erheiternde Anmerkungen zu diesem Thema. Und auch wenn es sich hier um Zitate und Berichte aus dem Frühchristentum (etwa 4.Jhd.) handelt, hat sich wenig geändert.

    Auf's nächste Thema bin ich schon mal gespannt.

    „Hör aus zu spinnen!“, schalt Taifan,

    Nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch allerlei Buden und Ständen füllten den Platz, die Sülzwiesen. Hier und da stiegen Rachsäulen auf; der Geruch kochender Suppen und gebratenem Fleisch vermischte sie an einigen Stellen mit dem menschlicher und tierischer Ausscheidungen

    ^^

  • Hey, Cory Thain,

    das mit den Schattenhänden ist allerdings wahr. Ich werde die Stelle ändern.

    Hey, Der Wanderer!

    Natürlich ist mir Deschner bekannt, sein Buch "Und dreimal krähte der Hahn!" habe ich 5X gelesen, eine wahre Fundgrube für jemanden, der die Wahrheit liebt! Von ihm habe ich auch erfahren, dass ein christlicher Mob im Jahre des Herren 300 die große Bibliothek zu Alexandria einäscherte, wodurch fast die gesamte antike Literatur vernichtet wurde. Wenn wir heute den Homer oder Ovid lesen, liegt es daran, dass arabische Abschriften exietierten. Hierzu gibt es auch ein Buch, "Allahs Sonne über dem Abendland" von S. Hunke, in dem der Leser erfährt, wie islamische Gelehrte das intellektuelle Europa retteten. Mich juckt es in den Fingern, auch daraus eine Geschichte zu machen. Denn wer weiß schon, dass zB die Formel "Gnädiges Fräulein... Ihr gehorsamster NN" ein Import aus dem arabischen Orient ist. Nur, wen würde das Interessieren?

    Ob der "Wald von Kreuzen" von Deschner stammt, weiß ich nicht mehr, könnte aber sein. Der "Hahn" ist irgendwann verloren gegangen.

  • Heyho McFee

    Unter Deschner's Werk findet sich nichts, daß auch nur annähernd den Titel "Wald von/aus Kreuzen" trägt. Das muß also woanders her stammen.:/

    Denn wer weiß schon, dass zB die Formel "Gnädiges Fräulein... Ihr gehorsamster NN" ein Import aus dem arabischen Orient ist. Nur, wen würde das Interessieren?

    Na, mich zum Beispiel!:D