Der braune Fleck - Eine Weihnachtsgeschichte
(Teil 1/3)
Schon beim Öffnen der Beifahrertür streifte Hannah ein leichter Geruch von Holzkohlegrill und brutzelndem Fleisch. Und als sie ausgestiegen war, brandete förmlich eine Welle der verschiedensten Düfte über sie hinweg. Da war zuerst Tannengrün, vermischt mit frischem Harz. Dann erschnupperte sie gebrannte Mandeln und Glühwein. Und Räucherkerzchen.
Unverwechselbar, so roch nur der Weihnachtsmarkt!
Die Vorfreude ließ ihr Herz etwas schneller schlagen und sie befeuchtete erwartungsvoll die Lippen. Ihre braunen Augen begannen zu leuchten, während sie sich den dicken Schal zweimal um den Hals schlang und die blonde Haarsträhne, die unter der Pudelmütze herausgerutscht war, wieder zurückschob.
Genießerisch schloss sie die Augen, lehnte sich mit dem Rücken ans Auto und sog die duftgeschwängerte Luft tief durch die Nase ein, um sie gleich darauf mit einem glücklichen Lächeln wieder auszustoßen. „Ich habe das so vermisst!“, stellte sie fest und seufzte.
Von der Fahrerseite des Autos klang ein Lachen herüber, dann wurde die Autotür zugeknallt. Sie hörte das Klirren eines Schlüsselbunds hinter sich und das Klackern von hohen Absätzen auf dem Asphalt. Gleich darauf schob sich ein Arm um sie. Eine behandschuhte Hand legte sich auf ihre Schulter und Hannah spürte den tröstenden Druck einer festen Umarmung.
Lächelnd öffnete sie die Augen wieder. „Dankeschön“, flüsterte sie und umfasste die Hand mit ihrer Linken, die trotz der knackigen Kälte keinen Handschuh trug.
„Das hätten wir schon letztes Jahr tun sollen“, antwortete eine warme Frauenstimme neben ihr. „Ein Freundinnenbummel über den Weihnachtsmarkt. Mit Glühwein und Bratwurst und anderen Leckereien. Ich habe es dir angeboten, aber du wolltest nicht. Zu viele Leute, das war deine Ausrede. Kein Argument ließest du gelten, da konnte ich ins Feld führen, was ich wollte.“ Ein leises Seufzen schob sich zwischen die Worte. „Vielleicht nächstes Jahr, das war alles, wozu du dich überreden ließest. Madam zog sich in ihre vier Wände zurück wie eine Schnecke in ihr Haus.“
„He!“ Hannah versetzte der Hand auf ihrer Schulter einen leichten Klaps. Dann wandte sie der Sprecherin den Kopf zu. „Aber du hast ja Recht. Wie immer. Ich war dumm.“
Sophie, die Frau, die neben ihr stand, hatte heute nicht nachgegeben. Der Besuch war schon vor drei Wochen beschlossen worden und im selben Maße, wie der vereinbarte Zeitpunkt immer näher rückte, hatte Hannahs Nervosität zugenommen. Als es dann an der Tür klingelte, war sie fest entschlossen gewesen, zu Hause zu bleiben. Es stimmte, was Sophie sagte: Unter viele Menschen zu gehen vermied sie nach Möglichkeit. Eigentlich tat sie es nie.
Das war nicht immer so. Erst seit ihrem Autounfall vor zwei Jahren. Er hatte alles verändert ...
„Mein Reden“, unterbrach Sophie ihre Gedanken und klimperte drängelnd mit dem Autoschlüssel. „Ja, dein Unfall war schlimm und hat dein Leben aus dem gewohnten Trott gerissen. Aber du lebst noch. Begrab dich nicht selbst! Und jetzt komm, lass uns gehen. Vergiss deinen Rucksack nicht wieder!“
„Den hab ich hier“, gab Hannah zurück und hielt ihn hoch, während sie mit der anderen Hand die Autotür zuwarf. In Gedanken verglich sie den schon etwas abgenutzten Lederbeutel mit der schicken City Bag, die Sophie bei ihren gemeinsamen Ausflügen immer bei sich trug. Diese und das elegante, graue Wollcape der Freundin verrieten, dass die Eigentümerin Geschmack und auch das dafür nötige Kleingeld besaß.
Sophie lachte und schmiegte kurz den Kopf an ihre Schulter, wobei die pelzverbrämte Kapuze des Capes wie eine Liebkosung über Hannahs Wange strich. Die Bewegung ließ einen Hauch teuren Parfums folgen, der das Bratapfelaroma verdrängte.
Hannah lächelte. Neben ihrer Freundin war sie eine typische graue Maus. Kein Make-up, kein Schmuck, keine schicken Klamotten. Diese Dinge waren ihr nicht wichtig.
Und Sophie war das von Beginn ihrer Freundschaft an schnurzegal gewesen. Sie hängte sich bei Hannah ein und zog sie vorwärts. „Ich habe schon richtig Hunger“, verkündete sie ungeduldig. „Zuerst will ich eine Bratwurst und ein Bier.“
„Ein Bier?“ Hannah legte eine gehörige Portion Entrüstung in ihre Stimme, obgleich sie genau wusste, was die Freundin meinte. „Du musst fahren!“
Die stieg prompt auf das Spiel ein. „Stimmt“, sinnierte sie halblaut, „dann brauch ich was Stärkeres.“
Die Hand in Hannahs Ellenbeuge drückte scherzhaft kurz zu und beide prusteten wie auf Kommando los.
Sie hatten nicht weit zu laufen. Man konnte die Geräusche schon hören. Weihnachtsmusik, Stimmengewirr, Gläserklirren, Lachen und Schritte. Die Schritte vieler Menschen. Als sie um die Straßenecke bogen, blieb Sophie kurz stehen. „Oh, dieses Jahr ist der Baum sogar mal ganz ansehnlich“, lästerte sie und erntete einen leichten Rippenstoß.
„Ist doch egal“, wurde sie zurechtgewiesen, „Hauptsache, er leuchtet. Vor zwei Jahren sah er einfach nur schlimm ...“ Hannah beendete den Satz nicht und Sophie, die wusste, warum sie ihn abgebrochen hatte, sagte nichts darauf.
Noch bevor sie ihr Ziel erreichten, wurde Hannah wieder unruhig. Je näher sie kamen, desto langsamer setzte sie ihre Schritte.
Sophie, die es sofort registrierte, ließ das nicht zu. Sie hängte sich ein wenig fester bei ihr ein und schob sie so rigoros vorwärts. Und dann waren sie da.
Schlagartig wurden sie von den sich gegenseitig schiebenden und drängenden Menschen erfasst und fast mitgerissen. Lärm umgab sie und doch war kaum ein einziges Wort klar zu verstehen. Die Musik vermischte sich zu einem schrägen Missklang. Gleich neben dem Eingang stand ein Leierkastenmann. Dessen etwas klägliches „Oh Tannenbaum“ versuchte verzweifelt, sich gegen das „Last Christmas“ von Wham zu behaupten, das aus den überall aufgehängten Lautsprechern schepperte.
Leute stießen sie an. Manche entschuldigten sich, andere knurrten ungehalten, weil die beiden Frauen stehen geblieben waren.
Hannah roch Bierdunst und Schweiß. Zigarettenrauch. Angewidert zog sie die Nase kraus. Aber das Schlimmste waren die Farben. Bunte Kleckse, die sich vor ihren Augen unablässig bewegten. Unzählige Farbtöne waren zu erkennen. Sie tauchten auf, verschwanden, arrangierten sich, verteilten sich, neue erschienen, ... es war beängstigend.
Sophie merkte, was in Hannah vorging und wie die Freundin sich versteifte. Außerdem spürte sie, dass deren Finger fast panisch ihre Hand umklammerten. Schnell sah sie sich um.
„Wir setzen uns jetzt erstmal hier auf die Bank“, entschied sie kurzerhand und zog Hannah behutsam ein wenig nach rechts und damit heraus aus dem Pulk von durcheinanderlaufenden und schiebenden Menschen. „Ganz ruhig. Schau auf den Boden. Du kannst dich entspannen. Dir wird nichts geschehen. Versprochen. Komm, setz dich.“
Mit linkischen Bewegungen folgte Hannah der Anweisung. Steif hockte sie auf der Bank, den Rücken kerzengerade durchgedrückt, als hätte sie einen Stock als Wirbelsäule. Sie atmete tief durch, kniff die Augen zu und rief sich die Worte ihres Psychiaters ins Gedächtnis, der versucht hatte sie auf solche Situationen vorzubereiten.
Angestrengt presste sie die Lippen zusammen, so sehr konzentrierte sie sich, während sie spürte, wie Sophies Hand ihr beruhigend über den Rücken strich. Von oben nach unten, von oben nach unten ...