Es gibt 22 Antworten in diesem Thema, welches 4.623 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (22. September 2021 um 12:48) ist von Kiddel Fee.

  • Willkommen bei meinen literarischen Eintagsfliegen! Hier findet ihr die kurzen spontanen Ideen, die es nicht zu einem Roman geschafft haben.

    Viel Spaß beim Schmökern!


    Feuertaufe

    Noch lange vor Sonnenaufgang schlug er die Augen auf. Freudige Erregung durchströmte seine Glieder, mit einem Schlag war er hellwach und es war unmöglich, auch nur einen weiteren Moment im Bett zu vergeuden.

    Heute war der Tag.

    Mit vor Aufregung bebenden Fingern langte er nach dem Morgenrock, weil sein nichtsnutziger Kammerdiener noch selig im Vorzimmer zu schlafen schien. Rasch schwang er die Beine aus dem Bett und trat, während er sich das Kleidungsstück überwarf, zu den großen Fenstern hinüber.

    Weit unter ihm, am Fuße des Berges, vor der mächtigem Festung kauernd, lag die Hauptstadt im tiefen Schlaf unter einem sternenklaren Nachthimmel. Es war still. Erst bei Tagesanbruch weckten die Glocken die Bewohner und riefen zum Gebet.

    Doch bis dahin war er verwandelt und die Stadt würde ihm gehören. Alles würde ihm gehören. Heute wurde der endgültig letzte Schritt seiner Transformation getan und dann endlich war er derjenige, der er schon immer hatte sein sollen. Die Stadt, das Reich, die ganze Welt - es würde ihm alles zu Füßen liegen, anbetend, zusammengekauert, verstummt ob des Anblicks seiner Pracht und Herrlichkeit …

    Mit herrischer Stimme rief er nach dem Kammerdiener, der mit einem schlaftrunkenen “Hier bin ich, mein Prinz” ins Zimmer gestolpert kam. Was für eine lächerliche Figur dieses halbe Hemd abgab. Nach der Zeremonie musste er sich wohl nach einem neuen Bediensteten umsehen, doch das war kein Problem. Schließlich gab es Unmengen Menschen, die einem Wesen wie ihm nur zu gerne dienen wollten.

    Er trat vor den mannshohen Spiegel, während weitere Höflinge wortlos ins Zimmer geeilt kamen. Sie alle erledigten ihre allmorgendlichen Aufgaben flink und vor allem schweigend und mit größtmöglichstem Respekt. Das hatten einige von ihnen durch harte Schule lernen müssen. Besonders heute durfte nichts schiefgehen.

    Prüfend glitt sein Blick über das Spiegelbild. Ein schlanker Mann sah ihm aus violett-blauen Augen entgegen. Das Gesicht wirkte angespannt, versteinert und die blasse Haut unter dem silberglänzendem Haar ließ ihn fast ein wenig krank wirken. Doch der Eindruck täuschte, er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Fast schien es ihm, als leuchtete er von innen heraus, als brannte bereits ein Feuer tief in seinem Inneren. Er konnte die Hitze durch seine Adern rinnen spüren.

    Leuchtflamme, in der Tat. So würden sie ihn nennen, ehrfürchtig und erstaunt. Der Mann, der zum Drachen wurde.

    Theatralisch streckte er die Arme aus. Sein Morgenmantel glitt von seinen Schultern, Diener hüllten ihn in Kleidungsstücke für den Tag, schwarz mit blutrotem Futter, welches durch kunstvolle Schlitze in dem dunklen Samt schimmerte wie Glut.

    Dann brachten sie einen neuen feuerroten Umhang, den das Wappen seines Hauses zierte, gürteten seine Hüften mit Gold und setzten ihm ein Diadem mit schimmerndem Rubin auf das glänzende Haar.

    Ein letztes Mal musterte er sich. Ja, er bot einen unvergesslichen Anblick. Sein letzter Auftritt als gewöhnlicher Prinz, doch selbst dieses Bild würde sich ewig in die Köpfe aller einbrennen, die der Zeremonie beiwohnten. Und wenn er schon als Prinz so mächtig aussah, wieviel atemberaubender mochte er dann erst in seiner wahren Gestalt sein.

    Keiner seiner jämmerlichen Brüder würde noch gegen ihn bestehen können. Weder der verweichlichte Bücherwurm, der am liebsten seine gesamte Zeit zwischen dicken staubigen Folianten verbrachte - oh, was für ein entzückendes Feuer diese doch geben würden - noch der weibische kleinste Bruder. Selbst sein Vater, sein starker Vater, musste dann vor ihm das Haupt beugen und ihm den Thron übergeben.

    Ein letztes Mal strich er über seine Gewänder, dann wandte er sich rasch um. Die Türen vor ihm öffneten sich sofort. Nur mit großer Beherrschung gelang es ihm, die Flure gemessenen Schrittes zu durchqueren, am liebsten wäre er losgestürmt, doch das ziemte sich nicht für den Kronprinzen und schon gar nicht für die Kreatur, die er zu werden gedachte.

    Die Zeremonie sollte im Thronsaal stattfinden, da dieser die mit Abstand größte Halle der gesamten Anlage war. Gerade groß genug also für sein Vorhaben.Wenn auch riskant.

    Selbst zu dieser frühen Stunde mochte es sein, dass ungebetene Augen sein Anliegen erfassten und dem König meldeten. Und sein Vater verfügte noch immer über die Macht, ihn einsperren zu lassen, ihn zu ächten.

    Denn noch war er nur ein sterblicher Mensch, seine innere Form glich nicht der äußeren und in dieser schwachen Hülle gefangen konnte er die Kräfte in sich nicht entfesseln.

    Die Türflügel zum Thronsaal schwangen auf. Er nickte den Wachen rechts und links des Portales zu. “Ich wünsche keine Störung.”

    Sie nahmen Haltung an und nickten. Mit einem Krachen fielen die mit Gold verzierten Holztüren hinter ihm ins Schloss und er durchquerte die Halle. Seine Schritte auf dem blanken Boden hallten von den Wänden wider. Bis auf sechs einsame Fackeln nahe des aus Klingen alter Feinde geschmiedeten Throns war es dunkel.

    Nur wenige Eingeweihte hatten sich am Rande des vom Feuerschein erfassten Bereichs versammelt. Sie alle wiesen sich durch Treue und eiserne Verschwiegenheit aus und sie alle würden belohnt werden, sobald seine Verwandlung abgeschlossen war.

    Die Aufregung kribbelte in seinem Nacken und ein Schauer überlief ihn, als sein Blick auf den Greis ganz rechts fiel. Er trug ein kostbares Glasgefäß, verziert mit großen blitzenden Edelsteinen, aus denen ein grüner Schein verheißungsvoll schimmerte.

    Der Mann daneben hielt eine Truhe aus purem Gold in den Händen. In dieser ruhte, auf nachtblauen Samt gebettet, der kostbarste Besitz des Kronprinzen - ein Drachenei, das mit goldenen und silbernen Schuppen bedeckt war. Auf keinen Fall durfte die Zeremonie ohne dieses Ei stattfinden, ohne diesen Beweis seiner Auserwähltheit.

    Erhobenen Hauptes trat er in den Kreis, musterte jeden der Anwesenden und streckte schließlich auffordernd die Hände aus.

    Schlurfend kam der Alte auf ihn zu und reichte ihm den Pokal mit einer ehrfürchtigen Verbeugung. Dann wich er wieder zurück. Ein jüngerer Mann nahm eine der Fackeln aus der Wand und sah abwartend zu dem Prinzen herüber.

    Er blickte in sein Glas.

    Die Substanz schillerte in verschiedenen Grüntönen und war gleichzeitig so klar, dass er durch sie hindurch seine leise bebenden Finger erkennen konnte. Mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken forderte er den Fackelträger auf, seiner Aufgabe nachzukommen.

    Der trat zu ihm, senkte die Fackel und entzündete die Flüssigkeit im Pokal.

    Jetzt würde er wirklich ein Drache sein.

    Er hob das Gefäß, aus dem grüne Flammen tänzelten, an seine Lippen.


    Auszug aus Maester Yandels "Chroniken von Westeros", gewidmet Tommen, Erster seines Namens, König der Andalen und der Ersten Menschen, Herr der Sieben Königslande, Beschützer des Reiches

    "232 n. A. E. verschied Aerion Targayen, der sich auch Aerion Leuchtflamme nannte, als er einen Becher Seefeuer trank, im Glauben es würde ihn in einen Drachen verwandeln. Er starb schreiend."

  • Hallo Kiddel Fee

    Bin mir unsicher, ob ich nun einem indirekten Spoiler gelesen habe, da ich gestehen muss, weder die Bücher, noch die Serie zu Ende geführt zu haben.

    Aber zum Text;

    Den 'glühenden Mantel' konnte ich mir super vorstellen und auch das Schreiten zum Thron wirkte sehr atmosphärisch. Generell fand ich, dass es sich flüssig lesen ließ und sich bei mir mit der Zeit Neugier darüber aufgebaut hat, was nun bei der Zeremonie geschehen wird. Ich war dann beinahe schon enttäuscht, bis ich endlich die Auszugsbeschreibung am Ende lesen- und schmunzeln durfte^^

    LG, Ramon

  • Hi, Ivero L. , danke fürs Lesen ^^ Nein, du wurdest nicht gespoilert, diese Figur wurde weder in den Büchern noch in der Serie intensiv behandelt :sarcastic: Deswegen habe ich mich quasi auf ihn gestürzt, weil mir dieser Charakter beim Thema " Drachenfeuer" als erstes in den Sinn kam :rolleyes:

  • Kesselreaktion

    Gwendolin hatte die Nase gestrichen voll. Schlimm genug, dass sie trotz ihres Ruhestandes gezwungen war, am Hexeninstitut Sommerkurse zu geben, um ihre schmale Rente aufzubessern. Als Bonus hatte sie scheinbar auch noch die absolute Versagerklasse zugewiesen bekommen.

    Die alte Hexe rümpfte ihre vom Alter nach unten gekrümmte Nase und schnaubte verächtlich, während ihre knotigen Finger an den Buchrücken verstaubter Wälzer entlang glitten. Nicht, dass sie diese Bücher nötig gehabt hätte. All das Wissen dieser Werke war längst in ihrem Kopf gespeichert, erworben in harten Jahren der Ausbildung zur Hexe und während des Praktizierens verfeinert. Aber diese fünf Novizinnen, die man ihr aufs Auge gedrückt hatte, würden jede nur mögliche Stütze brauchen, um die Abschlussprüfungen zu bestehen.Sie waren nicht völlig unfähig, beileibe nicht, immerhin wiesen sie fünfhundert Jahre hexerische Familientradition vor. Trotzdem schien keine dieser blassen Bohnenstangen auch nur ansatzweise geeignet, eine richtige Hexe zu werden. Ihnen fehlte jeder Schneid, jemanden einen Fluch aufzuhalsen oder zu vergiften. Sie waren zu empfindlich, wenn es darum ging, Rattenhirn zu schneiden und Drachenspeichel mit dem Messbecher abzumessen. Die einfachsten Zaubersprüche verursachten, aus ihren Mündern kommend, die haarsträubendsten Katastrophen, einfach weil sie die Worte falsch aussprachen oder durcheinander brachten. Zornig rieb sich Gwendolin eine Stelle hinter dem linken Ohr, knapp unter der breiten Krempe ihres verschlissenen Hutes, wo sie eine fehlgegangene Beschwörung mehrere Büschel Haare gekostet hatte. Soviel Inkompetenz auf einem Haufen war schlichtweg gemeingefährlich und sie freute sich schon auf den Triumphtrank, den sich sich heute abend gönnen würde, sobald sie diese Stümperinnen ein für allemal losgeworden war.

    Die fünf Tränke, die Gwendolin für die Prüfung ausgewählt hatte, galten als derart simpel, dass selbst ihre Schützlinge diese ohne Probleme würden zubereiten können. Und tatsächlich, zwei Stunden später war der Raum erfüllt von bunten Dämpfen und interessanten Gerüchen. Bei ihren Kontrollgängen stellte Gwendolin erstaunt fest, dass in den kleinen Kesseln auf den Tischen wirklich die geforderten Substanzen zu blubbern schienen. Die Mädchen, alle derart fade Geschöpfe, dass die Alte ihnen einfach Nummern verpasst hatte, anstatt sich die Namen zu merken, waren heute außergewöhnlich aufmerksam und konzentriert, maßen mit Bedacht ihre Zutaten ab und arbeiteten rasch.

    Hinterher dachte Gwendolin, dass sie es hätte besser wissen müssen.

    Mit kritischem Blick beugte sie sich über den Kessel von Schülerin Nummer 1, die im Prüfungslotto den Sternensirup gezogen hatte. Es war weniger ein Zaubertrank als mehr Freude fürs Auge. Die dickflüssige Masse im Kessel schillerte in verschiedenen Blau - und Violetttönen und silberne Sprenkel durchzogen die wabernde Suppe, die aussah wie der Nachthimmel.

    “Bemerkenswert”, äußerte sie, obwohl diese Beschreibung sicherlich absolut übertrieben war. Doch Schülerin 1, außer sich über das unverhoffte Lob, stieß ein Jauchzen aus und dabei die Flasche Geckogalle um. Die gelbe Flüssigkeit ergoss sich über den Tisch und ließ das Feuer unter dem kleinen Kessel spontan hellgrün und heiß auflodern. Anscheinend bekam dem Sirup die Hitze nur bedingt, jedenfalls kochte der Trank, blaue Blasen spuckend über, fing Feuer und setzte den gesamten Arbeitsplatz in Brand.

    Nummer 1 sprang entsetzt zurück und stieß dabei gegen Nummer 2 , die zur Seite stolperte und dabei ihren Kessel umriss. Die Lyse-Lösung ätzte sich in atemberaubenden Tempo durch die hölzerne Tischplatte und setzte beim Eintreffen auf dem Fußboden ihr Zerstörungswerk umgehend an den ledernen Spitzenschuhen der Hexenanwärterinnen 1, 3 und 5 fort. Panisch hin und her hüpfend, streiften diese am gegenüberliegenden Arbeitsplatz den nächsten Kessel, der unglücklicherweise wirksames Wandelwasser enthielt.

    Gwendolins Warnruf verhallte wirkungslos, das Wandelwasser erwischte zwei der Mädchen und verzauberte sie. Ironischerweise wurde Nummer 2, die Zarteste der Gruppe, dabei ein zentnerschweres Wildschwein, während Nummer 4 plötzlich zum Stinktier mutierte.

    Beide Tiere versetzte der Anblick des brennenden ersten Tisches in helle Panik. Das Stinktier sprang schrill kreischend auf den Kopf der nächstbesten Schülerin, krallte sich in deren Haare und verspritzte sein Sekret in alle Richtungen. Das Wildschwein, völlig kopflos vor Angst, kollidierte mit mehreren Tischen, bevor der vierte Kessel zu Fall kam und wie ein Helm auf dem Wildschweinkopf landete. Das darin kochende Erstarrungselixier bremste das Tier zwar abrupt, ließ es aber gleichzeitig auch zu Stein werden und formte aus Schwein und Topf eine Skulptur ähnlich einem besonders hässlichen Wasserspeier.

    Derweil rotierte das Stinktier weiter, seine Duftnote vermischte sich mit dem Gestank des brennenden Sternensirups, während gleichzeitig alle versuchten, der auf dem Boden zischenden Lyse-Lösung zu entkommen und dabei hysterisch schrieen.

    Am lautesten aber schrie Gwendolin, sie schrie vor Zorn. Energisch packte sie den Henkel von Kessel Nummer 5 , schwang diesen über dem Kopf wie einen Morgenstern und schleuderte dessen Inhalt durch den ganzen Raum.

    Die Blümchenboullion tat ihre Wirkung erstaunlich gut. Nur Sekunden später starrte Gwendolin , bebend vor Wut, auf das, was von ihrem Klassenzimmer übrig geblieben war. Ein Tisch rauchte noch immer vor sich hin, einer hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst und zwei weitere waren vom Wildschwein umgeworfen worden. Besagtes Schwein stand noch immer, mit einem steinernen Kessel gekrönt, leblos auf den Hinterhaxen, bedeckt von einer Vielzahl außergewöhnlich hübscher Stiefmütterchen. Dem Mädchen mit dem Stinktier auf dem Kopf wucherten zusätzlich Kletterrosen aus den Ohren. Schülerin 3 schwankte dank der Fesseln aus rotem Weinlaub, das sich entsetzlich mit ihrem natürlich rotem Haar biss. Und die letzte schien sofort eine Allergie auf die überall sprießenden Krokusse zu entwickeln, jedenfalls nieste sie ohne Pause und verteilte die zarten Blüten der auf dem Boden wachsenden Butterblumen im ganzen Raum.

    “Schluss!”, zischte Gwendolin. “Ihr habt bestanden. Geht jetzt! Mir egal, wie, aber geht! Und wenn ihr jemals einer Seele von dieser Prüfung erzählen solltet, werde ich euch finden und jede einzelne dieser Substanzen zu Schlucken geben. Raus jetzt!”

    Binnen Sekunden war der Raum leer, mit Ausnahme des Wildschweins und einer letzten Note Stinktieressenz. Kopfschüttelnd sank Gwendolin auf ihren Stuhl zurück.

    Sie war eindeutig zu alt für diesen Blödsinn.

  • Heyho Kiddel Fee

    Vielen Dank, daß Du mir die Story auf's Neue in Erinnerung gerufen hast.:thumbup::thumbup::thumbup:

    Die Kettenreaktion habe ich schon im damaligen Schreibwettbewerb hier genossen...es war herrlich!

    Gwendolin war für mich so eine Art "Oma Wetterwachs" beim Lesen.

    Wenn sich die Ideen von verschiedenen Menschen vereinen, ist das für mich immer ein tolles Ding!

    Merci!

  • Hej Kiddel Fee

    Binn durch Zufall hier reingestolpert (und dachte ich lass mal ein bisschen Lob da^^.)
    'Kesselreaktion' liesst sich wunderschön flüssig, und die Geschichte hat mir den gesamten Abend versüsst.
    Schmuzelnd über Gwendolins karakter, und lachend nach fasst jeder Zeile. An keiner einzigen Stelle langweilig, sondern pure freude und grinsen. Hat etwas von einer netten Kinderbuch-Kurzgeschichte.
    Oberflächlich kann man der Handlung folgen/wiedererzählen, bedeutet; super für Kinder, wegen dem 'Ohrwurm'-Potenzial,
    ergo: der leicht zu memoriereenden und übersichtlichen Struktur, die auch ohne Details, sehr gut auskommt.
    Nochmals: sehr flüssig und bunt Geschrieben (dezenter, gesunder Neid kriecht grummelnd auf meinem Fussboden herum, bei der erwähnung von flüssigem Schreiben) und joar.
    Danke für diese kleine Geschichte und ein haufen abendlicher Lachreize.

    Lg Charun

    Wer denkt er könne nichts, der kann auch nicht's.
    Aber wer es probiert und es nicht hinkriegt, hatt's schon fast geschafft.

  • Das letzte Blatt

    Instinktiv wusste Dan, was geschehen war, noch bevor er den Anruf entgegen nahm. Mit klopfendem Herzen und plötzlich schweißnassen Fingern meldete er sich.
    “Es ist wieder passiert!”, hielt sich seine Frau am anderen Ende der Leitung nicht lange mit unnützem Gerede auf. “Sie wurde vor einer Stunde zuletzt gesehen.”
    “Ich fahre zum Friedhof, Cass”, antwortete er, während er das Handy zwischen Kinn und Schulter klemmte, um beide Hände freizuhaben und den Mantel überzuwerfen. Nicht schon wieder, bitte nicht!
    “Gib Bescheid, wenn du sie findest! Ich sags den anderen.” Grußlos drückte sie ihn weg, doch er nahm es ihr nicht übel. Sie würde jetzt routieren, die bereits bekannten Anrufe tätigen müssen - die Freunde, die Verwandten in der Nähe, die Polizei.
    Dan war dankbar, dass sie sich kümmerte und er selbst Zeit bekam, schon einmal anzufangen mit der hektischen Suche. Leider war es nicht das erste Mal. Trotzdem packte ihn jedes Mal aufs Neue die Angst, wenn es geschah, Panik davor, nicht rechtzeitig ...
    Während er zu seinem kleinen schwarzen Auto eilte, vorbei an erstaunten Menschen, schossen ihm unzählige Gedanken durch den Kopf.
    Mama.
    Der Tod ihres Mannes vor einem Vierteljahr hatte seiner Mutter alle Kraft, Gesundheit und Lebensfreude geraubt. Binnen weniger Tage welkte sie dahin wie ein Blatt im Spätherbst, ihr Geist verdunkelte sich. Sie malte nicht mehr, sie las nichts mehr. Keine Tätigkeit konnte ihre Gedanken in andere Bahnen lenken. Waren es anfangs nur Namen und Daten, die sie vergaß, so wurde ihren beiden Söhnen doch spätestens mit der brennenden Küche klar, dass sie nicht mehr alleine leben konnte. Schweren Herzens war sie in ein Pflegeheim gegeben worden, wo rührend für sie gesorgt wurde.
    Doch auch die aufopfernste Pflege vermochte ihre Trauer nicht zu lindern. Sie lief immer wieder davon. Trotz ihrer schwindenden Kräfte zog es sie zum dem Haus, in dem sie mit ihrem Mann jahrelange gelebt hatte. Es war herzzerreißend, sie tränenüberströmt im Garten herumirren zu sehen, während sie flüsternd mit dem sprach, der schon nicht mehr dort war. Und noch grausamer schien es, sie dann wieder fortzubringen.
    Das letzte Mal, als sie ausgerissen war, Anfang der Woche, hatte sie jedoch nicht den Weg nach Hause gewählt. Vielleicht war es durchgedrungen in ihren Verstand, jedenfalls hatte man sie nach langer, nervenaufreibender Suche auf dem Friedhof gefunden, durchnässt und völlig ausgekühlt, vor dem schlichten Grab ihres Mannes kniend.
    Ihr Arzt, ein langer Freund der Familie, hatte sich die Söhne beiseite genommen und ihnen eindringlich klargemacht, dass ein weiterer Ausflug dieser Art das Leben ihrer Mutter kosten konnte. Die unausgesprochene Frage, ob das nicht besser für die alte Dame sei, hing über ihnen wie eine giftige Wolke.
    Glücklicherweise war an diesem strahlend schönen Oktobervormittag kaum Verkehr. Dan erreichte den leeren Parkplatz des städtischen Friedhofs und hielt so abrupt, dass der Kies knirschte, warf die Autotür zu und rannte los, den gepflegten Wegen folgend, bis die vertraute Wiese in Sicht kam, auf der sein Vater die letzte Ruhe gefunden hatte.
    “Bitte, lass sie hier sein!”, stieß er aus, ohne genau zu wissen, ob es an einen Gott oder an seinen Vater ging.
    Einer von beiden hatte sein Flehen erhört. Als er um die letzte Ecke schlitterte, sah er den schlichten Grabstein aus hellem Marmor und davor eine kauernde Gestalt.
    “Mama!” Er brüllte, verzweifelt und erleichtert zugleich und rannte zu ihr, ließ sich neben ihr ins Gras fallen und zog ihren mageren Körper an seine breite Brust. “Mama!” Mit zitternden Fingern fuhr er über ihren Rücken - sie trug nicht einmal eine Jacke! Rasch zog er seinen Mantel aus und legte ihn ihr um die Schultern. “Mama, was tust du hier?”
    Seine Mutter kauerte nach wie vor auf der Erde. In ihren schmalen bebenden Händen hielt sie ein paar verknitterte Zettel. Nicht einmal den Kopf hob sie. Das Haar, das einmal fein wie Seide gewesen war, hing ihr jetzt wirr ins Gesicht.
    Eine leichte Windbö ließ ihre Strähnen tanzen. Gleichzeitig ging ein sanfter Regen aus leuchtend gelben Blättern auf sie hernieder. Der Kirschbaum, unter dem das Grab des Vaters lag, strahlte in der Herbstsonne und ließ seine Blätter tröstend sanft fallen.
    “Mama, komm. Bleib nicht auf dem Boden sitzen.” Er hob sie hoch und trug sie die drei Schritte zur nächsten Bank hinüber, wo er sie vorsichtig absetzte. Dann hockte er sich vor sie und nahm ihre dürre Hand. “Mama!”
    Langsam hob sie den Kopf und er erschrak. Ihr Gesicht war eine Maske tiefste Trauer, jenseits von allem Trost. Sie hatte geweint, die Tränenspuren waren auf ihren Wangen deutlich zu erkennen, doch jetzt schien sie keine Tränen mehr in sich zu haben. Nur Not, verzweifelte Sehnsucht, sprach aus ihren Augen.
    Jemand rief seinen Namen, doch er vermochte nicht zu reagieren. Für ihn zählte nur diese zerbrechliche Frau vor ihm. “Mama ... “
    “Mama!” Schritte kam rasch näher. Sein Bruder Tibb fiel neben ihm auf die Knie, er schien sich nicht mal Zeit genommen zu haben, eine Jacke zu suchen. Das Hemd hatte Schweißflecken vom schnellen Rennen, die Krawatte hing halb über der Schulter, doch es kümmerte niemanden.
    Wieder reagierte sie nicht. Es war, als starre sie durch ihre beiden Söhne hindurch zum Grab.
    Tibb hatte den Arzt mitgebracht und dieser maß schweigend den Puls an dem zarten Handgelenk. Dann warf er Dan einen ernsten Blick zu. “Das sieht nicht gut aus. Schwach und unregelmäßig.”
    “Aber sie ist allein bis hierher gekommen. Wie kann sie jetzt auf einmal schwach sein sein?”
    “Ihr Lebenswille ist erloschen.” Bekümmert sah auch der Mediziner zum Grab hinüber. “Es hält sie nichts mehr hier.”
    “Mama!”
    Wieder regnete es Kirschbaumblätter. Zärtlich tanzten sie um die Gruppe Menschen herum, wie ein stiller Zuspruch.
    “Es ist fast, als würde Pa etwas sagen.” Tibb kniete noch immer, hielt die andere Hand seiner Mutter und hatte den Blick zum Grab gewandt.
    Ein Blatt blieb im Haar der alten Dame hängen, dann taumelte es an ihrer Wange entlang nach unten und legte sich in ihrem Schoß zur Ruhe, neben den zerknitterten Zetteln.
    Behutsam nahm Dan das Papier an sich und entfaltete es.
    Wie ein Stromschlag schoss die Erinnerung durch seinen Kopf, er hörte sich selbst nach Luft schnappen. Pa, murmelte er tonlos, was soll ich nun tun …?
    “Nein …”, flüsterte sein Bruder neben ihm, während er auf die drei Skizzen hinabsah.
    Der tote Kirschbaum im Sommer.
    Der blühende Kirschbaum im Schnee.
    Der Kirschbaum voller Früchte und die Familie, die zu seinen Füßen saß.
    Bilder, die ihm sein ganzes Leben lang vertraut gewesen waren. Der blühende Baum hatte jahrelang ihr Kinderzimmer geschmückt und war später in das Schlafzimmer der Eltern umgezogen. Der Kirschbaum mit der Familie war ein Porträt, von der Mutter für sie alle gemalt, und hatte den Ehrenplatz im Wohnzimmer bekommen. Der tote Baum, so hatte er einmal Pa sagen hören, war Mamas unerwiderte Liebe zu Pa gewesen, lange vor ihrer Heirat …
    Langsam wandte er den Kopf und schaute zu dem strahlenden Kirschbaum über dem Grab. Der letzte Wille seines Vaters war dieser Baum. Der Baum, von dem nun die letzten Blätter fielen, wie eine liebende Einladung.
    Er sah seine Mutter an. “Geh, Mama. Er wartet auf dich.”
    Sie blinzelte kurz, dann wurde ihr Blick noch einmal klar. Fragend studierte sie die Gesichter ihrer erwachsenen Söhne, suchte nach der Erlaubnis und als beide nickten und lächelten, nickte auch sie.
    Eine einzelne Träne lief noch ihre Wange herab, dann lehnte sie sich seufzend zurück und schloss die Augen. Blätter umtanzten sie, als der Wind erneut durch den Baum strich, und als sich das Laub gelegt hatte, war auch sie gegangen.

  • Kiddel Fee

    Das geht richtig unter die Haut ... ;(

    Ganz schlicht und ohne großes Drama kommt dieses Geschichtchen aus und schafft es trotzdem, ein mega beklemmendes Gefühl bei mir auszulösen. Das Szenario ist mir nicht fremd und weckt Erinnerungen.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

    Einmal editiert, zuletzt von Tariq (31. Januar 2024 um 23:11)

  • Liebe Kiddel Fee ,

    danke für diese berührende Geschichte. Eigentlich lese ich hier im Forum immer schon mit dem innerlichen Lektorenhabitus, aber der ist hier gar nicht nötig. Sehr bewegend, sehr emotional, wunderschöne Metaphern und Vergleiche. Mutiges Thema - manchmal muss man jemanden gehen lassen, auch wenn es schmerzt.

    Danke dir.

    Was ich schreibe: Eden

  • Dankeschön, Stadtnymphe. Ich muss ehrlich gestehen, ich hatte bis jetzt wenig Probleme damit, Charaktere über die Klinge springen zu lassen, vllt weil ich selber in der glücklichen Situation bin, dass noch niemand meiner Liebsten gestorben ist. Deshalb bin ich mir unsicher, ob die Reaktionen und Emotionen wirklich glaubwürdig oder einfach nur Show sind. Umso mehr freue ich mich, wenn ich andere damit erreichen kann.

  • Heyho Kiddel Fee

    Das war gut. Verdammt gut.

    Ich sitz' hier gerade mit einem Scheißkloß im Hals rum und kriege ihn nicht wirklich raus.

    Ich habe einiges in der Erzählung wiedergefunden...

    Danke.

    :thumbup::thumbup::thumbup:

  • Winterkind

    (Geschichte aus dem Schreibwettbewerb)

    Der Wind heulte über die blanken Zinnen der Zitadelle hinweg, trieb dichtes Schneegestöber vor sich her und ließ die Welt in einem taumelnden Weiß verschwinden. Schneidend kalte Böen pfiffen durch die hohen, steinernen Bögen des Eisigen Tors und bogen die schwarzen Äste des Baums, der auf dieser Terrasse gepflanzt worden war, nahezu bis zum Bogen. Es war tiefster Winter und kein Mensch ging bei diesem Wetter freiwillig vor die Tür.
    Dennoch hatten sich im Schatten des Toren sieben Menschenkinder eingefunden. Stumm knieten sie nebeneinander auf dem harten Boden, die Fäuste auf die Schenkel gestemmt und die Köpfe gebeugt.
    Vor ihnen schritt, angetan mit einer tiefblauen und mit Gold verzierten Robe, der Erzmagier des Winters auf und ab. Ihm schienen der Wind und das Schneetreiben nicht das geringste auszumachen. Gelegentlich blieb er stehen, atmete mit geschlossenen Augen ein und aus, als wolle er die Kälte um sich herum aufsaugen und Kraft aus ihr ziehen.
    Nio fror entsetzlich. Die dünne Kleidung, die sie deutlich als Bettelkind kennzeichnete, konnte das Mädchen nicht vor dem eisigen Wetter schützen. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie und die anderen Kinder schon hier warteten, doch ihre Füße waren schon so kalt, dass sie sie nicht mehr spüren konnte. Schneeflocken umwirbelten ihre blauen Hände und vor ihren Knien hatten sich bereits kleine Schneewehen gebildet.
    Der Erzmagier blieb erneut stehen, wandte sich dem Wind zu und öffnete die Arme weit. Hektisch flatterten sein Haar und sein Mantel im Wind.
    “Ar-Men Gallach!”, donnerte er und seine Stimme dröhnte über das tobende Wetter hinweg. Es rauschte, als wolle der Sturm seine letzte Kraft auffahren, doch dann kehrte beinahe schlagartig Stille ein. Die Schneeflocken, die eben noch durch die Luft geschossen waren, tänzelten langsam zu Boden.
    “Schneemagie!”, bellte der Magier und fuhr zu den Kindern herum. “Richtig angewendet verleiht sie ihren Auserwählten unglaubliche Stärke. Doch es erfordert jahrelanges Training, gnadenlose Disziplin und einen starken Geist, diese Magie nach eurem Willen zu formen.”
    Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und nahm seine Wanderung wieder auf. “Jeder von euch trägt ein besonderes Zeichen an sich, eine Spur der Magie des Ewigen Eises.”
    Zögernd öffnete Nio die rechte Hand. In der blassen Handfläche war ein kleiner Kristall eingraviert, umgeben von fünf Strahlen. Dieses Zeichen trug sie schon immer, seit sie sich erinnern konnte. Sie starrte darauf hinab und bemerkte zu spät die Schuhspitzen, die in ihrem Sichtfeld aufgetaucht waren.
    “Nicht jeder, der von der Magie berührt wurde, wird diese auch nutzen können”, knurrte der Mann. “Ihr seid hier, damit wir herausfinden, wer von euch berufen ist - und wer nicht.”
    Mit einer ausholenden Geste wies er auf den Baum. “Das Winterherz wird uns den Weg zeigen.”
    Nio hob den Kopf und sah den Baum an. Obwohl tiefster Winter war, trug der Baum seltsame Blüten, geformt wie kleine Schneebälle aus Kristall, und Blätter, die dem sternenübersähten Nachthimmel glichen. Trotz der völligen Windstille raschelten diese leise und schienen in unverständlichen Sprachen miteinander zu wispern.
    “Der Baum ist doch tot”, sagte plötzlich ein Junge zwei Plätze neben ihr, ein älterer Junge auf dem Weg zum Mann in feinen Kleidern und einem warmen Mantel.
    “Genau, wie soll uns ein Baum dabei helfen, Magier zu werden?”, fragte das Mädchen zu Nios Linken, die in schlichtes, aber dickes Tuch gekleidet war.
    Mit ausdruckslosem Gesicht blickte der Mann auf sie herab. Dann schüttelte er den Kopf. “Ihr könnt gehen. Ihr seid nicht berufen. Das Winterherz spricht nicht zu euch.”
    Nio verstand nicht, was die beiden gemeint hatten. Während sich die Ausgemusterten erhoben und den Schnee von den Beinen klopften, blickte sie noch einmal zum Baum hinüber. Nein, er war nicht tot. Noch immer trug er Blüten und Blätter.
    Schweigend warteten alle, bis die beiden verschwunden waren.
    Dann hob der Magier seine Rechte und streckte sie dem Baum entgegen. Ein sanftes Leuchten begann auf seinen Fingerspitzen zu schimmern und schließlich lösten sich fünf kleine blaue Kristalle aus diesem Leuchten und schwebten sanft den schwarzen Ästen entgegen. Diese glommen ebenfalls auf und fingen an, sich zu regen. Langsam und untermalt vom Knarzen des Holzes umschlangen die Zweige einander zu dicken Säulen, umrankt von den zarten kristallenen Blüten, und formten schließlich ein mannshohes Portal, welches mit eisblauem Schein gefüllt zu sein schien.
    “Hinter diesem Tor wird eure Prüfung beginnen.” Der Magier klang bestimmt und sein kritischer Blick wanderte die fünf Kandidaten entlang. “Seid gewarnt. Wenn ihr diesen Weg einmal beschritten habt, gibt es kein Zurück. Das Winterherz wird eure Seele prüfen. Wer der Prüfung nicht standhält, dessen Magie kehrt zurück in die ureigenste Essenz des Eises und er wird Teil davon werden. Seid ihr dazu bereit?”
    Ein Schauder überlief Nio, obwohl sie nicht begriff, wovon der Alte sprach. Die Essenz des Eises? Das Winterherz?
    Zwei weitere Kinder waren aufgestanden und verließen die Gruppe. Sie wagten es nicht. Nio zögerte. Doch sie hatte nichts zu verlieren. Wenn sie jetzt ging, würde sie nur wieder auf der Straße landen, in den klammen Hinterhöfen schlafen und um ihre Nahrung betteln müssen.
    Die beiden übrigen nickten ebenfalls entschlossen.
    “Ihr werdet nacheinander gehen. Was euch hinter dem Portal erwartet, weiß ich nicht. Es ist immer anders, so wie ihr verschieden seid. Viel Glück!” Der Erzmagier nickte den drei Kindern zu.
    Der ältere Junge wagte es zuerst. Er trat durch das Portal aus schwarzen Ästen und das Licht schluckte ihn. Eine auffordernde Geste später verschwand auch der andere Knabe. Nun war Nio übrig. Zitternd vor Kälte stand sie vor dem Tor. Wieder schien es, als würden die Blätter des Baumes wispern. Es klang nicht bedrohlich, sondern seltsam vertraut. Tief atmete sie durch, dann ging sie los.
    Das Licht streichelte ihr Gesicht mit sanfter Wärme und dann plötzlich trat sie ins Leere und fiel in die Tiefe. Erschrocken schrie sie auf, doch bevor die Angst übermächtig wurde, landete sie wieder auf Grund. Doch nein, es war kein Grund.
    Sie stand auf einem See. Ihre Füße sanken fingerbreit ein. Erstaunt riss sie die Augen auf. Um sie herum erstrahlten auf einem nachtschwarzen Himmel unzählige Sterne, die sich im unbewegten Wasser klar spiegelten. Als Nio an sich herabblickte, erkannte sie ihr eigenes Selbst unter sich in der Kühle des Sees, an der Wasseroberfläche verbunden, schwebend im Nachthimmel, so sah es aus. Ihr Spiegelbild öffnete den Mund und das Wispern der Blätter erklang durch die Stille dieser Welt.
    Vorsichtig hob Nio einen Fuß, ein Kräuseln lief über das Gesicht unter ihr. Bedächtig wagte sie einen Schritt.
    Der Himmel um sie herum erlosch und es gab nur noch Finsternis. Dann strahlte ein Licht von ihren bloßen Zehen auf, leuchtendes Eis erblühte in der Nacht und kroch von ihr weg, fächerte auf der schwarzen Wasseroberfläche auseinander. und formte einen Weg durch das Dunkel.
    “Komm zu mir!”, erklang es aus der Ferne und das Wispern um Nio herum wurde lauter. Gehorsam lief sie los, folgte dem eisigen Pfad. Um sie herum wurde es mit jedem Schrittt heller, die Sterne kamen zurück, gekleidet in das Licht des Eises. Sie führten das Kind zu einer kleinen Insel auf dem Meer aus dunklem Wasser.
    Auf dieser Insel stand ein gigantischer Baum. Seine dicken Wurzeln, die direkt in die schwarzen Fluten wuchsen, waren so dick, wie Nio groß war. Ein Stamm von der Breite eines ganzen Hauses, gekleidet in dicke Rinde, zeugte von den Jahrtausenden, die dieser Baum schon gesehen haben musste. Die Äste, mit Kristallblüten und Silberblättern gesäumt, erstreckten sich über den ganzen Himmel, bedeckt von weiß glitzerndem Schnee. Wispern erfüllte die Luft und wurde immer lauter, je näher Nio kam.
    Barfuß betrat sie die Insel und die weiche, weiße Schneedecke schluckte jeden Laut. Schließlich hatte sie den Baum erreicht und blickte in die schwindelerregend hohe Krone hinauf. Ein sanfter Wind war aufgekommen, strich ihr durch das Haar und ließ die Blätter rascheln.
    “Zeig es mir, mein Kind!” Wieder erklang die Stimme, die sie vorhin schon einmal gerufen hatte. Sie klang weder wie ein Mann noch wie eine Frau, weder jung noch alt, nur - weise.
    Zitternd hob Nio die Rechte mit dem Zeichen.
    In der Rinde glomm blassblaues Licht auf, formte glimmende Linien, die exakt das Mal auf der Handfläche widerspiegelten.
    Ein seltsames Gefühl stieg in Nio auf, ein vertrautes und bekanntes Gefühl, wie eine ferne Erinnerung. Ohne zu zögern legte sie ihre Hand auf das Licht des Baumes und es wurde stärker, umspülte sie wie mächtige Wogen und ließ alles um sie herum verschwinden. Sie fühlte ein Pulsieren, eine Art Herzschlag, der sie umgab und nach oben zog. Und dann schwebte sie, ihr war nicht mehr kalt, das Licht hüllte sie ein und durch ihren Körper floss Magie, die Kraft der alten Zeit, die Uressenz des Winters.
    “Niemand berührt das Herz des ewigen Eises, ohne selbst zu Eis zu werden. Doch deine Seele liegt klar und rein vor mir. Dir ist es bestimmt, die alte Magie wieder in die Welt hinauszutragen.”
    Das Licht wurde noch stärker und Nio musste die Augen schließen. Langsam sank sie zurück und spürte wieder Boden unter den Füßen. Als sie aufsah, blickte sie in die erstaunte Miene des Erzmagiers.Wortlos sahen sie einander an.
    Ein Wispern. Es regnete Blüten und Blätter, die umeinander wirbelten, immer heller aufstrahlten und schließlich eine Krone aus Eis formten, welche sich sanft auf Nios Kopf niederließ.
    “Folgt ihr!” Die Stimme verwehte, dann blieb Stille zurück.

  • Im Leben wie im Sterben

    Jeder Mensch hat eine Gabe. Ein besonderes Talent, das tief in ihm schlummert, irgendwann erwacht und schließlich zutage tritt, wie eine Knospe eines Tages aufbricht. Manche dieser Fähigkeiten sind nützlich, andere banal, geradezu lächerlich. Manche sind legendär.
    Ihre Gabe war tödlich.
    Sie trug den Tod in sich. Er strömte aus ihrem Körper wie Blut aus einer Wunde, verpestete gleich einer giftigen Wolke die Luft um sie herum und sprang durch eine Berührung andere an, als wäre er ein Wolf auf der Jagd. Ein ständiger Begleiter, der einzige, auf den sie sich verlassen konnte.
    Darum glich ihr Leben dem eines Zugvogels. Sie wanderte durch die Wälder, fern von menschlichen Siedlungen. Abends schlug sie ihr Lager im Wald auf, schlief auf Blättern und Gräsern, beschirmt von rauschenden Baumwipfeln. Doch wenn sie morgens erwachte, war das Laub unter ihrem Körper verrottet, das Gras gelb und dürr und die Bäume in der Nähe verdorrt. Der Tod kam mit ihr, wohin sie auch ging.
    Seit Jahren hatte sie mit keinem Menschen mehr gesprochen. Ihre Gabe war vor einiger Zeit erwacht und sie hatte nicht sofort begriffen. Der Vater, der zusammengebrochen war, als er ihr durch das Haar gestreichelt hatte. Die Mutter, die Blut spuckte, als sie ihre Tochter beschützend an sich gezogen hatte. So viele hatten ihr Leben lassen müssen, bis ihr endlich klar geworden war, dass sie der Grund sein musste.
    Und sie war geflohen.
    Der Schmerz der Einsamkeit war grausam und weit mehr, als ein junger Mensch in diesem Alter ertragen konnte. Wie oft hatte die Sehnsucht nach Wärme, nach Worten, nach einer bloßen Berührung gesiegt und sie in ein Dorf getrieben, an eine Kate klopfen lassen. Und wie teuer hatten die Menschen, die barmherzig gewesen waren, dafür bezahlen müssen.
    Mit Schaudern erinnerte sie sich an ihre Versuche, sich selbst das Leben zu nehmen. Doch sie, für die der Tod allgegenwärtig war, hatte allen Bemühungen zum Trotz nicht sterben können. Weder Sprünge in tiefe Schluchten noch Vergiftungen, ja nicht einmal Ertränken waren erfolgreich gewesen. Irgendwann kam sie immer wieder zu sich, unter grauenhaften Schmerzen, aber am Leben. Weder Hunger noch Hitze oder Kälte, auch kein Blutverlust konnten ihr etwas anhaben.
    Das letzte Mal war sie in einem weichen Bett aufgewacht und hatte rußige Holzbalken über sich angestarrt. Als sie sich aufgesetzt hatte, war das entsetzliche Bild bereits fertig gemalt. Die alte Großmutter auf dem Schemel am Feuer, mit einem Gesicht so runzlig wie ein Winterapfel und tiefblauen Lippen. Die Mutter, der Länge nach ausgestreckt zwischen Feuerstelle und Bett. Ihre verwelkte Hand, tot und weiß, lag noch an der Wiege, in der ein bleiches Baby mit glasigem Blick ins Leere starrte.
    Als sie zitternd und schreiend aus dem Haus stolperte, glitt sie aus. Das Blut des Vaters hatte den Vorhof der armseligen Holzhütte in roten Matsch verwandelt.
    Sie floh wieder, sie rannte in die Wälder, verbarg sich tief im Gehölz und schwor sich, nie wieder einem Menschen zu nahe zu kommen, nie wieder entdeckt zu werden.
    Über Tage und Wochen hinweg, auch wenn ihr das Gefühl für die Zeit vollends verloren gegangen war, versanken die Erinnerungen an die Zivilisation. Ihre Welt bestand aus dem Wald, der Wildnis, der Weite. Sie hatte keinen Begleiter, niemanden, der sie beim Namen rief.
    Sie war allein und es war gut so.
    Bis ihr Verfolger in ihr Leben trat.
    Wer es war, wusste sie nicht. Doch sie spürte seine Präsenz wie ein warnendes Klingen in ihrem Bewusstsein, sie fühlte sein Nahen und lauschte in der Nacht, ob er sich näherte. Sie hatte ihn nie gesehen, aber seine Gegenwart füllte ihr Herz mit Sehnsucht - und Sorge. Ein Mensch, ein lebender Mensch, der ihr auf der Spur war, der ihr unsichtbar folgte und ihr Dasein teilte. Für einen Moment gab sie sich der schmerzlich süßen Vision eines Märchenprinzen hin, der kam, um ihren Fluch zu brechen und sie aus der Einsamkeit zu erlösen. Doch das Traumbild verblasste schnell. Kein Prinz der Welt, kein Ritter und kein Recke hatte jemals den Tod besiegt. Sobald ihr geheimnisvoller Besuch zu nahe kam, würde er sterben.
    Ohne ein Ziel vor Augen, einfach dahinwandernd, erklomm sie einen schmalen Pfad, einen Wildwechsel, der hinauf zu einem steinigen Plateau führte. Rechts und links lagen grobe Felstrümmer, zwischen denen sich kümmerliche Pflänzlein einen Weg ans Licht suchten. Die Sonne strahlte trotz des frühen Morgens warm.
    Es dauerte nicht lange, bis sie eine Pause nötig hatte.
    Nach kurzem Zögern rutschte sie gefährlich nahe an den Abgrund und spähte über das weite Feld hinaus bis zurück zum Wald. Vielleicht hatte sie Glück und der Verfolger- sie nahm jedenfalls an, dass es ein Mann war - zeigte sich.
    Ihre Hände griffen in saftig grüne Grasbüschel und schwarze Erde, hielten sie, während sie aufmerksam suchte. Am Waldrand stieg Dunst auf. Bewegte sich dort etwas? Konzentriert kniff sie die Augen zusammen.
    Das Gras unter ihr schien aufzuseufzen, bevor es welkte, spröde wurde und nachgab. Wurzeln glitten durch ihre Finger, als die dünnen Halme keinen Halt mehr geben konnten.
    Sie verlor das Gleichgewicht und fiel, fiel die Klippenwand hinunter und landete mit einem gewaltigen Schlag auf dem harten Boden. Das Krachen in ihrem rechten Bein wurde von einem durchdringenden Schmerz ersetzt, der sich durch ihren gesamten Körper bohrte und ihr die Luft nehmen schien. Gelähmt vor Pein blieb sie hilflos liegen, während ihr Bewusstsein ins Dunkel wanderte und ihr Geist den geschundenen Leib wieder nicht verlassen konnte.
    Warme Finger schlossen sich um ihre Hand und die Berührung allein jagte Schreck durch alle ihre Glieder. Sie schrie schmerzerfüllt auf, obwohl der Schmerz in ihrer Seele größer war. Gegen jede Vernunft wünschte sie sich aus tiefstem Herzen, dass dieser Kontakt zu einem anderen Menschen, dieses warme, lebende Fleisch in ihrer Hand nicht weichen würde. Dass sie ihn für immer festhalten konnte.
    “Nicht …”, stammelte sie, die Augen vor Schmerz fest zusammengekniffen. “Nicht … anfassen.” Sie wollte ihre Hand wegziehen, doch der Griff um ihre Finger wurde fester. “Lass mich …”Ihr Flehen wurde nicht gehört. Blinzelnd spürte sie eine Träne ihre Wange herunterlaufen. “Ich bin der Tod. Lass mich.”
    Jeder Mensch hat eine Gabe. Ein besonderes Talent, das tief in ihm schlummert, erwacht und schließlich zutage tritt, wie eine Knospe eines Tages aufbricht. Manche dieser Fähigkeiten sind nützlich, andere banal, geradezu lächerlich. Manche sind legendär.
    “Nein!”, entgegnete eine Stimme, so sanft und dennoch bestimmt, dass neue Tränen den Weg nach draußen suchten, während ihr Herz zerbrach. “Hab keine Angst. Du kannst mir nichts tun. Denn ich bin das Leben.”

  • Wie schade, das wäre eine tolle Geschichte für das neuen Thema des Schreibwettbewerbs geworden!! Schlechtes Timing beim Posten :S

    Spoiler anzeigen

    Gefällt mir sehr gut. Die tiefe Traurigkeit, die sich wie ein roter Faden durch die ganze Geschichte zieht, hat mich nicht losgelassen bis zum letzten Satz. Man fühlt mit dem Mädchen (find ich übrigens gut, dass sie keinen Namen hat!), man teilt ihre Sorge und ihre Schuldgefühle.

    Für einen Moment habe ich gedacht, dass der Verfolger jemand sein könnte mit der Gabe zu heilen und dass sich die beiden Gaben vielleicht gegenseitig aufheben, solange die beiden beisammen bleiben. Also dass sie niemandem mehr gefährlich werden kann.

    Aber so ist es auch schön. Wie gesagt - schade, dass sie nicht im Wettbewerb ist. Sie wäre ein echter Favorit in meinen Augen! :thumbup:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Hey Kiddel Fee ,

    irgendwie hast du gerade meiner Idee für den Wettbewerb vorausgegriffen :D Wahnsinn, wie schön, wie poetisch, wie einfühlsam und absolut herzzereißend. Gut, dass wir keine Namen erfahren und auch nicht wissen, was weiter passiert. Das regt die Fantasie an. Solche Enden finde ich immer am besten. In meinen Augen die perfekte Kurzgeschichte. Vielen Dank fürs Teilen.

    LG

    Stadtnymphe

    Was ich schreibe: Eden

  • Liebe Kiddel Fee,

    lieben Dank für die Geschichte. Ich konnte das Leid der namenlosen Figur gut nachvollziehen und es hat mir ein Lächeln entlockt, als sie das Ende bekommen hat, das ich ihr bereits früh gewünscht habe. Ich finde, man kann das Geschriebene sinnbildlich ganz gut auf Menschen übertragen, die sich von der Gesellschaft abgelehnt fühlen, ganz egal wie sehr sie sich auch um Anerkennung und Zuneigung bemühen. Das Ende empfinde ich da als eine Botschaft, hoffnungsvoll zu bleiben, dass ihnen eines Tages doch noch ein wohlgesonnener Weggefährte begegnet - so aussichtslos sie ihre aktuelle Lebenslage auch empfinden :)

    LG Juu