In diesem Thread möchte ich – wer hätte es anhand des Titels ahnen können – über Subtext sprechen.
In Absprache mit Chaos Rising werde ich den Beitrag zweiteilen, weil ich ihn aufgrund der Länge leider nicht in einer Tour posten kann.
Ich bin auf das Thema gekommen, weil ich festgestellt habe, dass Geschichten ohne oder mit nur minimalem Subtext für mich vollkommen reizlos geworden sind. Schlimmer noch: Sie gehen mir gewaltig auf den Zeiger. Wenn der Autor mich bei der Hand nimmt und mir alles vorkaut, fühle ich mich rasch bevormundet. Zieht sich das durch einen ganzen Roman, würde ich beim Lesen am liebsten laut losschreien: »Ja! Ich habe es auch beim ersten Mal schon verstanden, danke!«
Um eine Diskussionsgrundlage zu bilden, möchte ich zunächst definieren, was ich unter »Subtext« verstehe. Danach werde ich diskutieren, was Subtext meines Erachtens für eine Geschichte leisten kann und welche Informationen notwendig sind, um ihn aufzudecken und zu verstehen. Dabei werde ich auch auf andere Begriffe aus der Linguistik eingehen – namentlich verbale, paraverbale und nonverbale Kommunikation. Im Anschluss soll es um methodologische Aspekte gehen: Wie erkenne ich, wo es an Subtext fehlt? Auf welche Weise kann ich Subtext in meine Geschichte integrieren? Sodann liefere ich einige Beispiele und formuliere zuletzt Fragen, die als Anregung für eine Diskussion dienen können, aber natürlich nicht müssen.
Dann mal los!
Was ist Subtext eigentlich?
Polemisch formuliert: Subtext ist das Kryptonit des Holzhammers.
In der Linguistik meint man mit »Subtext« eine zusätzliche, implizite Bedeutungsebene, mit der die explizite Aussage eines Satzes unterlegt ist.
Oft wird behauptet, Subtext sei das, was die Leute wirklich meinen, aber nicht direkt aussprechen. Eine solche Definition greift jedoch etwas zu kurz, denn die beiden Bedeutungsebenen stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Eine explizite Aussage ist für gewöhnlich allen verständlich. Nicht so der Subtext: Ihn zu begreifen, erfordert stets eine Interpretation – das ist das berühmte »Zwischen-den-Zeilen-Lesen«. Um dies zu bewerkstelligen, benötigt der Rezipient (Hörer, Leser, Zuschauer, etc.) wiederum zusätzliche Informationen.
Da aber nicht jeder auf dieselbe Weise zwischen den Zeilen liest, kann das zur Folge haben, dass Subtext unterschiedlich verstanden wird, sofern der Leser ihn denn überhaupt erkennt. Falls ein Subtext auch als solcher identifiziert wird, ist zudem lange nicht gesagt, dass der Rezipient zugleich einen Versuch unternimmt, die implizite Bedeutung aufzudecken. Ob und wie eine Interpretation des Subtextes erfolgt, ist für den Autor ohne Wissen über Hintergrund und Erfahrung des jeweiligen Adressaten also nicht immer leicht vorherzusehen.
Warum zur Hölle sollte man nun in voller Absicht etwas in den eigenen Text integrieren, das unter Umständen nicht erkannt, interpretiert, geschweige denn korrekt interpretiert wird? Zum einen bietet der Einsatz von Subtext eine ganze Reihe von Bereicherungen für eine Geschichte, zum anderen sind die zum Verständnis erforderlichen Zusatzinformationen nicht zwangsläufig derart obskurer oder exotischer Natur, dass man einen Doktorgrad bräuchte, um Zugriff auf sie zu haben.
Was kann Subtext leisten?
Eines der Argumente für die Verwendung von Subtext ist seine positive Auswirkung auf das pacing einer Geschichte. Der Lektor September C. Fawkes hat diesen Zusammenhang meines Erachtens wunderbar auf den Punkt gebracht (von mir aus dem Englischen übersetzt):
Zitat von September C. Fawkes»Einmal habe ich ein Manuskript lektoriert, das alles richtig machte, was die Plotstruktur und den emotionalen Einbezug [des Lesers] betraf. [...] Aber es las sich langsam und langweilig. [...] Ich entdeckte, dass es daran lag, dass es kaum Subtext enthielt und [...] mich intellektuell nicht dazu herausforderte, den Text zu verstehen.«
Ist Subtext vorhanden, bietet dieser einen Anreiz für die Rezipienten, den Text (ob bewusst oder unbewusst) auf implizite Bedeutungen abzuklopfen. Ohne Subtext werden dem Leser Informationen in servierfertigen Häppchen aufgetischt; er muss sie sich nicht erarbeiten. Folglich geht ein Mangel an Subtext unter Umständen mit einem Mangel an Spannung einher.
Das gilt insbesondere für Genres, in denen naturgemäß viel Weltenbau betrieben wird: Sci-Fi und Fantasy zum Beispiel. Magiesysteme, Religionen, politische Machtgefüge, geographische Besonderheiten und vieles mehr – erklärt man all diese Dinge mit direkter Exposition (dem gefürchteten infodump), wird das Geschehen für die Dauer der Erläuterung sozusagen »eingefroren«. Die Konsequenz: Das pacing stagniert. Der Subtext bietet eine Möglichkeit, Aspekte des Weltenbaus unauffällig und immersiv zu vermitteln, sodass sie nicht als einzig für den Leser gedachte Darlegungen herausstechen.
Darüber hinaus kann Subtext genutzt werden, um soziale Dynamiken abzubilden – etwa dann, wenn ein (un-)bewusstes Machtgefälle zwischen zwei oder mehr Charakteren besteht. Ebenso lassen sich Informationen über die Figuren vermitteln, während ein Gespräch im Gange ist. Neigt ein Charakter zu Beschuldigungen, passiver Aggressivität, Beschönigungen oder Sarkasmus? Wie eine Figur spricht, verrät viel über ihre Hintergrundgeschichte, ihre Ideologie, ihre Kultur oder auch ihre unausgesprochenen Gedanken und Emotionen. Schließlich kann Subtext auch auf der Makroebene einer Geschichte eingesetzt werden, indem man ihn übergeordnete Themen, Symbole, Motive oder Ideen transportieren lässt.
Welche Informationen sind nötig, um Subtext zu verstehen?
Speziell, was Romane betrifft, denke ich, dass zum Verständnis von Subtext allen voran Wissen über die Grundlagen der menschlichen Interaktion und Kommunikation vonnöten ist. Freilich gibt es mitunter auch Subtext, der sich in bestimmten Nischen bewegt – Jugendsprache und Soziolekte wären Beispiele dafür – oder sehr spezifische kulturelle/historische Kenntnisse erfordert.
Im Folgenden aber möchte ich das Augenmerk auf die verbale, paraverbale und nonverbale Kommunikation legen. Ich glaube, dass ein Fokus auf diese Aspekte oft schon ausreicht, um zu begreifen, dass vielleicht mehr hinter einer Aussage steckt als nur ihre explizite Bedeutung.
Verbale Kommunikation
Verbale Kommunikation ist all das, was der Sender einem Adressaten gesprochen oder geschrieben mitteilt. Dies ist unsere explizite Bedeutungsebene, die Aussage. Erweitert wird sie (und damit auch die Bedeutung) um paraverbale und nonverbale Elemente.
Paraverbale Kommunikation
Paraverbale Kommunikation ist all das, was die Stimme beim Sprechakt leistet. Redet der Sprecher laut oder leise? Schnell oder langsam? Melodisch oder monoton? Hoch oder tief? Schwingt ein Unterton mit? Auch lautsprachliche Äußerungen wie Räuspern, Seufzen, Verzögerungslaute (»ähm«) oder Lachen gehören in diese Kategorie.
Diese Aspekte können wir auch ganz gut schriftlich nachbilden und so als subtextuelle Ebene nutzbar machen:
Zitat»Ähm, also ... das Angebot ist wirklich sehr freundlich, aber ... nein. Das kann ich nicht annehmen.«
Wir müssen den Satz nicht gesprochen hören, um die Implikationen zu begreifen: Die anfänglichen Verzögerungslaute gepaart mit den Sprechpausen signalisieren, dass der Sprecher versucht, die Interaktion so höflich wie möglich abzuwickeln. Zwar schlägt er das Angebot letztlich aus, zögert diesen Akt jedoch hinaus und schwächt ihn durch den Verweis auf die Freundlichkeit der Proposition ab.
Um eine besondere Betonung oder einen bestimmten Unterton zu markieren, können wir auf kursive Schrift zurückgreifen:
Zitat»Heute ist Vollmond.«
»Ach was, wirklich?«
Auch ohne eine Beschreibung der Gestik und Mimik stehen die Chancen gut, dass der Leser die zweite Äußerung als Sarkasmus begreift.
Nonverbale Kommunikation
Nonverbale Kommunikation ist all das, was via Körpersprache, Timing und Habitus vermittelt wird. Konkret aufgeschlüsselt haben wir es mit den nachfolgenden Bausteinen zu tun:
Mimik: Alles, was sich im Gesicht abspielt, ist die Mimik. Eine gerunzelte Stirn signalisiert unserem Gegenüber: »Das verstehe ich nicht.«
Gestik: Unter Gestik fallen die Bewegungen von Händen, Armen, Schultern und dem Kopf – Nicken, Kopfschütteln, Schulterzucken und viele mehr.
Körperhaltung: Auch die Körperhaltung verrät unterschwellig Informationen. Läuft ein Charakter ständig gebeugt oder mit eingezogenem Kopf? Ein Ausdruck von Alter vielleicht oder auch von latenter Furcht. Belastet er ein Bein mehr als das andere? Womöglich meldet sich da eine alte Kriegsverletzung.
Proxemik: Die Gestaltung des Raumes – also die Nähe oder Distanz – zwischen den Gesprächsteilnehmern zählt ebenfalls zur nonverbalen Kommunikation. Rückt ein Charakter einem anderen unangenehm auf die Pelle? Das kann einschüchternd wirken. Oder verdammt unhöflich. Wahrscheinlich beides – oder aber es wird abhängig von der jeweiligen Kultur als völlig normal angesehen.
Timing: Die (Un-)Pünktlichkeit einer Person lässt Rückschlüsse auf ihren Charakter, ihre Wertvorstellungen und auch die Relation zu anderen Figuren zu. Darunter fällt zum Beispiel auch, ob derjenige sofort ans Telefon geht oder es lieber klingeln lässt und wie schnell die Person auf E-Mails oder sonstigen Schriftverkehr antwortet.
Habitus: Der Habitus bezieht sich auf die Art und Weise, wie jemand auftritt und welche Gewohnheiten er pflegt. Trägt ein Charakter auch in formellen Settings seine liebste gottlose Mischung aus neonpinker und neongrüner Kleidung? Das schreit förmlich nach einer Gleichgültigkeit sozialen Normen gegenüber.
Wie erkennt man einen Mangel an Subtext?
Wenn sich Dialoge künstlich oder gestelzt lesen, könnte es daran liegen, dass zu wenig Subtext vorhanden ist, der sie fesselnd machen würde. Im schlimmsten Fall wirken die Charaktere, die da reden, nur wie Sprachrohre des Autors, die dem Leser das zentrale Thema der Geschichte wieder und wieder mit größtem Pathos um die Ohren hauen. Subtext dagegen verleiht Dialogen – ebenso wie den Charakteren, soziokulturellen Dynamiken und Konflikten – Tiefe bzw. Multidimensionalität.
Wie aber merkt man, ob Subtext fehlt? Hier ein Tipp von Timothy Hickson (von mir aus dem Englischen übersetzt):
Zitat von Timothy Hickson»Eine Methode, wie ich das [mangelnden Subtext] in meinen Texten ausfindig mache, ist, nach Zeilen zu suchen, in denen die Emotionen einer Szene oder eines Dialogs zusammengefasst werden.«
Stellen wir uns eine Szene vor, in welcher es um den Alltag von Bob und seinem Hund Bello geht. Bello führt ein Luxusleben, während Bob in zerschlissener Kleidung herumläuft und zu jeder Mahlzeit trockenen Toast isst. In diesem Szenario wäre es redundant, explizit zu schreiben:
ZitatBello war Bobs Ein und Alles. So wichtig war ihm der Hund, dass er dafür seine eigenen Bedürfnisse zurücksteckte.
Die Hinweise, die zu so einer Schlussfolgerung führen, wurden uns im Rahmen der Szene ja bereits gezeigt.
Stephenie Meyer verzichtet in Twilight Band 1 (Biss zum Morgengrauen) größtenteils auf Subtext, indem sie das Schema Dialog → Erklärung konsequent durchhält. Obwohl man sich ohne die ständigen Erläuterungen schon im ersten Kapitel leicht zusammenreimen kann, dass Bella und ihr Vater Charlie eine eher dysfunktionale Beziehung haben, wird einem diese Arbeit an und mit dem Text verwehrt.
Zitat von Stephenie MeyerDas Problem war, dass es nicht viel gab, worüber wir [Bella und Charlie] reden konnten; wir waren beide keine großen Plaudertaschen. [Erklärung]
[...]
Ich stolperte aus dem Flugzeug, und Charlie drückte mich unbeholfen mit einem Arm an sich.
»Schön dich zu sehen, Bells«, sagte er lächelnd, während er mich mit einer automatischen Bewegung auffing und stützte. »Du hast dich kaum verändert. Wie geht’s Renée?«
»Mom geht’s gut. Ich freu mich auch, dich zu sehen, Dad.« Er wollte nicht, dass ich ihn Charlie nenne. [Eklärung]
Und damit war unser Gespräch auch schon fast wieder beendet.
In ihrem gesamten inneren Monolog nennt Bella ihren Vater immerzu »Charlie«. Im gesamten Dialog nennt sie ihn »Dad«. Allein dies suggeriert eine Disparität zwischen dem, was Bella denkt und dem, was sie sagt. Aber darüber müssen wir nicht weiter nachsinnen, da uns die Schlussfolgerung, dass zwischen den beiden eine emotionale Distanz herrscht, auf einem Silbertablett serviert wird.
Wenig später ist dieser Auszug zu lesen:
Zitat von Stephenie Meyer»Dad, das war doch nicht nötig. Ich hätte mir doch selber ein Auto gekauft.«
»Ist schon okay. Ich will, dass du hier glücklich bist.« Sein Blick war nach vorn auf die Straße gerichtet, als er das sagte. Charlie fiel es nicht leicht, seine Gefühle in Worte zu fassen. Und weil ich das von ihm hatte, schaute ich ebenfalls nach vorn, als ich ihm antwortete. [Erklärung]
»Das ist echt lieb von dir, Dad. Danke, ich freu mich wirklich.«
Abermals ist es nicht vonnöten, dass wir uns Gedanken darüber machen, was es zu bedeuten hat, dass sich die beiden Charaktere beim Sprechen nicht ansehen: Wie dieses Verhalten zu interpretieren ist, wird uns via Erläuterung vorgegeben.
Wie integriert man Subtext in die eigene Geschichte?
Es gibt viele Methoden, Subtext in die eigene Geschichte einfließen zu lassen. Eine der einfachsten ist, einen Widerspruch zwischen dem Gesagten und der Körpersprache aufzubauen: Ein Charakter kann zwar behaupten, dass er keine Angst hat, doch wenn er dabei zittert wie Espenlaub und bei jedem Geräusch zusammenzuckt, wird man diese Aussage in Zweifel ziehen dürfen.
Weiterhin kann man einen Charakter auf eine Art und Weise sprechen lassen, die nicht seinem üblichen Verhalten (Habitus) entspricht. Wenn der stereotypische stille Kerl plötzlich wütend losschreit, dass man über den Großen Emukrieg von 1932 keine Witze macht, als seine Kumpels ebendies tun, bedeutet das im Idealfall nicht, dass dem Autor ein Kohärenzfehler unterlaufen ist. Viel eher steht zu mutmaßen, dass das Thema aus irgendeinem Grund ein rotes Tuch für den stillen Kerl ist. Herauszufinden, warum dem so ist, kann wiederum Spannung erzeugen und den Leser animieren, noch mehr Hinweise auf die Hintergrundgeschichte des Charakters zu finden.
Ebenso liefern unverhältnismäßige Reaktionen auf kleine Dinge Anhaltspunkte dafür, dass mehr vor sich geht, als es zunächst den Anschein hat. Der Familienvater, der sein weißes Hemd soeben mit Kaffee bekleckert hat und der daraufhin den gesamten Esstisch umstürzt, hat Probleme. Und zwar nicht zu knapp. Womöglich stellt sich im weiteren Verlauf der Geschichte heraus, dass er seine Anstellung verloren hat, händeringend (und ohne Erfolg) nach einem neuen Job sucht, seiner Familie aber vorgaukelt, dass alles in Ordnung wäre – bis er eben emotional explodiert.
Kniffliger ist thematischer Subtext. Es ist eine schmale Gratwanderung, damit dieser nicht plump oder karikiert wirkt (vgl. die zuvor angesprochene Sprachrohr-Problematik). Natürlich müssen die Dialoge irgendwie um das Thema der Geschichte kreisen, aber sie sollten dennoch organisch und dem jeweiligen Charakter angemessen wirken. Stellen wir uns einen Söldner vor, ein richtiges Raubein. Der Kerl redet stets in elliptischen Sätzen und nutzt ausschließlich einfaches Vokabular. Würde man es ihm abkaufen, wenn er urplötzlich eine Rede über die Vergänglichkeit des Lebens in eloquentem philosophischen Gestus und mit Schachtelsätzen hält? Eher nicht. Das würde sich aufgesetzt lesen.